Migrationskrise auf dem Balkan: "Zuallererst müssen wir Leben retten"

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Von Hans von der BrelieSabine Sans
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Interview mit Johann Sattler, Leiter der Delegation der Europäischen Union vor Ort: Was muss passieren, damit der Staat an der Westbalkanroute den Migrantenstrom selbst in den Griff bekommt?

**Anfang Januar hat die Europäische Kommission weitere 3,5 Millionen Euro für die Unterbringung von Geflüchteten in Bosnien zugesagt. Damit erhöht sich die EU-Gesamthilfe seit 2017 auf rund 90 Millionen Euro. Aber reicht diese Unterstützung, um das EU-Kanditatenland Bosnien-Herzegowina zu motivieren, die humanitäre Lage der gestrandeten Menschen auf seinem Staatsgebiet zu verbessern? Darum geht es im Interview mit dem Sonderbeauftragten der Europäischen Union in Bosnien und Herzegowina Johann Sattler. Er war bereits 1997 Mitglied der Beobachtermission der Europäischen Union in Sarajewo und Tirana. Vor seiner jetzigen Position war Sattler der österreichische Botschafter in Albanien. **

**Euronews-Reporter Hans von der Brelie traf den Leiter der Delegation der Europäischen Union in Bosnien und Herzegowina in der Hauptstadt Sarajewo, um über die Migrationskrise in der Region zu sprechen. Es ist ein anstrengender Tag für den EU-Botschafter, SPIEGEL, EURONEWS... der Tag ist voller Interviewtermine - denn am Vorabend des Gesprächs, das Ende Januar geführt wurde, gab es erneut Probleme in einer überfüllten Sammelunterkunft, diesmal in der Nähe von Sarajewo: Eine Massenschlägerei. Migranten kippten Polizeiautos um und zertrümmerten Material der Internationalen Organisation für Migration. **

**Die Spannungsfelder multiplizieren sich, es kommt immer häufiger zu Konflikten zwischen rivalisierenden Migrantengruppen, zwischen Migranten und Sicherheitskräften, zwischen Migranten und Einwohnern. Die Stimmung im Land droht zu kippen. Zugleich sind die Migranten aufgrund des herrschenden Mismanagements lokaler, regionaler und nationaler Politiker teilweise menschenunwürdigen Lebensbedingungen ausgesetzt, hausen zu hunderten unter Zeltbahnen im Freien oder in Hausruinen und ausrangierten Eisenbahnwaggons. Gründe genug für ein klärendes Gespräch: Was läuft schief? Wie sieht die Lösung aus?  **

Euronews-Reporter Hans von der Brelie:

Was muss passieren, um eine ständige Wiederholung der humanitären Krise während der Wintermonate in Bosnien-Herzegowina zu verhindern?

Johann Sattler, Leiter der Delegation der Europäischen Union in Bosnien und Herzegowina:

Zuallererst müssen wir Leben retten. Immer noch kampieren etwa 400 Menschen in den Wäldern um Bihać. Wir müssen sie retten und eine warme Unterkunft für sie finden. In den vergangenen zwei Wochen haben wir es geschafft, 1000 Menschen in beheizten Zelten unterzubringen. Jetzt müssen wir die restlichen Menschen retten, die 300 oder 400, die noch da draußen sind. Zweitens, und das ist sehr wichtig, müssen wir eine politische Lösung finden. Die politischen Verantwortlichen dieses Landes müssen sich zusammensetzen, damit die Migranten gerechter aufgeteilt werden. Im Moment gibt es zwei Orte, Bihać und Sarajevo, die die ganze Migrationslast in diesem Land tragen. Das ist nicht fair. Es muss eine breitere Basis geben, mehr Zentren. Dann wären die Auffanglager auch kleiner. Aktuell leben zwischen 3.000 oder 4.000 Menschen in einigen dieser Lager - und das führt natürlich zu Sicherheitsproblemen. Aber Migration ist kein Hexenwerk: Wir sprechen von 8000 oder 9000 Menschen. Die politischen Verantwortlichen müssen eine Lösung finden, um die Migranten gleichmäßiger über das Land zu verteilen.

Euronews:

Lassen Sie uns darauf näher eingehen, denn es scheint einer der wichtigsten Punkte zu sein. Konkrete Frage: Sollte man das Modell der großen Lager aufgeben und versuchen, kleine lokale Strukturen aufzubauen? Aber das geht nicht, wenn es von lokalen Protesten in bestimmten Kantonen oder Städten verhindert wird. Es gab Situationen, in denen auf Bundesebene getroffene Entscheidungen auf lokaler Ebene schlichtweg nicht umgesetzt wurden.

Johann Sattler:

Aber warum gibt es denn lokale Proteste? Sie entstehen aus einer Situation wie in Bihać: Dort gibt es viele Migranten an einem Ort, in einem Lager, in einer Stadt. Das ist das Problem. Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben: Serbien, eines der Nachbarländer, hat ein System eingeführt, das zwar nicht perfekt ist, aber viel besser (als das in Bosnien-Herzegowina). In Serbien gibt es etwa 20 oder 25 Lager (zur Unterbringung von Flüchtlingen und Migranten). Die Serben haben ungefähr die gleiche Anzahl von Migranten, etwa 8000 oder 9000 Menschen, aber sie sind besser über das ganze Land verteilt. Das macht den großen Unterschied.

Euronews:

Die Europäische Union finanziert das Migrationsmanagement in Bosnien und Herzegowina massiv. In Bihać gibt es ein voll ausgestattetes Lager, Bira, euronews hatte exklusiven Zugang vor ein paar Tagen. Wir haben die leeren Container gesehen, die schönen Aufkleber: bezahlt von der Europäischen Union - Hunderte von EU-Aufklebern rundherum. Und dieses riesige Lager ist leer, während die Leute draußen kampieren. Das ist so verrückt.

Johann Sattler:

Das zeigt die ganze Absurdität der Situation. Das ist eine Art Luxusproblem. In vielen Ländern, in Afrika, im Nahen Osten, müssen sich humanitäre Organisationen zurückziehen, weil sie keine Mittel haben, um Lagerstrukturen zu unterstützen. Hier (in Bosnien-Herzegowina) haben wir genug Geld. Wir haben Lager, wie Sie anmerken, die voll funktionsfähig sind und sofort Migranten aufnehmen könnten. Das (heute völlig leere) Lager in Bira hat eine Kapazität für 2000 Menschen. Es wird nicht genutzt, weil lokale Autoritäten beschlossen haben, es zu schließen, auf eigene Faust. Das liegt nicht in deren Kompetenz, das liegt in der Kompetenz des Staates (von Bosnien und Herzegowina). Aber man (die Kantonsregierung Una Sana im Nordwesten des Landes) hat es geschlossen.

Euronews:

Was muss auf lange Sicht passieren, damit sich diese Situation nicht 2022, 2023, 2024 wiederholt?

Johann Sattler:

Sie bringen es auf den Punkt. Wir erleben diese große Krise jetzt zum zweiten Mal. Im vergangenen Jahr gab es auch eine Zuspitzung (der humanitären Situation), ungefähr zur gleichen Zeit des Jahres. Dieses Jahr haben wir das Problem mit dem (niedergebrannten) Lipa-Lager. Wir brauchen das politische Verständnis und eine Vereinbarung, dass das eine Aufgabe für das ganze Land ist, nicht nur für zwei eher kleine Kantone. Das ist eine Aufgabe für das ganze Land. Es kann nicht sein, dass ein Teil, die Republika Srpska zum Beispiel , - die 49 Prozent des Landes-Territoriums ausmacht, nicht mitmacht. Es gibt kein einziges Migrantenlager auf ihrem Gebiet. Das muss sich ändern. Dafür brauchen wir eine politische Einigung. Ich habe den Politikern hier gesagt: Ihr wollt doch nicht, dass sich das jedes Jahr wiederholt. Neben dem humanitären Aspekt gibt es auch einen Reputationsaspekt für das Land. Sie wollen nicht, dass sich diese Situation (humanitäre Krise) jedes Jahr wiederholt. Also muss man daran arbeiten und eine Lösung finden.

Euronews:

Gibt es eine Chance, dass Bosnien-Herzegowina weitere Rückübernahmeabkommen mit anderen Ländern unterzeichnet? Bosnien-Herzegowina hat vor ein paar Monaten ein Abkommen mit Pakistan unterzeichnet. Haben Sie aktuelle Informationen? Wird es weitere Rückübernahmeabkommen geben?

Johann Sattler:

Darüber habe ich kürzlich mit dem Sicherheitsminister (von Bosnien und Herzegowina) gesprochen. Die Regierung verhandelt derzeit mit einem Land in Nordafrika, ebenfalls ein Herkunftsland. Sie verhandeln auch mit Afghanistan, das auch ein Hauptherkunftsland von Migranten ist, die hier in Bosnien-Herzegowina auf der Balkanroute ankommen. Wir ermutigen die bosnische Regierung, diesen Weg weiterzuverfolgen.

Euronews:

Was muss sich ändern, damit die Europäische Union die Kontrolle über ihre Außengrenzen wiederherstellen kann?

Johann Sattler:

Migration ist ein sehr komplexes Thema. Die Europäische Kommission hat den Migrationspakt vorgelegt. Das ist ein Vorschlag, der jetzt im Europäischen Parlament und auch im EU-Ministerrat diskutiert wird. Es muss einiges passieren: Wir brauchen zum einen Solidarität und Verantwortung, und natürlich auch eine Beschleunigung der Asylverfahren. Es kann nicht sein, dass man jahrelang auf den Ausgang des Asylverfahrens wartet. Außerdem müssen wir mit den Herkunftsländern der Migranten zusammenarbeiten. Wir müssen an den Ursachen der Migration ansetzen. Und schließlich müssen wir auch die Länder unterstützen, die an den Migrationsrouten liegen, wie Bosnien-Herzegowina - und das machen wir hier täglich.

Euronews:

Dazu eine weitere Frage: Was tun Sie, um Länder wie Bosnien-Herzegowina dabei zu unterstützen, so vorzugehen, dass sie zu einer Lösung beitragen?

Johann Sattler:

Wir konzentrieren unsere Hilfe auf zwei Dinge: Wir geben rund zwanzig Millionen Euro pro Jahr für die Bewältigung der Migrationskrise in Bosnien und Herzegowina aus. Dazu gehört die Beherbergung und Versorgung der Migranten. Das macht einen großen Teil unserer Unterstützung aus. Wir stellen jeden Tag 20.000 Mahlzeiten für diese Menschen zur Verfügung. Und wir leisten medizinische Hilfe. Das ist der eine Teil unserer Unterstützung. Aber der andere wichtige Teil ist die Arbeit an den (politischen und administrativen) Kapazitäten, es geht um den Aufbau nationaler Kapazitäten in Bosnien-Herzegowina. Wir unterstützen also zum Beispiel das Sicherheitsministerium oder die Grenzpolizei - das ist ein sehr wichtiger Teil der Gleichung, denn wir wollen, dass Bosnien-Herzegowina das Problem selbst bewältigt. Wir sind eingesprungen, weil es keine Lager gab, vor drei Jahren, als der Migrantenstrom erneut anfing zu steigen. Es gab nichts, es gab keine Kapazitäten, keine Lager. Jetzt gibt es fünf oder sechs Lager - nicht genug, sie müssen besser verteilt werden und es muss kleinere Lager geben. Aber wir sind ein paar Schritte vorangekommen.

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