Wann gilt Polen als verloren? Der Streit zwischen Warschau und Brüssel eskaliert

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Von Stefan Grobe
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Der EU-Gipfel diese Woche in Brüssel hat im Strreit um die Rechtsstaatlichkeit keine Lösung gefunden. Dazu ein Interview mit dem früheren polnischen Ministerpräsidenten Marek Belka.

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Sie kennen vielleicht die Situation: In einem Mietshaus gibt es einen Mieter, der die übrigen Nachbarn verärgert, in dem er sich der gemeinsamen Hausordnung verweigert und versucht, für sich Sonderregeln zu schaffen. Was tun? Wie sollen die anderen den Störenfried zur Raison bringen?

Strafen? Druck? Oder nur eine Ermahnung?

Auf diese Fragen sucht derzeit die Europäische Union dringend Antworten. Der böse Nachbar: Polen. Dem Land wird vorgeworfen, die gemeinsamen demokratischen Prinzipien auszuhöhlen und, seit neuestem, die Höherrangigkeit von EU-Recht über polnischem Recht zu untergraben.

In einer hitzigen Debatte im Europäischen Parlament zeigte sich der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki gereizt und warf seinen Gegnern in der EU politische Erpressung vor.

Polens rechtsgerichtete Regierung ist nun in einem Anstarrwettbewerb mit der EU-Kommission, die von Rechts wegen die Hüterin der Verträge ist. Doch anders als Großbritannien will das widerspenstige Polen die EU nicht verlassen, was die Sache komplizierter macht.

Doch Brüssel ist entschlossen, Polen in die Schranken zu weisen. Wenn das Land nicht die Rechtsstaatlichkeit respektiere, bedrohe es damit die europäische Demokratie.

Ursula von der Leyen: "Die Rechtsstaatlichkeit ist das Band, das unsere Union zusammenhält. Sie ist die Grundlage unserer Einheit und des Schutzes unserer Werte, auf denen die Union geschaffen wurde. Und dies haben alle 27 Mitgliedstaaten bei ihrem Beitritt akzeptiert als souveräne Staaten und freie Völker."

Seit die nationalistische Recht- und Gerechtigkeitspartei unter Jaroslav Kaczynski 2015 an die Macht kam, hat sie sich der liberalen Demokratie widersetzt, parlametarische Regeln ausgehöhlt und das Verfassungsgericht mit glühenden Anhängern besetzt.

Vor allem die umstrittene Justizreform sorgte in Brüssel und Luxemburg für erhebliche Kopfschmerzen, da die Reform dort als direkter Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz gesehen wurde, einen der Grundpfeiler der europäischen Demokratie.

Zum Thema Polen haben wir den früheren Ministerpräsidenten Marek Belka befragt, jetzt ein Mitglied des Europäischen Parlaments für die Sozialdemokraten. Alberto De Filippis sprach mit ihm in Straßburg, gleich nach der Rede von Ministerpräsident Morawiecki.

Belka: Zunächst einmal sprach Morawiecki nicht zum Parlament, nicht einmal zur polnischen Öffentlichkeit. Er sprach zu seinem Boss, Jaroslav Kaczynski. Dann hat er natürlich den eigentlichen Punkt in der Diskussion über die Justizreform nicht getroffen. Er sprach darüber, wie die Justiz als staatliche Institution organisiert ist. Doch es geht um die Unabhängigkeit der Justiz und nicht um ein Organigramm.

Euronews: Wie sollte die EU-Kommission nun reagieren? Mit einem Dialogangebot?

Belka: Ich denke nicht, dass ein Dialog, selbst ein ernster nationaler Dialog jetzt noch zeitgerecht ist. Die polnische Regierung, besonders ihre extremsten Teile, sind nicht an einem Dialog interessiert, sondern daran, das polnische Justizsystem und das polnische Verfassungsrecht als Geisel zu nehmen. Sie wollen die Verbindung zwischen Polen und dem europäischen Recht kappen.

Euronews: Gibt es wirtschaftlich und politisch eine Basis für einen Dialog zwischen Morawiecki und Europa?

Belka: Ich will nicht spekulieren, aber Mateusz Morawiecki ist ein praktischer Mann. Es geht ihm um Entscheidungen. Und wenn Sie Regierungschef sind, dann müssen sie ständig Entscheidungen treffen. Morawiecki weiß, wie wichtig die EU für Polen ist. Andererseits gibt es radikale Kräfte innerhalb der polnischen Regierung, etwa Justizminister Ziobro, der Polen von der EU entfernen will. Ich bin daher skeptisch, denn diese radikalen Teile der Regierung und der Eliten des Landes haben die pragmatischen und moderaten Kräfte in der Regierung verdrängt.

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