Lieferung in 10 Minuten! Ist das Modell von GORILLAS die Zukunft der Gig Economy?

Zeynep, eine Gorillas-Fahrerin, bei einem Protest gegen schlechte Arbeitsbedingungen und Entlassungen in Berlin.
Zeynep, eine Gorillas-Fahrerin, bei einem Protest gegen schlechte Arbeitsbedingungen und Entlassungen in Berlin. Copyright AP Photo
Von Dave Braneck
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Lebensmittel vor der Haustür, innerhalb von 10 Minuten. Dieses Versprechen macht der extrem erfolgreiche Lieferdienst Gorillas. Doch das Versprechen scheint nur schwierig mit der fairen Behandlung der Angestellen vereinbar zu sein.

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Wenn die Temperaturen sinken und Berlins blauer Sommerhimmel dem typischen Wintergrau weicht, nimmt auch der Radverkehr ab. Doch wo die Kälte viele Fahrradpendler:innen abschreckt, sorgt ein stetiger Strom bunt gekleideter Kurierfahrer:innen dafür, dass die Radwege nicht völlig ungenutzt bleiben.

Zu den etablierten tieforangen und türkisfarbenen Designs der Lieferdienste Lieferando und Wolt haben sich seit kurzem die Lebensmittelliefer-Apps Gorillas in Schwarz und Flink in grellem Pink gesellt.

Auch wenn Gorillas in den unscheinbarsten Shirts unterwegs sind, hat das Unternehmen die Aufmerksamkeit von zahlungskräftigen Investoren und frustrierten Kritikern zugleich auf sich gezogen.

Gorillas, eines der am schnellsten wachsenden Start-ups in Europa, könnte eine Art Vorbote breiterer Veränderungen in der Fahrradlieferbranche und der sogenannten Gig Economy sein.

Der 3-Milliarden-Dollar-Gorilla im Raum

Gorillas wurde im Mai 2020 mit dem Versprechen gegründet, Lebensmittel innerhalb von 10 Minuten auszuliefern. Das Start-up erreichte den "Einhorn"-Status, indem es nach nur neun Monaten auf 1 Milliarde Dollar (858 Millionen Euro) bewertet wurde - ein neuer Rekord unter deutschen Unternehmen.

Gorillas wurde in Berlin gegründet und ist heute in fast 60 Städten in neun Ländern in Europa und Nordamerika tätig. Laut Ben Wray vom Gig Economy Project spiegelt dies einen größeren Goldrausch bei Liefer-Apps wider.

"Gorillas reitet ganz oben auf der Welle des Risikokapitals, das derzeit in Europa in diesen Sektor fließt", so Wray gegenüber Euronews.

Der Lieferdienst wird derzeit mit drei Milliarden Dollar (2,5 Milliarden Euro) bewertet, während der Konkurrent Flink, der im Dezember 2020 ebenfalls in Berlin gegründet wurde, vom Markt mit 2,1 Milliarden Dollar (1,8 Milliarden Euro) bewertet wird.

Gorillas hebt sich auch ab, weil es sich auf seine Fahnen geschrieben hat, bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen als konkurrierende Lieferplattformen.

In einem E-Mail-Austausch mit Euronews bezeichnete sich Gorillas als "ein mitarbeiterorientiertes Unternehmen". Trotzdem gab es in Berlin zuletzt immer wieder Streiks. Die Reaktion des Start-ups stellt das selbst geschaffene Image jetzt in Frage.

reuters
Angestellte streiken gegen Entlassungen bei Gorillas in Berlin.reuters

Streit zwischen ArbeitnehmerInnen und Management

Als Reaktion auf eine Welle Streiks wegen der Arbeitsbedingungen Anfang dieses Monats entließ Gorillas Hunderte von Beschäftigten.

Euronews liegt eine Bestätigung vor, dass die Entlassungen eine Vergeltungsmaßnahme für den Streik waren.

Berichten zufolge sollen bis zu 350 Arbeiternehmer:innen entlassen worden sein. Yasha, ein Fahrer und Mitglied des Gorillas-Arbeiterkollektivs, sagte gegenüber Euronews, dass die Gesamtzahl der entlassenen Beschäftigten noch nicht bestätigt sei.

Die Gorillas-Angestellen hatten zuvor gestreikt, um auf eine Reihe von Problemen aufmerksam zu machen. Unmut gab es unter anderem durch verspätete und uneinheitliche Bezahlung, Probleme mit dem Erhalt von Sozialleistungen, defekte Fahrräder und Sicherheitsausrüstungen, das Versäumnis, Anschuldigungen wegen Belästigung angemessen zu behandeln, und die nach Ansicht der Beschäftigten ungerechtfertigte Entlassung ihrer Kolleg:innen.

Kleinere Veränderungen im Betrieb von Gorillas, wie z. B. die Förderung größerer Bestellungen oder die Ausweitung der Lieferdistanzen, hatten ebenfalls erhebliche Auswirkungen auf den Alltag der Fahrer:innen.

Das Unternehmen respektiert uns nicht.
Yasha
Fahrer bei Gorillas

Gleichzeitig sagen die Arbeitnehmervertreter:innen, dass die Optimierung des Betriebs zu einem Personalmangel geführt hat, der auf die Arbeitnehmer abgewälzt wird.

"Sie wollen die Arbeitnehmer:innen dazu zwingen, die doppelte Menge an Arbeit zu leisten. Darüber wird natürlich niemand glücklich sein. Sie versprechen, dass man mehr Trinkgeld bekommt, aber das ist nicht sicher. Wir sind hier nicht im Restaurant, Trinkgelder sind keine Selbstverständlichkeit", sagt Yasha.

All dies, verschärft durch die Schwierigkeiten des Unternehmens, ein so schnelles Wachstum zu bewältigen, belastet die Fahrer:innen und macht es immer schwieriger, Lieferungen innerhalb von 10 Minuten sicher zuzustellen.

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Doch für Yasha geht es bei den Beschwerden der Arbeitnehmer:innen um etwas viel Grundsätzlicheres: "Das Unternehmen respektiert uns nicht", sagte er.

Massenhafte Entlassungen passen nicht gerade zum öffentlichen Erscheinungsbild des Unternehmens. Diesen Sommer, während einer weiteren Streikwelle, behauptete CEO Kağan Sümer, er würde "niemals jemanden wegen eines Streiks entlassen". Die Reaktion von Gorillas auf die jüngsten Streiks sowie ein kürzlich durchgesickerter Slack-Thread, in dem Sümer über die Entlassung eines Fahrers sprach, der im Frühjahr versucht hatte, sich gewerkschaftlich zu organisieren, stehen in krassem Widerspruch zu Gorillas' Unternehmensmanifest.

Sogenannte "wilde" Streiks, die nicht von einer Gewerkschaft organisiert sind, gibt es in Deutschland selten. Ihre Rechtmäßigkeit ist umstritten, doch unter Arbeitsrechtler:innen herrscht Einigkeit darüber, dass sie illegal sind, weil streikende Arbeitnehmer:innen sich technisch gesehen nicht an ihre vertragliche Vereinbarung mit ihren Arbeitgeber:innen halten.

TOBIAS SCHWARZ/AFP via AP Photo
Ein Gorillas-Liferant auf dem Weg zu einer Bestellung in Berlin.TOBIAS SCHWARZ/AFP via AP Photo

Diese Sichtweise frustriert die Mitglieder:innen des Kollektivs, die versuchen, die jüngsten Entlassungen zu nutzen, um einen Präzedenzfall für legale wilde Streiks in Deutschland zu schaffen.

"Sie halten sich nicht an ihre vertragliche Vereinbarung, aber sie erwarten von uns, dass wir uns an unsere halten. Es ist immer der Arbeitnehmer, der die Verantwortung übernehmen und vor das Arbeitsgericht gehen muss, nie das Unternehmen", so Yasha.

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Gorillas und die europäische Gig Economy

Ben Wray stellt fest, dass sich die zentralen Herausforderungen, mit denen die Gorillas-Mitarbeiter konfrontiert sind, von denen der meisten Gig worker:innen (unabhängige Arbeitnehmer:innen) unterscheiden. "Was die spezifischen Probleme der Gorillas-Beschäftigten angeht, so sind sie in gewisser Weise nicht so typisch für die meisten Probleme, die man in Europa bei Essenslieferanten sieht. Sie sind eher typisch für die Probleme von schlecht bezahlter, prekärer Arbeit im Allgemeinen. Fehlende Ausrüstung, unzureichende Bezahlung, mangelnder Respekt des Managements usw.", erklärte Wray gegenüber Euronews.

Gorillas hebt sich von anderen Lieferanten ab, weil das Unternehmen eines seiner stärksten Argumente für die Arbeitnehmerschaft hat: Ihre Fahrer:innen sind reguläre Angestellte und nicht wie in der Gig Economy üblich unabhängige Auftragnehmer.

"Als wir uns als eines der ersten Sofortlieferunternehmen vom Modell der Gig-Economy abwandten, wollten wir sicherstellen, dass unsere Fahrer als echte Mitarbeiter des Unternehmens betrachtet werden", so Gorillas.

Das hat zwar nicht dazu beigetragen, Konflikte zwischen Arbeitnehmer:innen und Management zu vermeiden, aber es bietet ein Maß an Stabilität und Sicherheit, das die meisten Gig Worker:innen nicht haben.

Laut Wray ist die europäische Gig-Economy ziemlich zersplittert, wobei die Arbeitsbeteiligung in erheblichem Maße von den Regulierungssystemen und der digitalen Infrastruktur in den einzelnen Ländern abhängt. Dennoch gibt es einige verbindende Faktoren unter den Arbeitnehmer:innen.

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"Gig Worker:innen sind überproportional häufig Angehörige ethnischer Minderheiten oder Einwander:innen", so Wray. Neben den Gesundheits- und Sicherheitsrisiken für die Beschäftigten in Kurierdiensten sind die stabilen Löhne die größte Herausforderung für die Arbeitnehmer:innen in diesem Sektor.

"Wenn man auf Abrufbasis arbeitet, weiß man einfach nicht, wie hoch der Verdienst von Woche zu Woche sein wird. Und da immer mehr Menschen in diesen Sektor kommen, gibt es einen Abwärtsdruck auf die Einkommen", fuhr er fort.

Diese strukturelle Prekarität wird durch die Instabilität innerhalb des Start-up-Sektors noch verschärft.

Als Deliveroo 2019 den deutschen Markt verließ, wurden mehr als 1.000 Fahrer:innen mit einer Kündigungsfrist von weniger als einer Woche ohne Job zurückgelassen.

Obwohl das Beschäftigungsmodell der Gorillas ihre Arbeiter vor vielen dieser Herausforderungen schützt, ist es klar, dass das Unternehmen nicht vollständig von der jüngsten Militanz in der Liefer-App-Branche isoliert ist, in der Fahrer:innen von Belgien bis Griechenland auf bessere Rechte drängen.

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Dave Branek
Flink ist einer der Hauptkonkurrenten für Gorillas.Dave Branek

Veränderungen sind in Sicht

Die Regulierungsbehörden reagieren auf die Aufregung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Im Mai entschied Spanien, dass fast 17 000 Lieferfahrer:innen als Angestellte und nicht als vertraglich gebundene Gig Worker:innen anerkannt werden müssen. Und diese Entscheidung könnte schon bald zur Norm werden, da die Europäische Union bis Ende des Jahres eine Richtlinie über Plattformarbeiter:innen ankündigen wird.

Obwohl Gorillas der Regulierungskurve voraus ist, steht das Unternehmen noch vor weiteren Herausforderungen. Die größte langfristige Frage ist, ob das Modell der Lebensmittellieferung lediglich eine von einer Pandemie ausgelöste Modeerscheinung ist oder ob es konkrete Veränderungen im Verhalten von Verbraucherinnen und Verbrauchern darstellt.

Nach Angaben des Gig Economy Project hat sich der Lebensmittelliefersektor seit dem Beginn der Pandemie verdoppelt. Riesige Investitionen in Unternehmen wie Gorillas und Flink zeigen, dass die Investor:innen an das Modell glauben. Auch Wray hält es für wahrscheinlich, dass die Lebensmittellieferung auf Dauer Bestand haben wird.

"In gewisser Weise ist das ein Teil davon, wie der Kapitalismus ständig neue Bedürfnisse erfindet. Früher mussten wir uns unsere Imbisse aus den Buden nicht liefern lassen, wir hätten sie auch zu Fuß abholen können. Aber jetzt ist es für viele Menschen selbstverständlich, dass sie ihr Essen geliefert bekommen. Vielleicht ist es bei Lebensmitteln genauso", sagte er.

Kurzfristig muss Gorillas mit wütenden Arbeitnehmer:innen und den Folgen der Massenentlassungen fertig werden. Gorillas erklärte gegenüber Euronews, dass es an der Umsetzung einer Reihe von Verbesserungen für die Fahrer:innen arbeite, darunter zusätzliche Sicherheitsausrüstung, eine Überarbeitung des Planungssystems und die Einstellung einer "großen Anzahl" von Mitarbeiter:innen.

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Wie effektiv Gorillas diese Maßnahmen umsetzen kann, wird darüber entscheiden, ob die schwarz gekleideten Fahrer ihre Zeit damit verbringen, die Straßen Berlins auf und ab zu sausen oder streikend auf der Straße stehen. Und die Kämpfe des Unternehmens deuten darauf hin, dass die Gig Economy in Europa, selbst wenn sie sich dem Modell der Gorillas annähert, nicht konfliktfrei sein wird.

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