Wut über steigende Treibstoffpreise hat die Menschen auf die Straße getrieben - und die heftigsten Proteste seit Jahrzehnten in Kasachstan losgetreten.
Lange galt Kasachstan als eine der stabilsten und sichersten Ex-Sowjet-Republiken. Doch seit wenigen Tagen wird es von den heftigsten Krawallen erschüttert, seitdem das zentralasiatische Land unabhängig wurde.
Dutzende Tote, Gebäude in Flammen
Die Proteste begannen am 2. Januar in der ölreichen Stadt Schangaösen im Südwesten des Landes, entzündet hatten sie sich an steigenden Treibstoffpreisen. Von dort verbreiteten sie sich schnell in ganz Kasachstan, vor allem in der Hauptstadt Nur-Sultan und in der Wirtschaftsmetropole Almaty.
Um die Proteste im Keim zu ersticken, reduzierten die Behörden zuerst die Gaspreise. Dann entließ Präsident Kassim-Jomart Tokajew die gesamte Regierung und erklärte für mehrere Regionen den Ausnahmezustand. In Almaty gilt seitdem eine Ausgangssperre.
Dann änderte Tokajew seine Taktik. Er nannte die Demonstrierenden "Terroristen", die vom Ausland angestachelt worden seien, und bat das russisch geführte Militärbündnis OVKS um Unterstützung.
Am Donnerstag bestätigten die Behörden, dass Dutzende Protestierende getötet und mehr als 1.000 Menschen bei Zusammenstößen mit der Polizei verletzt worden sind.
Warum gehen die Menschen auf die Straße?
Von den fünf zentralasiatischen Sowjetrepubliken, die beim Zusammenfall der UdSSR unabhängig wurden, ist Kasachstan die größte und reichste.
Das Gebiet ist so groß wie Westeuropa und verfügt über enorme Mengen an Öl, Erdgas, Uranium und wertvollen Metallen. Dank der Bodenschätze entwickelten sich eine solide Mittelschicht sowie ultrareiche Magnaten. Gleichzeitig ist ein Großteil der Bevölkerung arm, die Banken machen wegen nicht erstatteter Kredite eine tiefe Krise durch.
Durch die gesamte Region zieht sich ein Sumpf von Korruption.
In Schangaösen herrscht seit langem die Auffassung, dass Erlöse aus den Energievorkommen nicht gerecht innerhalb der ganzen Bevölkerung aufgeteilt wurden.
2011 erschoss dort die Polizei mindestens 15 Menschen, die für Arbeiter der Ölbranche auf die Straße gingen, die nach einem Streik entlassen worden waren.
Als die Preise für flüssiges Gas, das die meisten Menschen in der Region als Treibstoff für ihre Fahrzeuge nutzen, sich am Samstag über Nacht verdoppelten, riss bei vielen der Geduldsfaden.
Gegen wen richtet sich die Wut der Demonstrierenden?
Unliebsame Kritikerinnen und Kritiker werden in Kasachstan schon lange mundtot gemacht. Jede Person, die sich der Regierung widersetzen könnte, wurde bisher unterdrückt oder kaltgestellt. Obwohl die Demonstrationen äußerst groß ausfielen - einige Quellen sprechen von mehr als 10.000 Menschen, haben sich keine Oppositionsführer herauskristallisiert.
Die meiste Zeit in der noch jungen Geschichte des unabhängigen Kasachstans lag die Macht in den Händen des frühen Präsidenten Nursultan Nasarbajew. Das änderte sich 2019, als dieser zurücktrat und seinen Langzeit-Verbündeten Tokajew als Nachfolger bestimmte. Doch Nasarbajew übt als Chef des Sicherheitsrats weiter Einfluss aus.
Am Mittwoch kündigte Tokajew jedoch an, künftig seinen Posten zu übernehmen. Der Grund: Die Wut auf der Straße richtet sich vor allem gegen Nasarbajew, in dem viele den eigentlichen Strippenzieher in Kasachstan sehen. "Alter Mann, geh", skandierte die Menge auf den Straßen.
Der politische Beobachter Arkady Dubnow sagte, "die Menschen haben das schizophrene Geschachere der gegenwärtigen Regierung satt. Niemand weiß, wo die Entscheidungen fallen - bei Präsident Tokajew oder dem ersten Präsidenten Nasarbajew."
"Tokajews Entscheidung, Nasarbajew an der Spitze des Sicherheitsrats zu ersetzen, ist zu wenig und kommt zu spät", meint Dubnow. "Die Menschen wollen grundlegende wirtschaftliche und politische Reformen. Sie wollen Meinungsfreiheit und im Parlament repräsentiert werden."
Dem Politikexperten zufolge erinnern die Ereignisse in Kasachstan an den Arabischen Frühling und an die Maidan-Bewegung in der Ukraine.
Wie wahrscheinlich ist ein Sturz des Regimes?
Das Land hat schon einmal größere Demonstrationen erlebt: Im Jahr 2016, nach der Verabschiedung eines umstrittenen Landgesetzes. Und auch 2019, nach den umstrittenen Wahlen, die Nasarbajews Machterhalt sicherten. Aber noch nie etwas in diesem Ausmaß.
In einem seiner Appelle an die Öffentlichkeit versprach Tokajew am Mittwoch, die Reformen fortzusetzen und deutete an, dass eine politische Liberalisierung möglich sein könnte. Seine düsteren Äußerungen gegen Ende des Tages deuteten jedoch eher darauf hin, dass er stattdessen einen eher repressiven Weg einschlagen könnte.
Temur Umarow, Forschungsberater am Carnegie-Zentrum in Moskau, erklärte gegenüber Euronews, dass "die Situation bisher nicht kritisch ist".
"Ich habe den Eindruck, dass das, was jetzt geschieht, nicht das Ende des derzeitigen politischen Regimes sein wird. (...) Jetzt wird es nur zu einem Feilschen zwischen den Demonstranten und den Behörden kommen. Die Behörden werden Zugeständnisse machen, und die Demonstranten werden sagen, ob diese Zugeständnisse für sie ausreichend sind oder nicht", erklärte er.
"Reformen werden hundertprozentig stattfinden. Das haben wir in den letzten Jahren erlebt. Es ist ein Trend, der auch ohne die Proteste stattgefunden hätte, aber jetzt wird er sich beschleunigen, und die Behörden werden sie noch stärker vorantreiben. Aber Reformen sind nur möglich, wenn die Proteste keine Grenze überschreiten, ab der die Behörden glauben, dass sie in einer Pattsituation sind. Denn dann wird es zu Gewalt kommen", sagte Umarow.
Selbst wenn es den Demonstrierenden nicht gelingt, die Regierung zu stürzen, könnten sie einen tiefgreifenden Wandel beschleunigen.