Die Vereinten Nationen erheben schwere Vorwürfe gegen ukrainische Rekrutierungsbeamte, mehrere Kriegsdienstverweigerer sollen gefoltert worden sein. Unterdessen verlassen immer mehr junge Ukrainer das Land und fliehen nach Deutschland.
Mindestens 46.000 ukrainische Soldaten sind im groß angelegten russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gefallen, das bestätigte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Mai. Experten schätzen die Zahl deutlich höher, eine Zahl zwischen 80.000 und 100.000.
Keiner von ihnen will Andrii Konovalov sein. Seit Beginn des groß angelegten russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 engagiert er sich gegen die ukrainische Mobilisierung.
Schon vor Kriegsbeginn, im Jahr 2021, zog Konovalov nach Köln. Der 26-Jährige studiert dort Biochemie im Master, arbeitet nebenbei bei einem Start-up. Aufgewachsen ist er bei seinen Großeltern in Kropywnyzkyj, einer Industriestadt im Herzen der Ukraine. Doch seit Kriegsbeginn ist Konovalov nicht mehr in seine Heimat zurückgekehrt. "Es wäre ein One-Way-Ticket. Ich könnte das Land nicht mehr verlassen."
250.000 ukrainische Deserteure
Der Kriegsdienstgegner spielt darauf an, dass die Ukraine Männer zwischen 25 und 60 Jahren zum Militärdienst einzieht. Er erhebt schwere Vorwürfe gegen die Ukraine, spricht von Menschenrechtsverletzungen bei der Mobilisierung. "Es gibt sogar Berichte des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte dazu."
In einem Bericht des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR) ist die Rede von mehreren Kriegsdienstverweigerern, die Folter erlebt haben sollen: "In einem Fall schlugen Militärangehörige einen Kriegsdienstverweigerer, fesselten seine Hände über einen längeren Zeitraum auf dem Rücken, drohten ihm mit der Hinrichtung und verweigerten ihm elf Tage lang Nahrung, weil er sich weigerte, seine Militäruniform zu tragen", heißt es in dem Bericht.
Verschiedene internationale Medien schrieben bereits über gewaltsame Rekrutierungspraktiken: die New York Times, The Kyiv Independent, BBC. Männer würden aus Bussen gerissen, in der Öffentlichkeit von Einberufungsbeamten festgenommen und zu medizinischen Untersuchungen gezwungen werden. War letztere erfolgreich, gehe es an die Front.
In der Ukraine wurde mit dem Beginn des groß angelegten russischen Angriffskriegs die Möglichkeit, den Kriegsdienst zu verweigern, ausgesetzt. Mehr als 250.000 Fälle von Fahnenflucht sowie unerlaubter Entfernung von der Truppe soll es inzwischen geben, wie das ukrainische Online-Medium Kyiv Independent berichtet mit Verweis auf die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft.
Gebrochene Versprechen
"Der Krieg ist unnötig. 75 Prozent haben bei der Wahl des ukrainischen Präsidenten für Selenskyj gestimmt, weil er gesagt hat, alles zu tun, damit kein Soldat sterben muss", sagt Konovalov. Auch er hat bei der Wahl 2019 für Selenskyj gestimmt, wie er Euronews erzählt.
Damals hatte Russland die Krim bereits annektiert. Die Lage im Osten der Ukraine war angespannt. Immer wieder kamen ukrainische Soldaten im Donbas ums Leben oder wurden verletzt. Das Friedensversprechen war einer der Hauptgründe für Selenskyjs haushohen Wahlsieg, wie der US-Thinktank Atlantic Council analysiert.
Etwa 200.000 ukrainische Männer im wehrfähigen Alter sollen seit Kriegsbeginn nach Deutschland geflohen sein. Im August erlaubte Ukraines Präsident Selenskyj, Männern zwischen 18 und 22 Jahren auszureisen. Zuvor durften wehrtüchtige Männer ab 18 Jahren die Ukraine nicht verlassen. Seitdem reisen etwa 1.000 pro Woche nach Deutschland, so eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums zur Berliner Morgenpost.
Merz will junge Ukrainer an Front sehen
In der deutschen Regierung sorgt das für Kritik. Mitte November bat Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) Selenskyj in einem Telefonat darum, "dafür zu sorgen, dass insbesondere die jungen Männer aus der Ukraine" nicht in "größer werdender Zahl wieder nach Deutschland kommen". Sie müssten in ihrer Heimat dienen, denn "da werden sie gebraucht".
"Zurzeit gibt es unzählige Ukrainer innerhalb der Ukraine, die sich in ihren Wohnungen verstecken, die sich in den Dörfern ihrer Eltern verbergen, die ihr lebenslang erspartes Vermögen zahlen, um diesem Militärdienst zu entkommen – und das Vernünftige wäre, herauszufinden, warum", appelliert Andrii Konovalov, der sich in Deutschland bei der postsowjetischen Linken engagiert. Zurück in die Ukraine will er nicht mehr, stattdessen hofft er, die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen.
Konovalov wünscht sich, dass europäische Staats- und Regierungschefs mehr Druck auf die Ukraine ausüben, damit Ukrainer nicht gegen ihren Willen in den Krieg ziehen müssen.
Auch russische Kriegsdienstverweigerer versuchen, in Deutschland Asyl zu bekommen - erfolglos. Die neue deutsche Regierung verfolgt eine politische Linie, in der behauptet wird, Russland nutze nur Berufssoldaten und es gebe keine Risiken für russische Asylsuchende.