Mehr Gewalt, mehr Gleichberechtigung: Wie steht es um die Rechte von LGBTQ in Europa?

Pride in Lissabon, 2022
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Von Andrea Carlo
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Euronews Culture bewertet den aktuellen Stand der LGBTQ-Rechte und ihre gesellschaftliche Stellung in den europäischen Ländern.

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Anti-LGBTQ-Gewalt ist hier, sie ist überall, und sie wird so schnell nicht verschwinden - das ist zumindest die jüngste Einschätzung von UNO-Generalsekretär Antonio Guterres in einer Erklärung, die am Vorabend des Internationalen Tages gegen Homophobie und Transphobie (IDAHOT) veröffentlicht wurde, den die Welt am 17. Mai begeht.

In einer scharfen Verurteilung der anhaltenden weltweiten Vorurteile gegen LGBTQ forderte der UNO-Chef die Länder auf, die Kriminalisierung und systematische Unterdrückung von queeren Menschen zu beenden.

"Sich selbst zu sein sollte niemals ein Verbrechen sein", erklärte Guterres. "Wir können und werden da keinen Rückschritt machen."

Der aktuelle Stand der LGBTQ-Rechte hat Aktivist:innen und Analysten besonders beunruhigt, da eine Reihe repressiver Maßnahmen - von den von den Republikanern unterstützten Gesetzen zum Verbot von Drag-Shows in mehreren US-Bundesstaaten bis hin zur Kriminalisierung von LGBTQ+-Identitäten in Uganda - auf eine wachsende Feindseligkeit gegenüber queeren Menschen hinzuweisen scheinen.

Aber wie steht Europa inmitten solcher Umwälzungen da? Euronews Culture wirft einen Blick darauf, was das vergangene Jahr für die LGBTQ-Rechte auf dem gesamten Kontinent bedeutet hat.

Malta und die Niederlande führen die Rangliste an

Mehrere europäische Länder und Städte stehen seit Jahren in Bezug auf LGBTQ-Rechte und -Einstellungen an der Spitze der weltweiten Ranglisten, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dies in nächster Zeit ändern wird.

Im Jahr 2022 wurde Amsterdam von Open for Business zur queer-freundlichsten Stadt der Welt erklärt, wobei der Bericht die "einladende Haltung" der niederländischen Hauptstadt hervorhebt und sie als "starkes globales Leuchtfeuer" für pro-LGBTQ-Einstellungen bezeichnet. London, Berlin, Stockholm und Dublin wurden ebenfalls hoch eingestuft.

Im jüngsten Bericht der Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen-, Trans- und Intersexuellenvereinigung (ILGA) wurde Malta erneut zum besten Land Europas in Bezug auf LGBTQ-Rechte gekürt und steht damit das achte Jahr in Folge an der Spitze des Rainbow Europe Index.

Olga Prystai, Wikimedia Commons
Malta steht an der Spitze des ILGA-Index "Rainbow Europe 2023".Olga Prystai, Wikimedia Commons

Die überwiegend katholische Bevölkerung des Mittelmeerlandes und seine konservative Haltung zu bestimmten sozialen Fragen - insbesondere zur Abtreibung - machen es zu einem unwahrscheinlichen Kandidaten für die Regenbogenkrone Europas. Dennoch hat es sich zu einer Art Zufluchtsort für queere Menschen entwickelt.

Im Gespräch mit Euronews Culture nennt ein junger LGBTQ-Malteser den zunehmenden Säkularismus und die starke Regierungspolitik als Schlüsselfaktoren dafür, dass das kleine Land sich einen Platz unter den queerfreundlichsten Orten der Welt erobert hat.

"Religiöse Einstellungen nehmen allmählich ab", sagt Paul (Name auf Wunsch geändert), ein Software-Ingenieur, der sich als bisexuell bezeichnet. "Und die Regierung ist fortschrittlich gegenüber der Gemeinschaft - vor allem in letzter Zeit gegenüber Trans-Menschen.

Pauls Einschätzung wird durch die Fakten untermauert: Obwohl Malta eine der letzten verbliebenen Hochburgen religiöser Frömmigkeit in Europa ist, ist die Zahl der Kirchenbesucher von rund 80 % in den 1990er Jahren auf 30-40 % in den letzten Jahren gesunken.

Mehr Gleichberechtigung in der Ehe und zunehmende Rechte für Transsexuelle: ein Hoffnungsschimmer?

Im vergangenen Jahr haben eine Reihe europäischer Länder in verschiedenen LGBT+-Fragen Fortschritte gemacht und damit Aktivist:innen auf dem ganzen Kontinent den dringend benötigten Mut gemacht.

Im Juli letzten Jahres hat die Schweiz die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert und sich damit einer wachsenden Zahl von Ländern angeschlossen, in denen homosexuelle Paare den Bund der Ehe schließen können.

Die Entscheidung fiel nach einem Referendum im September 2021, bei dem sich knapp zwei Drittel der Wähler für die "Ehe für alle" aussprachen, wie die neue Gesetzesänderung genannt wurde.

Es mag einige überraschen, dass der Alpenstaat - der häufig als eine Bastion des hohen Lebensstandards wahrgenommen wird - so viel länger als viele seiner Nachbarländer braucht, um die gleichgeschlechtliche Ehe zu legalisieren. Es ist jedoch erwähnenswert, dass die Schweiz - eine Konföderation, in der die Kantone eine beträchtliche Autonomie bewahren - in Sachen Bürgerrechte nicht immer geglänzt hat.

Im Jahr 1990 war die Schweiz das letzte europäische Land, das das Wahlrecht für Frauen vollständig ausweitete, nachdem ein Bundesgerichtsurteil das Frauenwahlrecht auch im kleinen Kanton Appenzell Innerrhoden durchgesetzt hatte.

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Ennio Leanza / Keystone
Gleichgeschlechtliche Hochzeit in der Schweiz, 1. Juli 2022Ennio Leanza / Keystone

Nach der Schweiz führte auch Slowenien die Homo-Ehe ein, und Kroatien erlaubte gleichgeschlechtlichen Paaren die Adoption.

Während LGBTQ-Rechte in Osteuropa oft aus den falschen Gründen Schlagzeilen machen, hat Moldawien - ein zutiefst orthodoxes Land und eines der ärmsten Europas - erhebliche Fortschritte bei der Verbesserung der Bedingungen für seine queeren Bürger gemacht und ist im Rainbow-Index 2022 um 14 Plätze gestiegen.

Auch bei den Rechten von Transsexuellen wurden erhebliche Fortschritte erzielt, nachdem in Finnland und Spanien neue Gesetze verabschiedet wurden, die es Menschen ermöglichen, ihr rechtliches Geschlecht zu ändern, ohne sich zermürbenden medizinischen Verfahren und Untersuchungen unterziehen zu müssen.

"Das ist es, was Stolz auf das eigene Land bedeutet", twitterte Spaniens Gleichstellungsministerin letzten Monat und teilte einen Artikel darüber, wie das neue Gesetz dazu beigetragen hat, dass das Land auf dem Regenbogen-Europa-Index ganz oben steht.

Eine solche Reform der Geschlechtsanerkennung wurde von einigen Konservativen, aber auch von radikalen Feministinnen an den Pranger gestellt, die die ihrer Meinung nach stattfindenden Versuche, die sexuelle Identität zu untergraben, ablehnen.

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Dennoch sehen viele Menschenrechts- und Transgender-Aktivist:innen solche Gesetze als unverzichtbare Schritte, um einer zutiefst entrechteten Gemeinschaft mehr Gleichheit und Anerkennung zu verschaffen.

Einige unheilvolle Rückschritte

So rosig die lange Liste der neu erworbenen Rechte für LGBT+ in Europa auch sein mag, so können diese Fortschritte leider nicht über einige der immer größer werdenden Risse an der Oberfläche hinwegtäuschen.

In den Visegrád-Staaten, namentlich in Polen und Ungarn, lässt die Situation für die queere Gemeinschaft sehr zu wünschen übrig, da LGBTQ-Personen fast keinen rechtlichen Schutz genießen und nur wenige Rechte haben.

Tomasz Leśniara, ein polnischer Schriftsteller, der jetzt in Glasgow lebt, berichtet über die schwierige Situation für Homosexuelle wie ihn in seiner Heimat, räumt aber auch erste Anzeichen einer Verbesserung ein.

"Da die ultrakonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) seit 2015 an der Macht ist, ist die Gesetzeslage so schlecht wie eh und je", so Leśniara gegenüber Euronews Kultur. "Es ist wichtig, dass die Regierungspartei gewechselt wird, damit mehr Fortschritte gemacht werden können. Das wird jedoch schwer zu erreichen sein, wenn man die finanziellen Hilfen bedenkt, die die PiS anbietet, sowie eine Reihe von Sozialleistungen, Zahlungen und Zuschüssen, insbesondere für die arbeitende Klasse."

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Tomasz Leśniara
Tomasz LeśniaraTomasz Leśniara

Hoffnung sieht Leśniara jedoch in der veränderten Einstellung der Menschen selbst.

"Die [polnische] Gesellschaft akzeptiert LGBT+-Personen viel besser und fühlt sich mit ihnen wohler", sagte er. "Es gibt noch viel zu tun, und in einigen Gebieten ist die Akzeptanz größer als in anderen.”

Weiter östlich und jenseits der EU-Grenzen hat Russland - Europas "Paria" nach Wladimir Putins Einmarsch in der Ukraine im vergangenen Februar - seine Anti-LGBT-Gesetzgebung weiter ausgeweitet, nachdem ein bestehendes Gesetz, das "schwule Propaganda" für Kinder verbietet, im vergangenen Dezember auf alle Altersgruppen ausgedehnt wurde.

Im Westen scheint Italien ebenfalls eine schwierige Phase zu durchlaufen.

Das Land ist bei den LGBTQ-Rechten lange hinter seinen westlichen Nachbarn zurückgeblieben und hat erst vor sieben Jahren gleichgeschlechtliche Partnerschaften eingeführt - und es ist immer noch weit davon entfernt, selbst den Schritt zur Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe zu wagen.

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Die Wahl einer rechtsextremen Regierung im vergangenen September, die von der leidenschaftlichen Nationalistin Giorgia Meloni angeführt wird, war für viele Mitglieder der LGBTQ-Gemeinschaft keine willkommene Veränderung.

Im Jahr 2021 hatte sich Melonis Partei "Brüder Italiens" - damals Teil der Opposition - vehement gegen einen Gesetzesentwurf ausgesprochen, der einen Antidiskriminierungsschutz für LGBTQ-Personen vorgesehen hätte, und jubelte, nachdem der Senat das Gesetz abgelehnt hatte.

Meloni - deren Wurzeln in der rechtsextremen, neofaschistischen Italienischen Sozialbewegung liegen - wurde vor ihrem Amtsantritt weithin als radikaler, reaktionärer Hitzkopf dargestellt. Einige Analysten behaupten jedoch, dass ihr Bellen schlimmer war als ihr Biss, da sie in den ersten sechs Monaten ihrer Amtszeit versucht hat, eine relativ Brüssel-freundliche Linie zu verfolgen.

In Bezug auf die Rechte von LGBTQ+ hat Melonis Regierung bereits signalisiert, dass sie von ihrer konservativen Haltung in nächster Zeit nicht abrücken wird.

In der Tat hat die Regierung auf kontroverse Weise versucht, gegen gleichgeschlechtliche Paare vorzugehen, indem sie die Stadtverwaltungen anwies, ihre Kinder nicht mehr anzumelden.

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Cecilia Fabiano/ LaPresse
Pride Rom, 11. Juni 2022Cecilia Fabiano/ LaPresse

Bei einer LGBTQ-Podiumsdiskussion, die am Vorabend von IDAHOT im römischen Porta Portese-Theater stattfand, herrschte trotz dieser Entwicklungen eine optimistische und gute Stimmung. Der drohende Schatten der neuen Regierung war jedoch unvermeidlich.

"Dies ist eine weitgehend homophobe Regierung", warnte der Journalist Francesco Lepore, einer der Redner der Veranstaltung, in seiner Ansprache an das Publikum.

Eine weitere Rednerin, Marilena Grassadonia - eine linke Politikerin und lesbische Aktivistin - rief die Menschen dazu auf, nicht selbstzufrieden zu sein.

"Wir leben in einem politischen Kontext, in dem alles in Frage gestellt wird", erklärte sie. "Aber es gibt etwas Wichtiges, das wir tun können - nämlich Partei zu ergreifen".

Einige der Anwesenden hatten jedoch eine positivere Einstellung.

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"Inmitten all dessen, was passiert, wird vielleicht eine kompaktere, engere [LGBTQ-]Bewegung entstehen", sagte der Organisator der Veranstaltung, Antonino Tosto.

Zunehmende Gewalt einerseits, bessere rechtliche Gleichstellung andererseits

Eine der besorgniserregendsten Veränderungen, die LGBTQ-Beobachter im letzten Jahr festgestellt haben, ist die Zunahme queerfeindlicher Hassverbrechen.

"Im Jahr 2022 gab es einen starken Anstieg der Gewalt gegen LGBTI-Personen", so die ILGA. "Nicht nur in Bezug auf die Anzahl, sondern auch auf die Schwere der Gewalt."

Frankreich, Belgien, die Niederlande und das Vereinigte Königreich gehörten zu den Ländern, die einen solchen Anstieg meldeten.

SOS Homophobie in Frankreich stellte außerdem fest, dass die homophobe und transphobe Gewalt im Vergleich zum Vorjahr um 28 % bzw. 27 % zugenommen hat.

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In einer kürzlich veröffentlichten Presseerklärung kommentierte die EU-Kommission diese Entwicklungen mit großer Besorgnis.

"Wir haben einen Anstieg der Anti-LGBTI-Rhetorik beobachtet, die durch Desinformation und falsche Narrative angeheizt wird und oft zu Gewalt, Belästigung und Stigmatisierung führt", heißt es in der Erklärung. "Wir sind zutiefst besorgt über diese Situation - in Europa und weltweit."

Die jüngste ILGA-Studie lässt jedoch Raum für Optimismus: Abgesehen von der zunehmenden Gewalt hat sich die rechtliche Situation für LGBTQ-Menschen in Europa insgesamt verbessert.

"Trotz intensiver Anti-LGBTI-Angriffe in mehreren Ländern schreitet die Gleichstellung in ganz Europa weiter voran", heißt es in dem Bericht.

"Während der öffentliche Diskurs polarisierter und gewalttätiger wird, insbesondere gegen Trans-Personen, zahlt sich die politische Entschlossenheit aus, LGBTI-Rechte voranzubringen."

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