Brasilien: "Hauptsache lässig, auf den letzten Drücker"

Brasilien: "Hauptsache lässig, auf den letzten Drücker"
Von Euronews
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“Fifa geh nach Hause,” rufen Demonstranten. Elitesoldaten besetzen Elendsviertel und Ureinwohner schießen mit Pfeilen auf Polizisten – zehntausende Brasilianer protestieren seit einem Jahr gegen die Fußball-WM, die hohen Kosten, die nach ihrer Ansicht falschen Prioritäten. Die Wut der Demonstranten richtet sich gegen Willkür, Verschwendung und miese Infrastruktur.

Und der Kontrast ist in der Tat riesig.
Auf der einen Seite die Kosten für das Mega-Ereignis: rund elf Milliarden Euro.

Auf der anderen Seite ein Schwellenland, immerhin die siebtgrößte Volkswirtschaft der Erde, mit etwa einem Drittel des Pro-Kopf-Einkommens der OECD-Staaten. Gut 4 Prozent der Wirtschaftsleistung werden für das Gesundheitswesen ausgegeben (OECD, 2010) – in Deutschland sind es 11,5, in den USA sogar 17,7 Prozent.

Ja, aber da sind doch noch die Anschubkräfte des Kick-Ereignisses…

Hier kam der Abpfiff von deutschen Bankern (Berenberg-Bank und Hamburgisches Weltwirtschaftsinstitut (HWWI)): Nach einer Analyse kann Brasilien nicht mit einem größeren wirtschaftlichen Aufschwung durch die bevorstehende Fußball-Weltmeisterschaft rechnen.

Die direkten Gewinne schöpfe der Weltfußballverband FIFA nahezu komplett ab.

Und auch die ideelle Hoffnung der Autoren war bisher eher ein Schuss nach hinten:

“Intern kann die WM zumindest kurzfristig zu mehr Zusammenhalt und Stolz in der Bevölkerung beitragen.”

Patrícia Cardoso, euronews:

“Um die soziale und wirtschaftliche Situation in Brasilien zu verstehen, sprechen wir mit Paulo Rabello de Castro, Wirtschaftswissenschaftler und Koordinator der Bewegung ‘Effizientes Brasilien’.

Die Proteste begannen im vergangenen Jahr, obwohl die Präsidentin die beschlossene Fahrpreiserhöhung bei öffentlichen Verkehrsmittel zurückzog und mehrere Maßnahmenpakete ankündigte. Ist eine Lösung für diesen Konflikt in Sicht?”

Paulo Rabello de Castro, Volkswirt:

“Es gibt keine Lösung dieses Konflikts. Bei diesen Demonstration machen sonst vor allem junge Leute mit. Aber im vergangenen Juni, wohlgemerkt, drängten Menschen aus den verschiedensten sozialen Schichten, aus allen Altersgruppen und vor allem aus der Mittelklasse auf einen grundlegenden Wandel in der Regierung. Da geht es um unser schlechtes Gesundheitsmanagement, unsere harten Bildungsbedingungen, unsere städtischen Verkehrssysteme, die alles Andere in den Schatten stellen.

Also, das sind Strukturfragen, die kann, glaube ich, nur eine nächste Regierung angehen. Und die nächste Wahl wird der brasilianischen Bevölkerung neue Hoffnung geben.”

euronews:

“Einige Geschäftsleute halten die soziale Unzufriedenheit für eine Gelegenheit, Reformen voranzutreiben. Heißt das, die Maßnahmen der Regierung reichen nicht?”

P. R. de Castro:

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“Zweifellos. Die Regierung verfolgte einen Notfall-Ansatz. Das bekannteste Programm heißt ‘Mehr Ärzte’, das zur Verpflichtung einer ganzen Menge kubanischer Ärzten führte. Und diese Ärzte bekamen Verträge mit viel niedrigeren Gehältern als die ihrer brasilianischen Kollegen. Und sofort war die Stimmung der Beteiligten mies.

Diese Unzufriedenheit bündelt sich in einem Satz – Brasilien wach auf. Das heißt nicht, dass das Pro-Kopf-Einkommen in Brasilien nicht gestiegen ist. Millionen sind dem Aufruf zur Steigerung des Weltkonsums gefolgt.

Das ist nicht mehr die chronische Armut. Aber genau dann, wenn Millionen integriert werden, beginnen sie zu erkennen, dass in der Realität die öffentlichen Dienstleistungen immer sehr schlecht waren, schlecht sind. Also geht man auf die Straße und protestiert.”

euronews:

“Könnten die Massenproteste Brasiliens Image als Touristenziel beschädigen?”

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P. R. de Castro:

“Ich glaube nicht. Brasilien ist im Moment kein gefragtes Touristenziel, obwohl wir wissen, dass es eines der schönsten Länder der Welt ist. Aber Tourismus ist in erster Linie eine Frage der Dienstleistungen. Und wir sind sehr schwach in öffentlichen Dienstleistungen. Also hat Brasilien da noch Nachholbedarf, um Dienstleistungen mit dem zu kombinieren, was die Natur an hervorragenden Voraussetzungen liefert, um Touristen anzulocken.”

euronews:

“Und wenn diese Spannung auf die WM überspringt?”

P. R de Castro:

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“Das glaube ich nicht. Lokale Proteste wird es geben in der Nähe der Stadien, in denen Spiele stattfinden. Möglich, dass die ganz große Protestwelle aber ausbleibt.

Brasilien wird machen, was es immer tut: Hauptsache lässig, auf den letzten Drücker. Dann aber werden die Touristen aus aller Welt mit großer Freude und mit großer Wärme empfangen, und in großer Freundschaft. Es wird sicher eine große Party, ein großes Ereignis.”

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