Verfolgt und vertrieben: Tausende Türken finden Schutz in Griechenland

Verfolgt und vertrieben: Tausende Türken finden Schutz in Griechenland
Von Hans von der BrelieSabine Sans
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Euronews-Reporter Hans von der Brelie sprach mit Türken, die sich in Thessaloniki ein neues Leben aufgebaut haben. In der Türkei galten sie als Gülen-Sympathisanten.

Nach dem Putschversuch in der Türkei 2016 haben Tausende ihren Job verloren oder wurden verhaftet - als angebliche Gülen-Anhänger. Tausende flüchten ins Exil. In dieser Folge von "Unreported Europe" treffen wir einige der Verfolgten, die Schutz und Hilfe in Griechenland gefunden haben.

Die Türkei verliert einen Teil ihrer gut ausgebildeten Mittelschicht

Thessaloniki, die alte Hafenstadt im Norden Griechenlands, ist heute ein "sicherer Hafen" für politisch Verfolgte aus der benachbarten Türkei. Nach dem fehlgeschlagenen Putsch und der darauf folgenden Repressionswelle gegen angebliche oder tatsächliche Gülen-Anhänger, fanden unzählige Lehrer, Journalisten, Beamte, Manager und Kleinunternehmer Zuflucht hier. Mit der Ankunft türkischer Asylbewerber in Thessaloniki erlebte die Stadt eine Wiederbelebung türkischer Start-ups und Kleinunternehmen wie türkische Eisdielen, Schuhgeschäfte, Verleihgeschäfte, Unterwäscheläden, Restaurants.

DIe Geschichte des Geschäftsmanns Musa Yücel

Einer der türkischen Flüchlinge in Thessaloniki ist Musa Yücel. Euronews-Reporter Hans von der Brelie besucht ihn in seinem kleinen Restaurant. Nach der obligatorischen Tasse Tee erzählt der Türke seine Geschiche.

"Es hat mir fast das Herz gebrochen, die Türkei zu verlassen, ich liebe meine Heimat", betont Musa bei der Küchenarbeit. Zusammen mit seiner Frau hat er eine Imbissstube in der Altstadt der griechischen Stadt eröffnet.

"Ich bin traurig über das Schweigen Europas über das, was in der Türkei passiert."
Musa Yücel
türkischer Geschäftsmann im Exil

Vor seiner Flucht war er ein erfolgreicher Geschäftsmann: 20 Jahre lang war Musa in verschiedenen Bereichen tätig, wie z.B. Bauen und Verkaufen von Wohnungen, er gründete Restaurants in verschiedenen türkischen Städten. Er besaß mehrere Restaurants und lernte das Kochen vor Ort. Musa ist ein echter Tausendsassa. Er kann mit Zahlen und Finanzen umgehen, ist bereit, die Initiative zu ergreifen und neue Geschäftsideen zu entwickeln. Musa stammt aus der westlichen Schwarzmeerregion, er sagt: "Ich bin traurig über das Schweigen Europas über das, was in der Türkei passiert."

Musa ist kein Verschwörer

Musa war auch an einem der vielen Bildungsunternehmen beteiligt, die mit der Gülen-Bewegung verbunden sind. Er half bei der Überwachung von Schulratsentscheidungen. Er lebt seit etwa eineinhalb Jahren in Thessaloniki, sein griechisches Asylverfahren läuft noch, aber er hat bereits eine Arbeitserlaubnis erhalten. Es dauerte etwa fünf Monate, bis er alle notwendigen Papiere und Genehmigungen für die Eröffnung seines kleinen Restaurants Anfang des Jahres erhalten hatte. Er bedient hauptsächlich griechische Kunden. Aber es kommen auch türkische Flüchtlinge, Besucher, Touristen aus aller Welt. Musa hat drei Kinder: Er ist Vater von zwei Söhnen und einer Tochter.

Musa ist kein Verschwörer. Mit den Leuten, die im Sommer 2016 versuchten, Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu stürzen, will er nichts zu tun haben. Musa will nur in Ruhe seinen Geschäften nachgehen. Trotzdem geriet er ins Fadenkreuz der Repression:

"Ich wude beschuldigt, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein und die Finanzen der Gülen-Bewegung zu verwalten, an Geldwäsche beteiligt zu sein. Aufgrund dieser haltlosen Beschuldigungen musste ich acht Monate ins Gefängnis. Die Haftbedingungen waren wirklich schlimm. Ich wurde zusammen mit 22 Leuten in eine Mini-Zelle gepfercht, in die höchstens sechs Leute gepasst hätten. Wir hatten kaum Wasser und nicht genug zu essen. Bücher waren verboten, sogar der Koran."

Die Richter fanden keine Beweise, die für eine Verurteilung reichten. Also wurde er nach der langen Zeit in U-Haft entlassen. Aber aus Angst vor einem zweiten Haftbefehl, der mit einer zweiten Welle der Verfolgung von "Gülenisten" einherging, entschied Musa, abzutauchen: Er versteckte sich zehn Monate, bevor er sich entschied, die Türkei über den Grenzfluss Evros zu verlassen.

Die Geschichte der Lehrerin Ahsen Safiye Tozanoglu

Auch Ahsen Safiye Tozanoglu floh mit ihrer Famile über den Evros. Die junge Frau führt den euronews-Reporter zu einer unscheinbaren Kleiderkammer in Thessaloniki. Die Schaufenster sind mit Packpapier abgeklebt, eine unauffällige Adresse. Die Nothilfe - es werden auch einige Grundnahrungsmittel und gebrauchte Spielsachen für Kinder verteilt - wird von Gülen-Anhängern verwaltet. In einer Ecke steht ein von Gülen verfasstes Buch, in einer anderen liegt eine Schwimmweste.

Ahsen studierte Chemie, dann arbeitete sie an einer Gülen-Schule in Simak. Sie und ihr Mann appellierten während des Putschversuches an ihre Schüler, friedlich zu bleiben. Trotzdem landeten ihre Namen auf Fahndungslisten. Nach ihrer Entlassung aus der sehr langen Untersuchungshaft mussten sie die Türkei auf Schleichwegen verlassen.

"Als wir den Evros-Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenland überquerten, war es stockdunkel. Wir mussten unsere Tochter tragen, wr verloren all unser Hab und Gut", erzählt Ahsen Safiye Tozanoglu . "Als wir in Thessaloniki ankamen, hatten wir nichts mehr. Hier in diesem Laden bekamen wir Kleidung und andere Sachen für Menschen in Not."

Der türkische Präsident Erdoğan beschuldigt Fethullah Gülen, hinter dem gescheiterten Putsch zu stecken. Der türkische Imam, der 1999 in die USA ging, bestreitet dies. Doch rechtfertigt das die systematische Verfolgung Zehntausender?

Das Irida-Frauenzentrum unterstützt Familien aus 35 Nationen

Das Irida-Frauenzentrum, eine griechische Nichtregierungsorganisation, unterstützt Familien aus 35 Nationen. Ahsen hilft bei Übersetzungen aus dem Türkischen. Sie hat viel zu tun - denn die Zahl der exilierten Türkinnen nimmt zu, viele sind allein mit ihren Kindern.

"Erst gestern haben sich wieder vier Türkinnen bei uns angemeldet", erzählt Projektmanagerin Christa Calbos. "Eines der Hauptprobleme ist die Anerkennung von Diplomen und Berufsabschlüssen, so dass die Menschen hier in Griechenland ein neues Leben aufbauen und am Arbeitsmarkt teilnehmen können. - Hinzu kommt, dass die Mehrheit unserer Mitglieder Mütter mit Kindern sind, die öffentliche Schulen besuchen. Für sie ist es schwer, die griechische Sprache zu erlernen."

Nach dem Putschversuch wurden 77.000 mutmaßliche "Terrorverdächtige" eingesperrt. Ahsen war über ein Jahr in Haft. Ihr 15 Monate altes Baby blieb bei Verwandten. Andere traf es noch weit schlimmer:

"Ich glaube nicht mehr, dass es in der Türkei ein unabhängiges Justizsystem gibt", so Ahsen. "Im Gefängnis war es für mich am schlimmsten, eine Frau mit ihrem 30 Tage alten Baby zu sehen. Die inhaftierte Mutter hatte nicht genug Milch. Das Baby war so winzig. Es war nicht möglich, das Baby ausreichend zu ernähren."

Asylbewerberin Ahsen hilft anderen bedürftigen Flüchtlingen. Im Irida Frauenzentrum hilft sie bei Übersetzungen. Ahsens Mann hat in der Nähe von Bonn Asyl beantragt und wartet noch auf eine Entscheidung. Wenn sein Asylantrag anerkannt wird, können auch Ahsen und Tochter Neda im Rahmen des Familienzusammenführungsverfahrens nach Deutschland ziehen. Ahsen hat bereits begonnen, etwas Deutsch zu lernen. Die kleine Neda vermisst ihren Vater sehr. Gelegentlich muss sie die Hilfe eines türkischsprachigen Psychologen in Anspruch nehmen.

Die Geschichte des Computerlehrers Bekir Çayir

Ausflug auf's Land. In einem Dorf trifft der euronews-Reporter Bekir Çayir. In seinem früheren Leben war er Computerlehrer an einer Gülen-Schule. Nach dem Putschversuch wurden 150.000 Menschen als Terroristen abgestempelt und verloren ihre Arbeit. Einer von ihnen ist Bekir. Griechenland schützt den Computerlehrer und seine Familie. Vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen bekommt er etwas Geld fürs Allernötigste.

Um sein geringes Einkommen aufzustocken, erstellt er manchmal Websites als Freelancer. Er arbeitet noch an seinem Griechisch, einer schwierigen Sprache, aber er ist in der Lage, mit Nachbarn und der Verwaltung zu kommunizieren. Er hat einige vage Ideen, vielleicht später nach Deutschland zu ziehen, in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden. Seine Kinder Faik und Selma sind fünf und zwölf Jahre alt. "Ich habe keine spezifische Gülen-Ausbildung erhalten", betont Bekir, "und ich bin nicht Mitglied irgendeiner Art von innerem Gülen-Kreis". Bezüglich der religiösen Bewegung gibt er an: "Beim Lesen seiner Bücher fühle ich mich Gülens Ideen nahe, das ist alles. Aber vor allem betrachte ich mich selbst als gewöhnlichen, bescheidenen und aufgeschlossenen Muslim."

Der Türke ist enttäuscht von den herrschenden Politikern seiner Heimat: "Am ersten September 2016 wurde ich entlassen. Rechtsgrundlage war der Präsidialerlass 672. Bereits kurz nach dem Putschversuch wurden 62.000 Menschen gefeuert. Ich wurde als Verbrecher abgestempelt. Ich konnte meine Rechte nicht wahrnehmen, mich nicht verteidigen. Ich stand vor dem totalen sozialen Aus. Nach meiner Entlassung wurden auch zwei meiner früheren Anwälte verhaftet. An meinem damaligen Wohnsitz rief ich daraufhin bei elf Rechtsanwälten an. Zehn lehnten es sofort ab, meine Verteidigung zu übernehmen. In meinen Augen ist die Türkei heute eine Diktatur."

Bekir ist ein religiöser aufgeschlossener Muslim

Bekir kann den Koran auswendig hersagen, jeden Tag rezitiert er 20 Seiten, an Festtagen 40. Der tiefgläubige Mann liest Bücher von Gülen. Die dort vertretenen Prinzipien gefallen ihm: Erziehung ist wichtig, ist dort zu lesen, Dialog und Gebet. Er könne keiner Fliege etwas zuleide tun, sagt Bekir von sich selbst - und wirkt dabei wie ein in sich ruhender, ausgeglichener, friedfertiger Familienvater. Er zeigt dem eronews-Reporter seine kleine Bibliothek und sagt:

"Die beiden Bücher hier sind über den Propheten Mohammed, das eine hat Fethullah Gülen geschrieben. Diese Bücher gelten in der Türkei als Beweismaterial für ein Verbrechen. Ich habe selber sieben große Taschen voller Bücher im Garten vergraben, denn Menschen, die diese Bücher besitzen, müssen ins Gefängnis."

Die Geschichte der Wohnheimverwalterin Yasemin Atik

Yasemin war Verwalterin eines Gülen-Wohnheims, in der Jugendliche aller Schichten und Glaubensrichtungen lebten. Sie war ehrenamtlich in Wohltätigkeitsorganisationen aktiv, organisierte Ausflüge, setzte sich für Frauenrechte ein. All ihre Aktivitäten waren völlig legal und genossen gesellschaftliche Wertschätzung. Im Sommer vor drei Jahren änderte sich das auf einen Schlag. Als 2016 die Verfolgung der Gülen-Anhänger begann, war Yasemin hochschwanger.

Yasemin ist Mutter von vier Kindern, ihre Kinder sind 2 (Yusuf), 4 (Nalar), 9 (Reyhan) und 11 Jahre (Eres) alt. Sie ist in den Sozialen Medien aktiv, um über die Situation von inhaftierten Müttern in der Türkei aufzuklären - Anfang 2019 waren es über 864 inhaftierte Mütter - mit Babys oder Kleinkindern.

Ihr Mann Yasin hat bereits in den USA Schutz gefunden, wo er auf einem Markt und als Uber-Fahrer arbeitet. Die Familie wartet nun auf die letzten Papiere zur Familienzusammenführung. In Thessaloniki erhält sie eine kleine finanzielle Unterstützung vom UNHCR. Sie hat gute Beziehungen zu den griechischen Nachbarn: Eine Frau um die Ecke kommt häufig vorbei, spendet Obst und Gemüse - und Yasemin bringt ihr beim Kochen einige ihrer türkischen Lieblingsgerichte mit. Sie tauschen griechische und türkische Kochrezepte aus.

Die junge Türkin erinnert sich: "Unsere Schulen wurden geschlossen. Wir wurden per Haftbefehl gesucht. Ich hatte Angst, ein Krankenhaus zu besuchen. Wenn Du in deren Datei stehst, findet Dich die Polizei und verhaftet Dich. Das Risiko wollte ich nicht eingehen, deshalb entschieden wir uns für eine Hausgeburt. Die Hebamme kam im Morgengrauen, ich musste versprechen, nicht zu schreien, sonst hätten mich die Nachbarn angezeigt. Die folgenden zwei Jahre mussten wir untertauchen. Jeden Tag hatten wir Angst, verhaftet zu werden."

Die Rückkehr in die Heimat bleibt verwehrt

Mit Arbeitsverbot belegt oder eingesperrt... die andauernde Diskriminierung verwehrt diesen Menschen den Weg zurück. 25.000 Türken haben 2018 in der Europäischen Union um Schutz gebeten. Andere wandern aus nach Übersee - so wie Yasemin, sie will in die USA. Ihrer alten Heimat muss sie den Rücken kehren.

Journalist • Hans von der Brelie

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