Kitsch und kurze Lederhose: "Jedermann", ein Ritual der Salzburger Festspiele

Jedermann 2020: Peter Lohmeyer (Tod), Tobias Moretti (Jedermann)
Jedermann 2020: Peter Lohmeyer (Tod), Tobias Moretti (Jedermann) Copyright SF / Matthias Horn
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Von Rudolf Herbert
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Das Festival für Musik und darstellende Kunst, das als das weltweit bedeutendste gilt, findet trotz der Corona-Pandemie, wenn auch verkürzt und unter strengen Vorkehrungen statt. Bis Ende August werden Opern- und Theateraufführungen und zahlreiche Konzerte geboten, darunter ein Beethoven-Zyklus.

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Die Eintrittskarten können nicht mehr daheim ausgedruckt werden und man erhält sie auch nicht mit der Post zugestellt. Sie sind personalisiert, mit Namen und Anschrift versehen, müssen an einer der Kassen abgeholt werden und bei dem Besuch werden die Daten mit jenen des Personalausweises abgeglichen. Um den Sicherheitsabstand zwischen den Gästen zu wahren, werden diese durch freie Plätze voneinander getrennt, und anstatt sechs dauert das Festival, das vor 100 Jahren zum ersten Mal stattfand, in diesem Jahr nur vier Wochen. Doch im Unterschied zum renommierten Theaterfestival im französischen Avignon, zu der großartigen Ruhrtriennale an den alten Industriestandorten Nordrhein-Westfalens oder zum Opernfestival in Aix-en-Provence wurde Salzburg immerhin nicht abgesagt.

Hugo von Hofmannsthals Schauspiel "Jedermann", das Max Reinhardt 1911 in Berlin uraufführte, ist seit der ersten Auflage des Festivals 1920 nur von den Nazis aus dem Programm genommen worden, weil der österreichische Dichter jüdische Wurzeln hatte. Als Vorlage für das "Spiel vom Sterben eines reichen Mannes" dienten Hofmannsthal, der zusammen mit Reinhardt Begründer der Festspiele ist, mittelalterliche Mysterienspiele. Nicht auszuschließen, dass er ähnliche Stoffe wie der Komponist und Librettist Richard Wagner suchte. Österreich fehlten Festspiele, wie es sie im deutschen Bayreuth schon lange gab. Hofmannsthals Sprache ist archaisierend, wirkt heute verschwurbelt, während das Stück einem christlich-moralischen Totschläger gleichkommt: Jedermann, ein Lebemann, bekennt sich angesichts des angekündigten Todes zu seinen Sünden und zu Gott, wird durch seinen Glauben erlöst und entgeht den Fängen des Leibhaftigen.

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Jedermann 2020: Caroline Peters (Buhlschaft)SF / Matthias Horn

Kitsch als Markenzeichen

Dieser Kitsch hat es geschafft, zu einem der Markenzeichen der Festspiele zu werden. Niemand von den überragenden Theaterleuten des deutschsprachigen Raums hat sich später je dessen angenommen, selbst wenn einige von ihnen, darunter Peter Stein, Jürgen Flimm oder Martin Kušej, in den vergangenen Jahrzehnten mit der Sparte Schauspiel des Festivals betraut waren. Sie mieden das Stück und überließen die Inszenierungen offenbar lieber anderen. Eine Variante mit radikalen Strichen würde es zwar seiner klapperigen katholischen Botschaft berauben, führte aber vermutlich zum ersten Zuschaueraufstand in der Geschichte der Festspiele. Man entfernt das Bild des Großvaters nicht aus dem Wohnzimmer, selbst wenn er ein Ekel und für die Familie ein Trauma war.

Trachtenhosen und wollene Kniestrümpfe bei 30 Grad

"Jedermann" ist heute in Salzburg ein Volksstück mit dem Anspruch einer Tragödie, was die zahlreichen Träger kurzer Trachtenhosen aus Leder bezeugen, die selbst bei Temperaturen von über 30 Grad im Schatten die dazu passenden grünen, wollenen Kniestrüpfe tragen. "Himmel, Herrgott und Hofmannsthal", murmelt da der Kulturliebhaber und Atheist. Der höchste Herrscher war von Nietzsche schon lange für tot erklärt worden, während die Großen der deutschen Literatur das Bürgertum ideologiefrei zerlegt hatten.

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Jedermann 2020: Tobias Moretti (Jedermann), Caroline Peters (Buhlschaft), EnsembleSF / Matthias Horn

Stars aus Film und TV

Ein schmerzlinderndes, versöhnliches Mittel kann daher nur sein, die Hauptrollen mit Stars aus Film und Fernsehen zu besetzen und der Inszenierung den Anstrich zu geben, als spräche nicht der blanke Katholizismus daraus, sondern als handelte sie auch vom Hier und Heute. In anderen Jahren traten beispielsweise Peter Simonischek und Veronika Ferres auf. In der derzeitigen Inszenierung Michaels Sturmingers ist Jedermann ein smarter Businessman und seine "Buhlschaft" nicht bloß ein Liebesobjekt sondern eine selbstbewusste und -bestimmte Frau. Gespielt werden sie von Tobias Moretti, international bekannt aus der Serie "Komissar Rex", und von Caroline Peters, die mit der satirischen Krimiserie "Mord mit Aussicht" Popularität erlangte. Womit aber keineswegs die künstlerischen Qualitäten der beiden Darsteller geschmälert oder gar in Abrede gestellt werden sollen. Peters gehört zum Ensemble des Wiener Burgtheaters und Moretti war unter anderem an den Münchner Kammerspielen sowie am Bayrischen Staatsschauspiel engagiert. Beide sind für ihre Leistungen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.

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Jedermann 2020: Tobias Moretti (Jedermann), Caroline Peters (Buhlschaft)SF / Matthias Horn

Die "Buhlschaft" klettert bei ihrem ersten Auftritt in einem goldfarbenen Kleid auf eine riesige Theatertorte und stimmt wie einst Marylin Monroe für US-Präsident J.F. Kennedy "Happy Birthday" an, spielerisch, ironisch, während Jedermann Maßanzüge trägt und selbstherrlich poltert. Beide, Peters und Moretti, sowie alle anderen Darsteller machen den Knittelvers Hofmannsthals durch ihre dramatische Intonation und eine zeitgemäße Sprachmelodie fast unhörbar. Gott spricht zum Glück nur vom Band, die im Stück vorgesehenen Engel sind in den Ferien, es gibt showmäßige, choreografische Momente und die Musik Wolfgang Mitterers, die ein Orchester auf der Bühne spielt, klingt jazzy. Die fast 80-jährige Edith Clever als Mutter, Peter Lohmeyer als Tod und Gregor Bloéb als Jedermanns Gesell(e) sowie als Teufel bieten große Schauspielkunst, was sich bei Festspielen, wie es die in Salzburg sind, von selbst versteht. Man kann mit einer "Jedermann"-Inszenierung vieles anders doch nicht viel besser als Sturminger machen. Das Stück gibt es nicht her.

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Jedermann 2020: Peter Lohmeyer (Tod)SF / Matthias Horn

"Jedermann" - das Aushängeschild

Warum "Jedermann" trotzdem das Aushängeschild der Festspiele ist? Vermutlich weil Salzburg immer noch eine katholische Stadt ist, selbst wenn der Katholizismus längst nicht mehr Teil des geistigen Lebens ist und sich vielmehr in Denkmustern abgelagert hat. Weil offenbar vielen Gästen Erbauliches und eine Art von künstlerischem Ablass lieber sind als die kritische Befragung unserer heutigen Welt, und weil man sich die Aufführung freilich auch in Lederhosen oder im teuren Dirndl anschauen darf. Wir wissen es nicht, doch vielleicht trägt selbst Gott Lederhosen, wenn er von oben auf Salzburg blickt. Zum "Jedermann" passt jedenfalls die Kulisse des den Platz beherrschenden Doms, vor dem die Bühne aufgebaut ist, was Reinhardts Einfall war. In jedem Theatersaal aber schrumpft das Stück, sein christliches Bezugssystem wirkt knöchern und unzeitgemäß. Doch nicht zuletzt: Hofmannsthal verhandelt darin das Sterben, den Tod, und damit ein Thema, das aus unserer heutigen Kultur weitgehend verdrängt wurde.

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Jedermann 2020: Gregor Gloéb (Teufel)SF / Matthias Horn

Nicht besser, eher schlechter kam die Aufführung des Stückes "Zdeněk Adamec" des österreichischen Literaturnobelpreisträgers 2019, Peter Handke, an. In einer der Kritiken war von der "Bedeutungsschwere eines blutarmen Textes" die Rede. Und ob "Everywoman", vom Intendanten des Genter Stadttheaters, Milo Rau, inszeniert, mehr ist als das politisch korrekte Pendant zu "Jedermann", wird sich erst anlässlich der Premiere am 19. August zeigen. Rau, der sich zeitgenössischer politischer Themen annimmt - der Völkermord in Ruanda, die Flüchtlingswelle und Europa -, hat die Theaterwelt in den vergangenen Jahren aufgemischt wie kaum ein Zweiter. Einhellige Begeisterung hingegen lösten die beiden Opernaufführungen "Cosi fan tutte" und Richard Strauß' "Elektra" aus, umso mehr als die Wiener Philarmoniker, die die Musik Mozarts interpretieren, von der jungen Joana Mallwitz geleitet werden. Sie ist die erste Frau, die bei den Festspielen dirigiert, was kein Medienbericht zu vermerken versäumt. Auch in der Sparte Musik sind die Festspiele das, wofür sie stehen: für höchste Qualität. Es gibt einen Beethoven-Zyklus mit dem jungen Pianisten Igor Levit, Cecilia Bartoli und Anna Netrebko treten auf, Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philarmoniker, Daniel Barenboim wird mit seinem West-Eastern Divan Orchestra erwartet und viele andere mehr. Das alles liegt in Salzburg, wie bereits vor 100 Jahren, weit jenseits selbstgefälliger und publikumswirksamer Rituale.

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