Vorsicht Luftverschmutzung: jedes Jahr 400.000 Tote in Europa

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Von Hans von der Brelie
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Legt man die Feinstaubmesslatte der Weltgesundheitsorganisation an die Städteliste der Europäischen Umweltagentur, dann rutschen satte 61 Prozent der europäischen Städte in den roten Bereich:

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Die Zahl ist brutal: 400.000 Tote, jedes Jahr, in Europa, wegen Luftverschmutzung! Die Zahl war für mich ein Schock - dem sofort ein leichter Zweifel folgte: Stimmt das wirklich? Eine Zahl, ein Riesenproblem und eine Frage – so begann meine Recherche zu dieser jüngsten Folge unserer Reportage-Serie EURONEWS WITNESS.

Nichtstun, Abwarten, Nasen-zu-und-durch - wenn es um verschmutzte Atemluft über Europas Städten geht, haben viele Menschen das Gefühl, von ihren Regierungen im Stich gelassen zu werden. Das sieht auch die Europäische Kommission so: Seit Jahren veröffentlicht "Brüssel" haarsträubende Tabellen mit überhöhten Schadstoffwerten, verschickt Mahnbriefe oder geht mit Vertragsverletzungsverfahren gegen EU-Mitgliedstaaten vor. Stickstoffdioxid, Ozon, Feinstaub: Die Schadstoffwerte in Europas Stadtluft sind viel zu hoch, Normen und Gesetze werden missachtet – das schadet der Gesundheit und verkürzt die Lebenserwartung vieler Menschen in Europa.

Screenshot: euronews
Dichter Verkehr in LyonScreenshot: euronews

Sünder-Liste der dreckigsten Städte

Wo recherchieren? Wo filmen? Mit wem reden? Nach einem ersten Blick auf die europäische Sünder-Liste der dreckigsten Städte scheint klar, dass ich irgendwo in Ost- oder Südeuropa drehen sollte. Die "üblichen Verdächtigen" halt, Bulgarien, Polen, Italien - auch in tschechischen, rumänischen und kroatischen Städten schwebt so einiges in der Atemluft, was da nicht sein sollte. Na ja, denke ich mir, in Rumänien habe ich schon zig Reportagen zum Thema gefilmt: Kohleproblematik, Industriepolitik, Probleme mit veralteten Kraftwerken, Polen, nun gut, hier liegt das Problem auf der Hand: Das Land ist immer noch abhängig von Kohle. Das hat aber meine Kollegin Valerie erst neulich abgedeckt.

Warum nicht einmal im Mittelfeld nachsehen, dort also, wo sich diejenigen verstecken, die zwar keine surreal schlechten Horrorwerte haben – aber sich unter dem Vorwand, eben nicht Schlusslicht zu sein, mit der üblichen Vogel-Strauß-Politik begnügen – und Reformen zu einem nachhaltigen, bürgerfreundlichen Wandel jahrzehntelang verschleppen? Zunächst denke ich an Italien, ein hochindustrialisiertes Land mit viel zu hohen Luftschadstoffwerten in Städten wie Cremona, Mailand.

Doch letztendlich entscheide ich mich für Frankreich, immerhin hat das Land derzeit die EU-Präsidentschaft inne. Bevor es losgeht, ein Zahlencheck. Die 400.000 Toten pro Jahr muss man erst einmal einordnen: Es geht hier um "frühzeitig Verstorbene", also Menschen, die vielleicht noch einen Tag, eine Woche, einen Monat, ein Jahr oder ein Jahrzehnt länger gelebt hätten, wenn sie nicht über einen langen Zeitraum dreckige Stadtluft eingeatmet hätten. Die Zahl an sich ist belastbar (einige Studien liegen sogar darüber) und stammt von der Europäischen Umweltagentur, bezieht sich allerdings nicht nur auf die EU-Mitgliedstaaten, sondern auf Städte in insgesamt 41 Staaten auf dem europäischen Kontinent – ein etwas weiter gefasster Vergleichsrahmen also. Und es geht in erster Linie um die Feinstaubbelastung.

Dreckspatzliste in Frankreich: Lyon und Paris

Insgesamt hat die Europäische Umweltagentur Daten aus 323 europäischen Städten gesammelt – ich entscheide mich für zwei "mittelmäßige" Atemluft-Sünder, Lyon und Paris (die französische Hauptstadt liegt auf Platz 154). Lyon hat die Nummer 178 auf der "Dreckspatzliste", die - beginnend mit supersauberen Städten in Schweden und Finnland - runterzählt bis hin zu Horrorstädten in Polen: Nowy Sacz steht ganz unten auf Platz 323 (Berechnungszeitraum sind die Jahre 2019/2020).

Also Lyon, weltweit bekannt für Wurst und Wein – und für seine Verkehrsstaus. Die Autobahn in den sonnigen Süden schneidet mitten durch das Stadtzentrum. Ich habe mir die "ATMO-App" heruntergeladen, dort zeigt sich metergenau, was ich einatme: mittel dreckige Luft (gelb), sehr dreckige Luft (rot), katastrophal dreckige Luft (lila). Unterlegt mit einem Lyoner Stadtplan wechselt meine Luft-Warn-App von gelb/orange auf rot, sobald ich mich einer der Verkehrsachsen nähere. Der Grund ist augenfällig: viel zu viele Autos.

Screenshot: euronews
App warnt vor schlechter LuftScreenshot: euronews

Dicke Luft in Lyon

Die Lyoner haben die dicke Luft satt, jeden Morgen, jeden Abend Stau. Oft auch zwischendurch. Das Konzept der "Autostadt" Lyon, politisch gewollt und gebaut in der unmittelbaren Nachkriegszeit, geht heute nicht mehr auf. Zu viele Menschen leben zu nahe an zu dicht befahrenen Straßen, atmen Luft ein, die gefährlich ist. Wirklich? Gefährlich? Woher kommen die Warnfarben auf meiner Warn-App? Stimmungsmache oder Wissenschaft?

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Hans von der Brelie: Dicke Luft in Lyon!Screenshot: euronews

Ich habe mich mit dem Lyoner Liedermacher Renaud Pierre (sein Künstlername lautet Reno Bistan) verabredet. Es ist Vormittag, Renaud bringt seinen Sohn in die Grundschule. Die Klassenzimmer liegen direkt neben dem Croix-Rousse-Tunnel – eine der vielen Dreckschleudern Lyons.

"Das Problem besteht darin, dass jeden Tag rund 47.000 Autos diesen Tunnel durchqueren, hinzu kommen die vielen Fahrzeuge, die auf dem Stadtboulevard am Rhone-Ufer fahren", sagt Renaud. "Die Verschmutzung ist enorm. Die Politiker sollten sich endlich mit diesem Problem befassen."

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Lyoner Liedermacher Renaud PierreScreenshot: euronews

Zusammen mit Elternverbänden und Anwohnern organisiert Renaud Proteste. Den Direktor der Grundschule neben der Tunneleinfahrt weiß er auf seiner Seite. - Wie könnte eine Lösung konkret aussehen, will ich von Direktor Barbier wissen: "Eine Straßenbahn würde die Fahrbahn verengen, es könnten nicht mehr so viele Autos dort fahren", schlägt Barbier vor.

Die beiden zeigen mir die Messstation im Schulhof, im Hintergrund rauscht der Tunnel-Verkehr. Hier werden skandalös hohe Stickstoffdioxid-Werte gemessen. Ganz nüchtern, faktenbasiert – harte Wissenschaft eben, die in Echtzeit an das Analysezentrum von ATMO übertragen wird. Dort laufen für die gesamte Region sämtliche "Dreck-Daten" zusammen – ein Supercomputer rechnet alles um und schickt Warnungen auf die ATMO-App.

Der Direktor hat den Schulhof geschlossen – hier darf kein Kind mehr spielen. In einer Ecke liegt ein Tennisball, mit dem seit Monaten nicht mehr gespielt wurde, auf dem Pausenhof wächst Moos, ein trauriger Anblick.

Doch die Elternverbände und Anwohner lassen nicht locker. Renaud – als Elternsprecher aktiv - hat nicht nur Klage eingereicht gegen Stadt und Staat – sondern gleich auch einen Protestsong komponiert. Zusammen mit Vereinen organisierten die Eltern sogar eine Grundschüler-Demo. Motto: Wir wollen saubere Luft atmen!

Zusammenhänge zwischen Luftverschmutzung und Krebs

Nächster Termin: Das renommierte Lyoner Krebsforschungszentrum Léon Berard. Dort habe ich mich mit Thomas Coudon verabredet. Zusammen mit einem Forscherteam sucht er die Zusammenhänge zwischen Luftverschmutzung und Krebs zu ergründen: "Wer anhaltender Luftverschmutzung ausgesetzt ist, kann an Krebs erkranken. Bei den Schadstoffgruppen, die als krebsfördernd eingestuft wurden, finden sich Feinstaubpartikel und Dieselabgase." – Zugleich warnt Coudon davor, die Debatte nur auf den Verkehr zu fokussieren, Heizungsanlagen seien ebenfalls mitverantwortlich für die dicke – und oft lebensgefährliche – Stadtluft.

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Krebsforscher Thomas CoudonScreenshot: euronews

Während wir uns unterhalten, wird es dunkel. Coudons Kollegen gruppieren sich um die Kaffee-Ecke, rüsten sich mit geheimnisvollen Kästchen aus. Ich werde eingeladen mitzukommen. Marie, Cosimo, Juliette und Delphine betreiben Feldforschung. Dreckige Luft und Lungenkrebs – hier gibt es einen eindeutigen Zusammenhang, das ist wissenschaftlich erwiesen. Doch löst die Lyoner Großstadtluft auch andere Krebsarten, beispielsweise Brustkrebs aus? Diese Frage will Marie Ramel-Delobel in ihrer Doktorarbeit beantworten.

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Doktorandin Marie Ramel-Delobel und ihre KollegInnenScreenshot: euronews

"Wir führen eine Langzeitfeldstudie durch", erklärt mir Marie, während einer ihrer Kollegen sein Kästchen auf einen Fahrradlenker schraubt. "Jeden Morgen und jeden Abend führen wir Reihenmessungen durch, hier mit diesen Mini-Messgeräten. Dabei durchqueren wir Lyon auf vorher genau festgelegten Routen, damit wir das in Bezug setzen können zum Verkehrsaufkommen."

Über mehrere Wochen tragen die vier Jungforscher aus Frankreich und Italien ihre mobilen Messgeräte durch Lyon, zu Fuß, mit dem Auto, dem Fahrrad und per Bus. Das ermöglicht einen direkten "Dreck-Vergleich" – je nach Transportmittel. Gemessen werden unter anderem Stickstoffdioxyd-, Ozon-, CO2- und Feinstaubbelastung. Die Werte werden Meter für Meter an die Computer des Krebsforschungszentrums übermittelt.

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Die Politik hat versagt

Die Städter haben genug von schlechter Luft. Das spiegelt sich in den Wahlergebnissen. Immer mehr Großstädte werden nun grün regiert – so wie Stadt und Großraum Lyon. Doch von heute auf morgen lässt sich die dreckige Hinterlassenschaft aus Jahrzehnten nicht bereinigen. "Die Luftschadstoffwerte sind katastrophal in Lyon – warum", will ich von Bruno Bernard wissen, er ist Präsident der Metropole Lyon, so eine Art Ober-Oberbürgermeister.

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Hans von der Brelie im Interview mit Bruno Bernard, Präsident der Metropole LyonScreenshot: euronews

Bruno Bernard, ein frisch ins Amt gewählter "Grüner", schiebt die Schuld auf Paris – und auf seinen Vorgänger: "Die politischen Entscheidungsträger haben versagt, nicht genug unternommen, das gilt auch für meinen Vorgänger. Und der französische Staat wurde in dieser Angelegenheit bereits rechtskräftig vor Gericht verurteilt", erinnert Bernard an einen Gerichtsbeschluss aus dem Jahr 2019, der hohe Wellen schlug.

"Und? Was wollen Sie jetzt tun?", frage ich weiter. Bernard zögert nicht mit der Antwort: "Man muss überall Umweltzonen einrichten, damit die Fahrzeuge mit den höchsten Verschmutzungswerten aus den Innenstädten verbannt werden." – Das ist kein wohlfeiler Allgemeinplatz, sondern konkrete Lokalpolitik: "Bis zum Jahr 2026 werden Dieselautos aus dem Großraum Lyon verschwinden." Sprich: Fahrverbot.

Umweltzone: Problem für Kleinunternehmer

Bis 2026 werden über 70 Prozent der heute noch im Großraum Lyon zugelassenen Fahrzeuge von der Umweltzone ausgeschlossen. Für Kleinunternehmer wie Salim ist das ein echtes Problem. Salim ist Klempner und fährt Diesel. "Einen fast neuen Diesel", betont der Ein-Mann-Unternehmer mehrmals. Auf dem Weg zu einer Notfallreparatur im Stadtzentrum hat er kurz Zeit für ein Interview am Steuer. Ich klettere mit Mikrofon und Kamera auf den Beifahrersitz.

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Handwerker Salim BenferhatScreenshot: euronews

"Also ich bin mit dieser Umweltzone, die sich die neue Stadtverwaltung ausgedacht hat, nicht unbedingt einverstanden", sagt Salim Benferhat ruhig, aber bestimmt. Sein Fahrzeug hat er umgebaut zu einer Art "fahrender Werkstatt", Kisten und Kästen, Regale und Material, Werkzeuge und so alles, was man braucht im Berufsalltag eines Notfall-Klempners. Kurz hatte er überlegt, sich einen Kleinlaster zuzulegen, das war dann aber zu teuer. "Mein jetziges Auto ist gerade einmal zwei Jahre alt, die Abgaswerte sind eigentlich ganz ok. Und jetzt muss ich das ersetzen durch ein Elektro-Auto. Wer soll denn das bezahlen? Wir, als einfache Handwerker, haben einfach nicht das Finanzpolster, mal so eben ein neues Auto, einen Transporter für 40.000 oder 50.000 Euro zu kaufen. Dafür fehlt das Geld. Es besteht das Risiko, dass viele ihren Beruf an den Nagel hängen müssen."

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Salim überlegt derzeit ernsthaft, aus dem Stadtgebiet wegzuziehen, sich irgendwo im Umfeld von Lyon neu niederzulassen – und nur noch Aufträge auf dem Land anzunehmen. Wenn er sich mit anderen Handwerkern auf einen Kaffee trifft, Ersatzteile abholt und ein paar Minuten Zeit für einen Plausch hat, dann hört er von seinen Kollegen oft ähnliche Pläne. Und in der Tat: Es wird schwieriger, im Stadtzentrum Handwerker zu finden – und die erste Frage am Telefon lautet nicht, 'was muss repariert werden?', sondern: 'Kann ich bei Ihnen in der Nähe einen Parkplatz finden?' – Frankreichs Großstädte sind überfüllt mit Autos, die Innenstädte saturieren, Dauerstau allüberall, weshalb in Lyon, Grenoble, Straßburg und Paris Betriebe florieren, die ganz oder teilweise auf Lastenfahrräder umstellen. Weil es schneller ist.

Paris: 95 Prozent der Menschen sind überhöhten Stickstoffdioxidwerten ausgesetzt

In Paris treffe ich mich mit Tony Renucci, dem Präsidenten des Umweltschutzvereins RESPIRE. Im Großraum Paris sind 95 Prozent der Menschen überhöhten Stickstoffdioxidwerten ausgesetzt, warnt er. "Der französische Staat missachtet die bestehende Gesetzgebung und er missachtet die europäischen Luftschadstoffrichtlinien. Um den Straßenverkehr zu verringern, müssten überall Umweltzonen eingerichtet werden."

Screenshot: euronews
Tony Renucci, Präsident des Umweltschutzvereins RESPIREScreenshot: euronews

Laut Renucci ist es höchste Zeit zum Handeln, in den Städten, im Land, in Europa, weltweit: "Die Luftverschmutzung ist global für sieben Millionen (vorzeitige) Todesfälle (pro Jahr) verantwortlich, in Frankreich sind es 100.000 (vorzeitige) Todesfälle jedes Jahr."

Luftqualität hat sich zwar gebessert, aber Luftverschmutzung bleibt zu hoch

Zurück zur Europäischen Umweltagentur und der Luftqualitätsliste 323 europäischer Städte. Es stimmt zwar – das muss im Rahmen einer differenzierten Betrachtungsweise unbedingt mit beachtet werden – dass sich über das vergangene Jahrzehnt hinweg einiges zum Besseren verändert hat, in Europa. Die Luftqualität insgesamt wurde besser, daran gibt es nichts zu rütteln. Denn die EU-Luftschadstoffrichtlinien werden von einigen (leider nicht von allen) Mitgliedern eingehalten. Es gab und gibt laufende Anstrengungen, Emissionen zu verringern, im Verkehr, bei der Energieversorgung, in der Industrie, in den Haushalten. Und das hat auch spürbare Auswirkungen hin zum Besseren – zumindest dort, wo sich die EU-Vorgaben, die nationale Gesetzgebung, die regionalen Gebietskörperschaften, die Stadtverwaltungen, Handwerk, Industrie und Privathaushalte zu einem Gesamtkonzept fügen und alle an einem Strang ziehen.

Alles in allem bescheinigt die Europäische Umweltagentur 127 der untersuchten Städte eine gute Luftqualität bei der Feinstaubbelastung. Bei 123 Städten weiß man nicht so recht, wohin die Reise geht. In 73 Städten sieht es düster bis ganz düster aus. Um das alles einmal mit einem anderen Maßstab einzuordnen: Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt im Vergleich zu den EU-Richtlinien sogar noch viel strengere Grenzwerte. Legt man die Feinstaubmesslatte der Weltgesundheitsorganisation an die Städteliste der Europäischen Umweltagentur, dann rutschen satte 61 Prozent der europäischen Städte in den roten Bereich: Vorsicht Luftverschmutzung!

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