"Kinder bereiten den Herzinfarkt mit 30 vor": Wie können Menschen zum Sport motiviert werden?

Sport treiben statt haltem Wetter? In Finnland hält auch der Winter die Menschen nicht davon ab, an die frische Luft zu gehen, um sich zu bewegen.
Sport treiben statt haltem Wetter? In Finnland hält auch der Winter die Menschen nicht davon ab, an die frische Luft zu gehen, um sich zu bewegen. Copyright CHRISTOF STACHE/AFP
Von Gioia SalvatoriAlexandra Leistner
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button

Die digitale Transformation der Gesellschaft hat zur Folge, dass immer weniger Menschen Sport treiben - auch schon Kinder. Wie kann dieser Trend umgekehrt werden?

WERBUNG

Leichtathletik, Schwimmen, Tanzen, Basketball oder Volleyball: Was willst du dieses Jahr machen? 

Diese Frage stellen Eltern ihren Kindern wohl immer seltener, wie aus den Zahlen des jüngsten, gnadenlosen OECD-Bericht mit dem Titel "Step Up! Tackling the Burden of Insufficient Physical Activity in Europe" hervorgeht. 

Wie kann dieser Trend umgekehrt werden und welche Folgen hat die wenige Bewegung der Menschen für die Gesundheit der Bevölkerung?

Nicht genug Sport? Das kostet Länder...

Jeder dritte Erwachsene in Europa treibt nicht so viel Sport, wie von der WHO empfohlen, d. h. 150 Minuten moderate körperliche Aktivität pro Woche. Bis 2050 könnte dies zu 11,5 Millionen neuen Fällen von Krankheiten führen, die die EU-Mitgliedstaaten jedes Jahr durchschnittlich 0,6 % ihres Gesundheitsbudgets kosten, warnen WHO und OECD.

"Auch wenn dieser Betrag gering erscheinen mag, entspricht er den gesamten Gesundheitsausgaben von Litauen und Luxemburg zusammen", heißt es in dem Bericht. Doch verbesserte Investitionen in Maßnahmen zur körperlichen Betätigung, das individuelle Wohlbefinden und die Gesundheit der Bevölkerung bringen für jeden investierten Euro 1,7 Euro wirtschaftlichen Nutzen.

Im Rahmen einer Eurobarometer-Umfrage vom September 2022 sagten 45 % der Befragten, dass sie nie Sport treiben (38 % tun dies mindestens einmal pro Woche, nur 6 % fünfmal oder öfter pro Woche). 

Wo in Europa wird am meisten Sport getrieben?

Am häufigsten treiben die Finnen mindestens einmal pro Woche Sport (71 % der Befragten), gefolgt von Luxemburg (63 %), den Niederlanden (60 %) sowie Dänemark und Schweden (59 %). 

Im Gegensatz dazu geben mehr als die Hälfte der Befragten in acht Ländern an, keinen Sport zu treiben, wobei die höchsten Werte in Portugal (73 %), Griechenland (68 %) und Polen (65 %) zu verzeichnen sind.

Sport gucken beliebter als Sport treiben

Warum bewegen wir uns nicht genug, obwohl die heutige Gesellschaft uns effiziente Modelle und perfekte Körper vorschlägt? Trainer und Sport-Experte Mauro Berruto, der Generationen von Sportler:innen in verschiedenen europäischen Ländern von Finnland bis Griechenland trainiert hat, fordert ein Umdenken.

Sport muss für alle zugänglich sein.

"Wir schauen gerne auf die Harmonie und die Schönheit von technischen Gesten oder Körpern, aber wir müssen zu einer Bewegungskultur übergehen, die ein viel weiter gefasster Begriff ist als Sport und das psychophysische Wohlbefinden betrifft, das die motorische Aktivität erzeugt", so Berruto.

Die Schlüssel-Rolle von Schulen

Damit sich diese Kultur ändert, muss ein wichtiger Akteur ins Spiel kommen: die Schulen. Sport sei bisher dem privaten Sektor überlassen worden, so Berruto. In Schulen in Skandinavien habe er beobachtet, wie "der Funke der Bewegungskultur gezündet wird".

In Finnland gebe es nicht nur eine gute Infrastruktur, die zum Sport anregen, auch das Verhältnis zur Natur motiviere die Menschen, sich an der frischen Luft zu bewegen - trotz oft schwieriger Wetterbedigungen.

Sport als verfassungsmäßiges Recht

Einer der großen Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa besteht für Berruto darin, dass Sport in vielen Ländern mit dem Einkommen zu tun habe.

"Wir müssen stattdessen zu einem Modell gelangen, bei dem der Sport für alle zugänglich ist, unabhängig von ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten". 

Italien reagiert auf die Lage , in dem das Recht auf Sport mit einem neuen Absatz in Artikel 33 in die Verfassung aufnehmen wird. So wird es ein Recht, aber auch eine Pflicht.

Wie viel investieren Länder in Sport und Freizeitgestaltung?

Eine wirtschaftliche Unterstützung auf europäischer Ebene für einen Sektor, der bereits durch Pandemien und teure Energie, insbesondere Schwimmbäder, auf die Probe gestellt wurde, sei dringend erforderlich, um die Trendwende einzuleiten, sagt Berruto.

Laut Eurostat lag 2017 der europäische Durchschnitt der in Sport und Freizeit investierten öffentlichen Mittel bei 100 EUR pro Einwohner. Interessant: In Luxemburg, Schweden und Finnland, wo 71 % der Befragten angaben, Sport zu treiben, liegen die Mittel weit über dem Durchschnitt - Kroatien und Malta gehören zu den Schlusslichtern.

Welche Gesundheitsrisiken birgt die fehlende Bewegung?

Schon lange ist bekannt, dass fehlende körperliche Aktivität Gesundheitsrisiken vergrößert. Eine in Frankreich an 9.000 16-Jährigen durchgeführte Studie zeigt, dass sie langsamer sind als ihre Altersgenossen vor 30 Jahren, einen Stundenkilometer an Geschwindigkeit verloren haben (von durchschnittlich 11 auf 10 km/h) und an Krankheiten leiden, die früher nur ihre Eltern oder Großeltern hatten, wie z. B. Diabetes Typ 2. 

WERBUNG

"Heute bereiten sich die Kinder auf den Herzinfarkt mit 30 vor", alarmiert François Carré, Kardiologe und Dozent an der Universität Rennes 1, der die Studie durchgeführt hat.

Die fehlende Bewegung lasse sich im Cholesterinspiegel nachweisen: Der Blutdruck ist hoch, Diabetes tritt häufiger auf - beides Faktoren, die Herzinfarkte begünstigen. Wo heute Herzinfarkte im Alter von 30 auftreten, gab es das Risiko früher für Menschen ab 45.

Ein übergewichtiges Kind zwischen 6 und 8 Jahren hat heute ein 30-mal höheres Risiko, vor dem 30. Lebensjahr einen Herzinfarkt zu erleiden.

Ein Trend, der sich noch wenden lässt, so Carré: "Wenn wir sie dazu bringen, sich im Unterricht besser zu bewegen, können wir hoffen, die Situation zu ändern."

Menschen seien darauf "programmiert" sich zu bewegen, die digitale Revolution habe dieser Natur den Riegel vorgeschoben."Die Zeit, die wir früher mit Bewegung verbracht haben, verbringen wir heute am PC, am Tablet, am Telefon: mit sitzenden Tätigkeiten."

WERBUNG
TOSHIFUMI KITAMURA/AFP or licensors
Grundschulkinder spielen Fußball in der Konami Sports Club Zentrale in Tokio, 11. Juni 2018.TOSHIFUMI KITAMURA/AFP or licensors

Der Schlüssel zum langen, gesunden Leben

Regelmäßige körperliche Betätigung verringert eindeutig die Sterblichkeit durch das Risiko von koronaren Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Schlaganfall, Insulinresistenz, Typ-2-Diabetes, bestimmten Krebsarten, Depressionen, Angstzuständen, neurodegenerativen Erkrankungen und Stürzen. 

Sport führt dagagen zu einem gestärkten Immunsystem, gesunder Körpermasse, verbesserte Knochengesundheit, verbesserte kognitive Funktionen und hilft auch dabei, besser zu schlafen.

Initiativen, die funktionieren

Das Europäische Büro der WHO hat 2018 einen Überblick über bewährte Praktiken in Europa für einen guten Sportunterricht gegeben.

Belgien

Belgien vergibt Sportpässe zum kleinen Preis, für Sport nach der Schule. Zu haben sind sie für 55 € (30 Wochen) oder 35 € (15 Wochen) - über die App auf dem Smartphone.

Dänemark

Die Schulreform von 2013 legte eine sportliche Aktivität von mindestens 45 Minuten pro Tag in der Primar- und Sekundarschule fest. 

WERBUNG

Eine Evaluierung der Initiative ergab, dass die Einbeziehung von körperlicher Betätigung in den dänischen Sprach- und Mathematikunterricht das Wohlbefinden und das Lernen der Schüler verbesserte. 

Sie selbst berichteten von einer besseren Konzentration und ruhigeren Klassenzimmern.

Griechenland

Das "Schwimmschulprogramm" legt den Schwerpunkt auf Gruppenaktivitäten und Teamarbeit durch Schwimmen. 8- und 9-jährige Schüler lernen so grundlegende Sicherheits- und Hygieneregeln und werden durch Spiel und Unterhaltung mit dem Wasser vertraut gemacht. 

Das Programm besteht aus 12 obligatorischen Schwimmstunden in einem Trimester.

Lettland

Zusätzlich zu den zwei obligatorischen Sportstunden pro Woche werden für Kinder zwischen 2 und 6 Jahren drei optionale Stunden pro Woche für tägliche körperliche Aktivitäten (allgemeine Fitness, Fußball, Schwimmen oder Aktivitäten im Freien) angeboten.

WERBUNG

Portugal

"CicloExpresso do Oriente" ist ein "Fahrradzug" (oder "Fahrradbus"), ein Projekt, das Kinder ermutigen soll, in Begleitung ihrer Eltern (mindestens ein Erwachsener für vier Kinder) mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren.

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Grand Slam in Tiflis: Dreifach-Gold für die georgischen Schwergewichte

Papst Franziskus zu seinem Gesundheitszustand: "Ich bin noch nicht genesen"

Beten für den kranken König Charles (75)