Zwiespältige Signale: Unterstützen die Russen den Ukraine-Krieg - oder nicht?

Die Polizei nimmt einen Protestierende in Moskau fest, 17. Oktober 2015
Die Polizei nimmt einen Protestierende in Moskau fest, 17. Oktober 2015 Copyright Pavel Golovkin/AP
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Von Joshua Askew
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Wurde den Russen eine zutiefst unpopuläre Invasion aufgezwungen - oder ist das Wunschdenken? Wie glaubwürdig ist das Meinungsbild, dass in russischen Meinungsumfragen zu sehen ist?

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Der Einmarsch Russlands in die Ukraine ist ein Paradoxon: Einerseits beharren Beobachter in ganz Europa darauf, dass es sich um Putins Krieg handelt, der den einfachen Russen aufgezwungen wurde, die in dieser Angelegenheit wenig zu sagen haben.

Aber ist das nur Wunschdenken?

Andere meinen, Russlands Krieg könne nicht ohne breite Unterstützung durch die Bevölkerung geführt werden. Sie berufen sich dabei auf Umfragen, die auf eine hohe öffentliche Unterstützung hindeuten, und auf das auffällige Fehlen von Widerspruch.

Als der Krieg – „militärische Spezialoperation“ genannt - begann, war die Unterstützung "wirklich groß", sagte Elena Konewa, Forscherin beim russischen Meinungsforschungsinstitut ExtremeScan, auf einer kürzlich von Open Democracy organisierten Veranstaltung.

Sie zitierte Umfragen, die eine 50:50-Spaltung zwischen Kriegsbefürwortern und -gegnern deutet, während andere Umfragen auf eine Unterstützung von bis zu zwei Dritteln der Bevölkerung hindeuten.

"Ich kann verstehen, warum die Menschen Putin unterstützen oder Ungerechtigkeit und Grausamkeiten ohne Protest hinnehmen... aber es ist sehr schwer zu verstehen, wie sie diesen Krieg unterstützen können", sagte Konewa und nannte die Ergebnisse "sehr schmerzhaft".

Ein wichtiges Thema für die ganze Welt

Die Umfragen weisen jedoch offensichtlich Probleme auf. In autoritären Regimen, in denen die Menschen ihre Meinung oft nicht frei äußern können, ist die tatsächliche öffentliche Meinung nur selten zu erkennen.

Nicht nur, dass die meisten russischen Meinungsumfragen von staatlich kontrollierten Forschungsinstituten durchgeführt werden, was bedeutet, dass die Ergebnisse manipuliert werden können, der Kreml unterdrückt auch vehement kriegsgegnerische Meinungsäußerungen.

Kritiker des "Sondereinsatzes", wie er in Russland genannt wird, wurden mit hohen Geldstrafen, Verhaftungen und offener Gewalt bedroht und auch bestraft - ein russischer Vater wurde wegen angeblicher Antikriegszeichnungen seiner Tochter in der Schule verhaftet.

Selbst wenn gewöhnliche Russen die Invasion unterstützen, gibt es laut Elena Konewa offene Fragen, was diese Unterstützung in der Praxis bedeutet.

Sie verweist auf Umfragen, in denen die Russen zwar ihre Zustimmung bekunden, aber auf weiterführende Fragen, etwa ob sie sich der Armee anschließen oder Geld für die Sache spenden würden, mit einem klaren Nein antworten.

"Was bedeutet diese Unterstützung dann?", fragte sie.

Stille Duldung

Laut Oleg Schurawlew, einem Wissenschaftler beim russischen Labor für öffentliche Soziologie, sind tiefere Probleme in der russischen Gesellschaft, insbesondere "politische Gleichgültigkeit", im Spiel.

Das bedeutet, dass die Menschen die Invasion zwar unterstützen, aber eher stillschweigend hinnehmen als sie aktiv zu unterstützen.

"In Russland ... sagen viele Menschen so etwas wie: Okay, um ehrlich zu sein, wir hassen alle Kriege, auch diesen, und wir mögen auch die Machthaber nicht besonders und verstehen sie nicht", erklärte er den Teilnehmern der Veranstaltung von Open Democracy.

Da sie sich selbst für "zu inkompetent" und "unfähig, Politik zu verstehen" halten, hoffen die einfachen Menschen, dass ihre scheinbar aufgeklärteren Oberhäupter Gründe haben, den Krieg zu beginnen, da sie glauben, dass es "unmöglich ist, solche Dinge ohne Grund zu beginnen".

Viele Russen haben in der Sowjetunion furchtbar gelitten. Millionen kamen in den 1930er Jahren bei Stalins Säuberungen ums Leben, und auch danach blieb die Gesellschaft streng kontrolliert, Meinungsfreiheit und abweichende Meinungen wurden hart bestraft.

Gleichzeitig behauptet Schurawlew, es gebe eine "moralische Sensibilität" gegenüber Gewalt, die die Menschen in eine Zwickmühle bringen könne.

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"Sie können den Krieg nicht enthusiastisch unterstützen, weil er unmoralisch ist", erklärte er. "Sie können aber auch nicht zu starken Gegnern werden, weil er zu sehr politisiert ist.“

"Deshalb argumentieren sie oft, dass dieser Krieg unvermeidlich war. Sie halten ihn für eine Naturkatastrophe."

Der Kreml hat wiederholt behauptet, dass, wenn Russland die Ukraine nicht angreife, dann würden Kiew oder der Westen Russland zuerst angreifen - eine Behauptung, die laut Schurawlew von gewöhnlichen Russen immer wieder aufgegriffen wird.

"Was sie tun, ist, sehr aktiv Argumente und Rechtfertigungen für diese unvermeidliche Mechanik zu finden".

Rechtfertigungen für das Böse

Obwohl das Blutvergießen sowohl Russland als auch der Ukraine unermessliches Leid zufügt, ist die Unterstützung für den Krieg in den russischen Umfragen realitätsnah geblieben.

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Die Forscherin Koneva führt dies auf die Darstellung des Krieges zurück.

"Ich bin sehr beeindruckt von den russischen Propagandisten", sagte sie und erklärte, dass es ihnen gelungen sei, eine "verzerrte Wahrnehmung" zu schaffen, die "objektive Fakten tötet".

Sie tun dies, indem sie jedes negative Ereignis - sei es ein Todesfall oder ein Rückzug - als einen Versuch zum Schutz des russischen Volkes darstellen.

Obwohl die Unterstützung immer noch weitgehend von militärischen Erfolgen abhängt, hat dies eine Dynamik geschaffen, bei der "je mehr Verluste sie erleiden ... desto mehr konsolidieren sie sich unter der Flagge Putins", sagt sie.

In den Grenzgebieten ist die Unterstützung für die Invasion größer, da die Menschen in diesen Gebieten das Land stärker bedroht sehen als die Menschen, die weiter vom Kriegsgebiet entfernt sind.

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Aber die Dinge seien nicht in Stein gemeißelt.

"Die Menschen können ihre Einstellung ändern und radikaler oder gemäßigter werden", so Schurawlew, warnte aber davor, einen Meinungsumschwung erzwingen zu wollen.

"Selbst wenn man ein Kind oder einen Ehemann verliert, kann man dadurch wütender auf die Machthaber werden, aber gleichzeitig kann man zu dem Schluss kommen: Wenn wir diesen Preis zahlen, brauchen wir einen Sieg, um ihn zu rechtfertigen... Wie können wir sonst unser Leben leben".

"Man wird nie wissen, wie genau sich das auf die Köpfe der Menschen auswirken wird.“

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