Wird Griechenland dank Windenergie zur "grünen Steckdose" Europas?

Wird Griechenland dank Windenergie zur "grünen Steckdose" Europas?
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Von Hans von der BrelieSabine Sans
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In dieser Folge von Euronews Witness hat Reporter Hans von der Brelie mit Beteiligten gesprochen, Energieunternehmen und Netzbetreibern, Windkraftgegnern und Vogelschützern, Managern und Technikern.

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Auf Griechenland weht frischer Wind: Erneuerbare Energien werden massiv ausgebaut und überall schießen Windparks aus dem Boden. In den kommenden 20 Jahren sollen bis zu 12 Gigawatt Offshore-Windanlagen errichtet werden. Kann Griechenland damit zum Energieexporteur werden? Doch auf dem Weg zur "grünen Steckdose Europas" gibt es so einige Hindernisse zu überwinden. Unser Reporter Hans von der Brelie hat mit Beteiligten gesprochen, Energieunternehmen und Netzbetreibern, Windkraftgegnern und Vogelschützern, Managern und Technikern. Eine Recherche vor Ort, für Euronews Witness.

Euronews-Reporter Hans von der Brelie in Griechenland
Euronews-Reporter Hans von der Brelie in Griechenlandeuronews

Reise ins Abenteuer Wind

Unsere Reise ins "Abenteuer Wind" beginnt in Palaia Fokaia, einem kleinen Hafen südlich von Athen. Küstenfischer landen hier ihren Fang an – und kleine Versorgungsschiffe bringen Wartungstechniker und Ausrüstung zu den Windparks. Käpt’n Alexandar nimmt mich mit auf eine unbewohnte Insel, eine Stunde Bootsfahrt mit aufgedrehtem Motor.

Käpt’n Alexandar
Käpt’n Alexandareuronews

Auch Costas Ilias ist an Bord der "Proteus 3". Der gelernte Elektroingenieur arbeitet für ein großes griechisches Energieunternehmen. Einige Tage der Woche sitzt der Manager in seinem Büro in Athen, doch öfters lässt er sich im Außendienst den Wind um die Nase wehen. Als Produktionsleiter ist er einer dieser wettergegerbten Männer, die ständig unterwegs sind, um zu sehen, ob draußen vor Ort alles nach Plan läuft.

Aus dem leuchtenden Indigoblau des Mittelmeers taucht Ágios Geórgios über der Horizontlinie auf, ein sturmgewohnter Felsen, vier steinige Quadratkilometer voller Windkraftanlagen. Petros Pogkas, als Drohnenpilot mit im Euronews-Team, freut sich auf gute Bilder. Dabei war es bis kurz vor Drehbeginn noch völlig unklar, ob es überhaupt möglich sein würde, auf den unbewohnten Brocken im Meer überzusetzen. Frühlingsgewitter tobten über Griechenland, Blitze umzuckten die Windräder, hoher Wellengang hätte ein Anlanden verhindert – und bei hohen Windgeschwindigkeiten kann auch der beste Drohnenpilot der Welt sein Gerät nicht steigen lassen.

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Ágios Geórgios auserkoren wurde, den Wind in Griechenlands Himmel einzufangen. Hier weht er beständig und stark – und Anwohnerproteste sind, mangels Anwohnern, keine zu befürchten. 23 Turbinen produzieren hier Strom für mehr als 40.000 Haushalte auf dem Festland. Dank Inselwind können die Hauptstädter kochen, duschen und Fernsehreportagen sehen.

Wie leistungsfähig sind moderne Windkraftanlagen?

Es ist immer etwas schwierig, sich die enorme Leistungsfähigkeit moderner Windkraftanlagen vor Augen zu führen und sich die Vorteile dieser Technik für die Umwelt konkret vorzustellen. Versuchen wir es trotzdem einmal: Wären die 23 Riesenmasten hier nicht das ganz Jahr über unablässig aktiv, würde die benötigte Energie also mit fossilen Energieträgern erzeugt, gäbe es eine jährliche Verschmutzung der Luft mit 180.000 Tonnen Schadstoffen. Oder anders formuliert: Dank der 23 Windräder auf der Insel müssen 60.000 Erdöl weniger verbrannt werden.

Petros packt seine Drohne für einen ersten Probeflug aus. Das Wetter spielt mit, die Sonne ist zurückgekehrt und schenkt uns atemberaubendes Bildmaterial. Unterdessen zeigt mir Costas Ilias stolz "seine" Wind-Insel. "Es war und ist ein echtes Abenteuer", sagt Ilias und betont die hier erbrachte Pionierleistung.

Wind-Insel Ágios Geórgios
Wind-Insel Ágios Geórgioseuronews

Hochfliegende Pläne

Griechenland hat hochfliegende Pläne in Sachen Wind. Und es macht nun Ernst damit: Allein im vergangenen Jahr (2023) gingen landesweit 153 Windkraftanlagen ans Netz, eine Investition von grob geschätzt über 600 Millionen Euro. Die Beschleunigung des Ausbaus kommt nicht von ungefähr, denn das Land hat - im Hinblick auf sein natürliches Windpotential - enormen Nachholbedarf.

Zwei Drittel der derzeit existierenden Windkraftleistung des europäischen Kontinents werden von nur sechs Staaten produziert. An der Spitze steht Deutschland, mit 70 GW installierter Leistung, gefolgt von Spanien (30,6 GW), Großbritannien (29,6 GW), Frankreich (22,8 GW), Schweden (16.4 GW) und der Türkei (12.3 GW).

Griechenland (5.2 GW installierte Gesamtleistung) befindet sich zusammen mit Polen (9.4 GW), Dänemark (7.6 GW), Finnland (6.9 GW), Portugal (5.8 GW), Belgien (5.5 GW) und Norwegen (5.2 GW) im Mittelfeld. Doch es holt auf. Im vergangenen Jahr (2023) gingen in Griechenland Windkraftanlagen mit zusätzlichen 543 Megawatt Leistung ans Netz.

Bislang setzte Griechenland auf Windenergie an Land. Doch in den kommenden zwei Jahrzehnten könnten weitere 1150 Riesen-Räder auf griechischen Inseln und offshore errichtet werden. Für Griechenland besonders geeignet wäre die "floating offshore" -Technik, also "schwimmende Windkraftanlagen". Denn Griechenland hat anders als Deutschland keinen flachen, seichten Festlandssockel, ganz im Gegenteil, der Meeresboden fällt rasch steil ab. Während "klassische" Offshore-Windräder fest auf dem Meeresgrund stehen, handelt es sich bei "floating offshore" um schwimmende Unterstrukturen, die mit Ankern gehalten werden und deshalb auch über mittleren oder tiefen Lagen eingesetzt werden können.

Terna-Manager Costas Ilias
Terna-Manager Costas Iliaseuronews

"Sie haben große Pläne", frage ich Terna-Manager Ilias, "wie sehen Sie die Zukunft?" – Costas Ilias: "Unsere Vision ist, Offshore-Windenergie Realität werden zu lassen und damit Griechenlands Energieversorgung abzusichern vor äußeren Bedrohungen. Und natürlich tragen wird damit auch zu einer Verringerung der CO₂-Emissionen bei." 

Auch wenn die 23 Insel-Turbinen streng genommen als "onshore", also als Land-Anlagen kategorisiert sind, dienen sie den Terna-Teams doch als Lernobjekt für die kommende Herausforderung, denn die eine oder andere offshore-Technik, beispielsweise Unterseekabel zum Stromtransport, wird auch hier verwendet.

Gold aus Wind

Ich frage nach, warum es nicht nur in Europa, sondern konkret auch in Griechenland so lange gedauert hat, die Windkraftkapazitäten hochzufahren. Sicher, im Falle Griechenlands waren in der Vergangenheit Euro- und Finanzkrise, politische Volatilität und problematische bürokratisch-verwaltungstechnische Rahmenbedingungen Bremsfaktoren. 

Doch Hauptgrund für den lange Zeit schleppenden Wind-Ausbau ist das Festhalten an überalterten Energieversorgungsstrukturen. Wäre Griechenland früher aus der Braunkohle ausgestiegen, stünde es heute ganz anders da. "Doch jetzt blicken wir nach vorne", meint Ilias resolut: "In Küstennähe haben wir starken, beständigen Wind und den sollten wir nutzen, das ist wie Gold."

Ein Fall für Vestager

Das mit dem Gold im Wind, das hat man auch in China mitbekommen. Dort läuft die Produktion von Windkraftanlagen und -zubehör auf Hochtouren. Nicht nur für den boomenden Heimat-Markt, sondern auch zur Versorgung des Weltmarktes. 

Einerseits ist es ja schön, wenn billige Windräder im Angebot sind. Doch europäische Hersteller machen sich Sorgen wegen des "made in China". Denn da steckt halt oft noch was anderes drin: "unlauterer Wettbewerb". Ein Fall für Margrethe Vestager, die EU-Wettbewerbskommissarin! Jetzt hat sie eine Untersuchung eingeleitet... 

Heute beginnen wir mit einer neuen Untersuchung über die Entwicklung bestimmter Windparks in Spanien, Griechenland, Frankreich, Rumänien & Bulgarien. Wir sind besorgt, dass bestimmte Windkraftanlagenhersteller von unfairen ausländischen Subventionen profitieren könnten.

Gold und Geld aus Wind, um den Faden wieder aufzugreifen, hört sich erst einmal ziemlich gut an. Doch um die selbst gesteckten und vereinbarten Zielmarken der EU zu erreichen, müsste in den Mitgliedstaaten viel mehr getan werden. Bis 2030 soll der Anteil erneuerbarer Energien auf mindestens 42.5, idealerweise sogar auf 45 Prozent steigen, so das offizielle Ziel der Europäischen Union. Doch laut Branchenverband WindEurope könnte es knapp werden, es sei denn, das Ausbautempo wird – so wie in Griechenland (und Deutschland) – auch in anderen EU-Ländern gesteigert.

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Aktionsplan Wind

Ein jetzt vereinbarter "Aktionsplan Wind" soll dabei helfen. Als im September des vergangenen Jahres (2023) die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, ihre Grundsatzrede zur Lage der Union hielt, kam auch der Aktionsplan Wind zur Sprache. Man müsse sicherstellen, dass die Zukunft der Windenergie "made in Europe" sei. Eine kaum verklausulierte Warnung war dies, vor unfairen chinesischen Handelspraktiken.

Die Energie-Strategie der Europäischen Union nennt sich REPowerEU. Bis 2030 soll die Windenergie-Kapazität von heute 205 GW auf dann 420 GW hochgeschraubt werden. Wie soll, wie kann das erreicht werden? Mit dem "Europäischen Windkraft-Aktionsplan" liefert die Europäische Kommission jetzt einen konkreten Fahrplan:

Turbo-Genehmigungen

Seit November 2023 arbeiten Kommission und Mitgliedstaaten an einer Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. Die EU-Länder geben außerdem präzise Windenergie-Zusagen und veröffentlichen ihre Wind-Auktionspläne mit Vorlauf.

Seit Anfang des Jahres (2024) wird das "Auktionsdesign" für große Windpark-Ausschreibungen verbessert, auch Cybersicherheit spielt hierbei eine Rolle.

Die Europäische Kommission erleichtert bei Windenergie-Projekten den Zugang zu EU-Finanzmitteln, staatliche Beihilferegeln sollen im Hinblick auf die europäische Windkraftwertschöpfungskette "flexibel" ausgelegt werden. Im Klartext: Europäische und nationale Subventionstöpfe werden oder bleiben geöffnet.

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Und auch die Europäische Investitionsbank (EIB) ist mit von der Partie. Im Dezember 2023 stellte die EIB Kreditgarantien in Höhe von fünf Milliarden Euro für Windenergie-Projekte zur Verfügung. Damit können Geschäftsbanken einen Teil ihrer Kreditrisiken bei Windpark-Investitionen auf die EIB abwälzen, sprich: Kredite für Wind-Unternehmen werden billiger.

Die Qualität, das Angebot und die Attraktivität von Lehrlingsausbildungen in Europa soll gestärkt werden

Hinzu kommt eine europäische Ausbildungsinitiative. Damit will man dringend benötigte, und auch in Griechenland oft fehlende Fachkräfte finden.

Das geht nur, wenn alle Akteure, von den Berufsschulen, über Ausbildungsbetriebe bis hin zu Bildungsministerien und Berufsberatungsstellen, an einem Strang ziehen. Behörden brauchen Orientierungshilfe, Schulen benötigen Ausbilder – und die Jugendlichen Motivation! "Kompetenzpartnerschaft" nennt sich das, und es geht darum, europaweit herauszufinden, wo in welchen Fachbereichen gesucht wird, wie schnellstmöglich Berufseinsteiger an Unternehmen vermittelt werden können und ein Stückweit auch darum, dass junge Menschen wieder Spaß bekommen an technischen Berufen.

So wie Yorgos Politis, ein junger Elektrotechniker, den ich auf der "Energie-Insel" Ágios Geórgios im Mittelmeer treffe. Zusammen mit einem knappen Dutzend anderer Wartungstechniker kümmert er sich um das Wohlergehen der Windräder, Tag und Nacht, bei Wind und Wetter, Sonne und Sturm.

Yorgos Politis
Yorgos Politiseuronews

Er zeigt mir seinen Wohncontainer, eine karge Schlafkabine nicht unähnlich einer Schiffskajüte – und mit Blick aufs Meer. Seit vier Jahren überwacht der Elektrotechniker die Wind-Insel - und ist stolz auf die Verantwortung, die er trägt: "Im Sommer bei 55 Grad Celsius dort oben in einer Windrad-Gondel zu arbeiten, erscheint einem als extrem hart, aber für uns ist das einfach nur Routine", berichtet er aus seinem Insel-Alltag. "Wir kontrollieren und inspizieren alles, jeden Tag. Und wenn eingegriffen werden muss, dann sind wir diejenigen, die den Einsatz durchführen, um den Schaden zu beseitigen. Wir kümmern uns also sowohl um die Überwachung, wie auch um die Schadensbehebung."

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Auch heute staunt Yorgos immer noch über die Vielfalt der Wetterphänomene. Hier auf der Wind-Insel bekommt er ja alles hautnah mit, das in den weiten Himmel ausgreifende Netz der Blitze, peitschende Regenstürme, Wind und Wetter in allen Spielarten. 

Wobei Gewitter den Windradbetreibern regelmäßig den Schweiß auf die Stirn treiben, denn "Blitze lieben Windräder", wie es Betriebsleiter Costas Ilias formuliert. Sie knallen mit Karacho ihre Hochspannung in die Rotorblätter, richten dort Schäden an, oft nur winzigst-kleine Löchlein – doch da kennt das Wartungsteam kein Erbarmen. Denn wer dem Kleinstschaden nicht sofort zu Leibe rückt, der hat wenige Monate oder Jahre später einen Totalausfall. Weshalb ultrasensible Sensoren in den Windkraftanlagen Blitzeinschläge und Veränderungen im Strömungsverhalten der Rotorenblätter messen und melden. Dann kommt Yorgos – oder, wie heute, ein Reparaturspezialteam eines Subunternehmens. Weit oben im stahlblauen Himmel turnen gut gelaunt Alexander aus Polen und Hardiib Singh, ein Inder aus Portugal, mit Klettergurten und Seilen gesichert wie Alpinisten am Berg.

Europas Windkraftbranche im Gegenwind aus China

In der Europäischen Union arbeiten geschätzt 240.000 bis 300.000 Menschen in der Windkraftbranche, rund 45.000 Menschen sind bei Anlagen- und Komponentenherstellern beschäftigt. Doch während der Anteil von EU-Firmen im weltweiten Windkraftanlagen-Business 2020 noch bei 42 Prozent lag, waren es 2022 nur noch 35 Prozent. Die Branche schrumpft – im globalen Statistik-Vergleich der Marktanteile - und das hängt mit der Konkurrenz aus China zusammen.

Und es gibt Probleme mit Rohstoffen, denn bei Kupfer, Stahl, Nickel, Glasfaser, Silizium und Seltenenerdmineralien geht es bei den Preisen rauf und runter – und Europa ist weitgehend auf Drittländer angewiesen. Auch hier wird die EU nun aktiv, entwickelt eine robuste Rohstoffbeschaffungsstrategie, damit es auch in zehn oder 20 Jahren noch rund läuft in der Branche.

Schaffen wir das?

Doch zurück nach Ágios Geórgios, Griechenlands "Vorzeige-Windkraftinsel" im Mittelmeer. Das Pilotprojekt hier auf dem Felsen startete vor acht Jahren als eine Art Test: Was ist technisch machbar? Schaffen wir das? 

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Es waren schwierige Zeiten, Griechenland steckte mitten in der Krise, das sollte man nicht vergessen. Doch die Macher trauten sich was, kalkulierten – und gingen das Risiko ein. 150 Millionen Euro wurden investiert, auf Ágios Geórgios. Und es funktioniert: 73 Megawatt Strom holen sich die Mühlen aus dem Wind und speisen ihn in dicke Unterseekabel.

Die Umspannstation - ein technologisches Wunderwerk
Die Umspannstation - ein technologisches Wunderwerkeuronews

Mit einem Allradjeep fahren wir über eine steile Schotterpiste nach unten, zur Umspannstation. Gigantische Spulen, Transformatoren, Isolatoren. „Ja, hier sind wir nun“, zeigt Costas Ilias mit Stolz in der Stimme sein technologisches Wunderwerk: „Das ist die Verbindung zwischen dem Stromnetz auf dem Festland und unserem Windpark auf der Insel.“ 

Die Unterseekabel sind ebenfalls mit Spezialsensoren ausgerüstet. Die Kabel dürfen sich beispielsweise nicht überhitzen. Und bei längeren Unterwasserstrecken muss eh auf Gleichstrom umgeschaltet werden. Alles nicht so ganz einfach – von technologischer Warte aus betrachtet. Und billig ist es auch nicht gerade. Damit Energiewende und weitreichende Offshore-Pläne Wirklichkeit werden, müssen Griechenland und Europa gigantische Kosten stemmen. Unterseekabel sind teuer: Doch der Ausbau hat begonnen. Es geht los!

Abschließend will ich von Ilias wissen, wie er denn das so sieht, als Techniker: Wann könnte Griechenland, wenn das mit dem Ausbautempo so weitergeht wie jetzt, vom Energieimporteur zum -exporteur werden? „Ich denke, dass Griechenland am Ende dieses Jahrzehnts völlig energie-unabhängig sein wird“, meint Ilias.

Wie stehen Naturschützer zur Windkraft in Griechenland?

Zurück auf dem griechischen Festland führt mich eine fast sechsstündige Autofahrt nach Kranoula, in den bergigen Nordwesten. Das Dorf liegt am Fuß einer Bergkette voller Schluchten, Steilhänge und mit bis zum Horizont reichenden Nadelwäldern und Almwiesen. Ich bin mit Vassiliki Kati verabredet, einer internationalen Koryphäe für Artenvielfalt. Sie bittet mich in ihr Haus mit Fernblick – auf Windräder. „Visuell stören die mich nicht“, meint Professor Kati, und kommt sofort, noch zwischen Tür und Angel, auf ihr Kernargument: Ja - für Windräder in eh schon zersiedelten und bewirtschafteten Räumen! Nein - für Windräder in Naturgebieten!

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Vassiliki Kati
Vassiliki Katieuronews

Kati leitet ein Forschungszentrum an der Universität Ioannina, das renommierte Biolab zum Schutz der Biodiversität. Ihre breit angelegte Studie zur Raumplanung von Windparks in Griechenland sorgte für ganz erhebliche Aufregung, nicht nur bei Naturschützern sondern auch innerhalb von Parteien, Regierung, Verwaltung und – dort wohl am meisten – auf den Chefetagen von Bauunternehmen und Windparkbetreibern.

Ein großes Balkangämsen-Foto schmückt Katis Wohnzimmer, an der Wand hängt eine Gitarre. Doch Kati steuert zielbewusst auf ihren Arbeitscomputer, öffnet rasch einige Dateien, bittet mich näher. Sie will mir etwas zeigen. Ausgangspunkt ihrer Erklär-Reise durch Statistiken und Studien ist eine offizielle Karte der griechischen Energie-Behörde RAE.

Die interaktive Karte ist wirklich nicht schlecht gemacht. In Echtzeit sieht man dort den aktuellen Genehmigungsstand sämtlicher Energieprojekte für Erneuerbare. Je nach Filtereinstellung landet man dort auf Solaranlagen, Erdwärmeprojekten, Windparks, großen Staudämmen und kleinen Wehren, kann feinjustieren nach Regionen, bis auf Gemeinde-Ebene vergrößern. Ein absolut transparentes Meisterstück an öffentlich zugänglicher Information, um sich als Bürger, ganz egal ob auf dem Land oder in einem Ballungsraum wohnend, ein präzises Bild der bisherigen und – jetzt wird es wichtig – geplanten Genehmigungslage zu machen… beispielsweise für Windräder.

Professor Kati klickt, zeigt und erklärt: "Dort, die vielen grünen Flächen, das sind alle bestehenden und geplanten Windräder Griechenlands, die bis jetzt lizenziert wurden." Mit einem weiteren Klick holt sie auch die kleineren Windpark-Projekte mit ins Bild. Große Räume Griechenlands sind auf einmal "grün". Hübsch sieht das aus auf der Karte, doch in Katis Augen spiegelt sich gezügeltes Entsetzen, denn sie weiß, diese Baupläne betreffen Berge, Wälder, Naturgebiete, bislang unzersiedelte Landschaften und Lebensräume zahlreicher Tier- und Pflanzenarten.

Großzügige Genehmigungspolitik Griechenlands?

Die in Katis Sichtweise allzu großzügige Genehmigungspolitik Griechenlands bedroht die Artenvielfalt, glaubt sie – und zahlreiche Forscher folgen ihr in dieser Argumentation. Wobei es nicht nur um die Windräder als solche geht, sondern insbesondere und vor allem auch um die vielen kleinen Zubringerstraßen, die sich mit jedem Windparkprojekt wie ein Infrastruktur-Spinnennetz über vorher unberührte Landschaften legen.

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Auf dem Weg durch den Garten zeigt Kati mit einem Kopfnicken in Richtung Abhang, dort drüben, nicht weit weg, lebe ein Braunbärmännchen. Über unserem Kopf kreist ein Raubvogel. Kati setzt sich ans Steuer ihres Geländewagens. Wir fahren hoch in die Berge. Am Steuer erläutert sie ihren Gedankengang: "Wenn eine neue Straße durch die Wildnis eröffnet wird, quer durch intakte Natur, dann wird damit der Einfluss des Menschen bis tief in die Wildnis hinein transferiert."

Der schädliche "Fußabdruck" menschlicher Infrastruktur bedecke immer schneller immer größere Naturflächen, nicht nur in Griechenland, sondern weltweit: "Wir versiegeln Böden, zerstören Wälder, Grasland und Steppen, wir bebauen Flächen. Straßen bringen naturzerstörerische Bergbauprojekte mit sich. Auf ihnen dringen Wilderer in die Natur vor. Straßen beschleunigen Erderwärmung und Klimawandel", zählt Kati auf. "Sämtliche großen Bedrohungen der Artenvielfalt weltweit hängen mit dem Straßenbau zusammen. Es ist wirklich schlecht, wenn sie in die Wildnis vordringen."

Die Mitsikeli-Bergkette: Ausblick auf atemberaubende Natur
Die Mitsikeli-Bergkette: Ausblick auf atemberaubende Natureuronews

Auf dem Rücken der Mitsikeli-Bergkette machen wir Halt. Es ist ein atemberaubender Anblick. Am Horizont sind noch Schneeberge zu sehen. Majestätisch schneidet sich eine steil abfallende Felsschlucht in die Landschaft. 

Kati hat eine Tabelle dabei, zeigt sie mir: „Österreich ist ein (in geographisch-morphologischer Hinsicht) mit Griechenland durchaus vergleichbares Land, denn beide Staaten sind mit über 70 Prozent von Bergen bedeckt. Doch in Österreich stehen nur zwölf Prozent der Windkraftanlagen in Berggebieten, in Griechenland sind es 92 Prozent. Das zeigt die mangelhafte Raumplanung in unserem Land.“

Einzigartiger Bestand von Gämsen

Auch Professor Katis Kollege ist mitgekommen, Haritakis Papaioannou, ein international bekannter Balkan-Gämsenforscher. Seit Jahren erforscht Papaioannou die Gämsenpopulation, noch rund 500 Exemplare leben hier. Nirgendwo sonst in Griechenland findet sich so ein Bestand. Und das soll auch so bleiben, finden die beiden Wissenschaftler. "Gämsen meiden Straßen", meint Papaioannou und pflichtet Kati bei: Mit dem Ausbau des Straßennetzes in den Bergen schrumpfe der Lebensraum vieler Tierarten, beispielsweise der Gämsen.

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Haritakis Papaioannou, ein international bekannter Balkan-Gämsenforscher
Haritakis Papaioannou, ein international bekannter Balkan-Gämsenforschereuronews

Papaioannou packt seine Kamera mit Teleobjektiv aus. Keine zehn Minuten später ist sein geübtes Auge fündig geworden. Er winkt mich heran. "Dort drüben am Berghang", bedeutet er mir leise, "klettert eine Balkan-Gämse." Er macht einige Fotos, zeigt sie mir. "Das ist ein Männchen", freut er sich über seinen Fund. Dann ziehen wir uns Bergschuhe mit festen Sohlen an, wandern los. Wind kommt auf. Rasch ziehen Wolkenberge über den Himmel.

Völlige Wildnis

"Wir haben eine Karte der naturbelassenen, bislang noch straßenlosen Gebiete Griechenlands erstellt", sagt Kati. "Das sind völlig wilde Gebiete mit herrlichen Landschaften. Es ist eine Tierwelt mit Bären, Balkan-Gämsen, Wölfen, seltenen Schmetterlingen und Steinadlern. Eine Tierwelt voller Saft und Kraft."

Dann kommt, etwas unerwartet, ein dickes Lob in Richtung Politik: "Wir haben es geschafft, die europaweit erste Gesetzgebung für straßenlose Gebiete zu verabschieden. Die griechische Regierung hat bis jetzt neun Berge unter Schutz gestellt. Und das ist nicht das Ende. Das Ziel ist, 55 Wildnis-Gebiete zu schützen." Katis Stimme ändert die Tonlage, wird langsamer, betonter, bestimmter, man spürt, ihr ist das wichtig: "Das ist unsere Natur, wir dürfen sie nicht verlieren.“

Warum bauen die Investoren ihre Windparks ausgerechnet auf Bergrücken, hübsche Inseln oder in unberührte Wälder, fragen sich viele Griechen zusammen mit Professor Kati. Einer der Gründe könne sein, dass es in griechischen Natura-2000-Gebieten relativ billig und einfach sei, Grund und Boden zu nutzen, vermutet Kati. Es macht eben einen erheblichen Unterschied, ob ein Wind-Unternehmen ein großes Stück öffentlichen Grundes günstig zur lizenzierten Nutzung erhält, oder ob man sich erst mit Dutzenden oder gar Hunderten kleiner Privateigentümer herumplagen muss. Hinzu kommt, dass einige Windparkunternehmer Griechenlands zugleich im Straßenbau tätig sind. Geschickt eingefädelt, kann das zu satten Doppelgewinnen führen.

Griechenland hat ein sehr aus ausgedehntes Natura-2000-Netzwerk. Eigentlich sollte das EU-weite Netz der Natura-2000-Gebiete in erster Linie die Artenvielfalt schützen, meint Kati. Die Professorin schlägt deshalb vor, einen Großteil Griechenlands zu Windpark-Verbotszonen zu erklären, auch wenn sie diesen Ausdruck nicht verwendet, sondern zu diplomatischeren Formulierungen greift. Die entrollt einen großformatigen Kartenausdruck, eine visuell und graphisch aufgearbeitete Kurzzusammenfassung ihrer Forschungsarbeit:

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“Grün auf dieser Griechenland-Karte ist die von uns vorgeschlagene Ausschlusszone ohne Windparks”, erläutert Kati. “Blau ist die potentielle Investitionszone. Windräder sollten nicht in abgelegenen Gegenden, naturbelassenen Landschaften und an Orten mit in Griechenland endemischen Artenvorkommen errichtet werden. Wir könnten ohne weiteres 60 Prozent der griechischen Landmasse zur Ausschlusszone erklären. Die restlichen 40 Prozent reichen für unsere jetzigen und künftigen nationalen Windkraft-Ziele völlig aus.”

Kartenausdruck von Katis Forschungsarbeit
Kartenausdruck von Katis Forschungsarbeiteuronews

Kati legt die Blau-Grün-Karte beiseite, greift zur zweiten Rolle. „Das ist die Karte Griechenlands mit den Gebieten völlig ohne Straßen. Ein Drittel dieser straßenlosen Gebiete sind durch den Bau von Windkraftanlagen bedroht. Wir müssen diese straßenlosen Gegenden, diese Wildnis schützen.”

Das Gegenargument der Industrie: auf den Bergrücken ist der Wind am stärksten. Doch auch das hat Professor Kati untersucht: die Unterschiede seien minimal, meint sie. Auch in der von ihr vorgeschlagenen "Investitionszone" wehe nachweislich jede Menge Wind.

Eine der größten Energie-Baustellen Griechenlands

Mein nächster Zwischenstopp liegt zwei Autostunden weiter an den zerklüfteten Steilhängen über dem vor einigen Jahrzehnten angelegten Kastraki-Stausee in der Gegend um Amfilochia. Ohne Ausbau der Speicherkapazitäten wird nichts aus der Energiewende in Europa. Das ist Fakt. Deshalb wird hier nun ein Pumpspeicherkraftwerk gebaut – mit gleich zwei Speicher-Reservoirs. Da kann man so richtig was an Power reinstecken und bei Bedarf wieder rausholen.

Das Pumpspeicherkraftwerk-Projekt Amfilochia ist die größte Investition in Energiespeicherung in Griechenland.
Das Pumpspeicherkraftwerk-Projekt Amfilochia ist die größte Investition in Energiespeicherung in Griechenland.euronews

Wir bekommen Zugang zu einer der größten Energie-Baustellen Griechenlands, vielleicht sogar Europas. Tausend Menschen werden demnächst an dem griechisch-europäischen Gemeinschaftsprojekt PCI 3.24, mitfinanziert von Connecting Europe, dem EU-Programm zur Modernisierung der Energie-Infrastruktur, arbeiten.

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Ich bin unterwegs mit Elisa Papantoniou und Vangelis Vassis. Der geländegängige Wagen zwängt sich auf technischen Behelfsstraßen vorbei an Baggern, Betonmischern, Schwerlastkränen. Dann geht es steil bergab. Am Ufer des bereits bestehenden Stausees machen wir Halt, hier wird bald das Turbinenhaus der neuen Speicherkraftanlage stehen. Von hoch oben wird dann Speicherwasser aus den beiden im Bau befindlichen Speicherseen hinabstürzen, auf Turbinenschaufeln treffen, diese drehen – es entsteht Strom, sehr viel Strom.

Elisa Papantoniou ist für Material-Beschaffung und Einhaltung des Zeitplans zuständig. Die gut gelaunte gelernte Geologin hat die Zahlen im Kopf: "Das eine Speicher-Reservoir hat 5 Millionen Kubikmeter Fassungsvermögen, das andere 2 Millionen Kubikmeter." Ihr Kollege aus der Projektentwicklung, Vangelis Vassis, erklärt das Grundprinzip: "Wenn der Stromverbrauch niedrig ist, speichert das System den Energie-Überschuss (beispielsweise aus Sonnen- oder Windkraftanlagen), indem es Wasser aus dem unteren Stausee in die oberen Reservoirs pumpt. Und in den Stunden des Spitzenverbrauchs verwenden wir das Wasser dann, indem wir es wieder vom oberen zum unteren See durch die Turbinen leiten."

Elisa Papantoniou ist für Beschaffung und Einhaltung des Zeitplans zuständig
Elisa Papantoniou ist für Beschaffung und Einhaltung des Zeitplans zuständigeuronews

Auch Vangelis Vassis kennt seine Zahlen auswendig: "Die Gesamtproduktionsleistung unseres Projekts liegt bei 680 Megawatt und die Pumpleistung bei 730 Megawatt. Die gesamte Stromspeicherkapazität liegt bei etwa 5 Gigawatt-Stunden…"

Seine Kollegin Papantoniou formuliert es noch anschaulicher: "Das ist wie eine wiederaufladbare Natur-Batterie."

Sonnen- und Windenergie werden verwandelt in Wasserkraft, aus den Speicher-Becken jederzeit abrufbar. Dass es in Europa an Speicherkapazitäten fehlt, ist seit Jahren bekannt. Doch erst jetzt werden manche Pläne umgesetzt.

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Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, auch in Amfilochia. Ende 2025 soll hier alles fertig sein. Das könnte knapp werden. Doch Elisa Papantoniou ist zuversichtlich. Für Ende des Sommers steht zunächst einmal der Tunnel-Durchbruch mit anschließender Party für alle Arbeiter und Angestellten auf dem Plan. Ende August oder Anfang September wird der Verbindungstunnel zwischen Speicher- und Stausee fertig gebohrt sein. Grund zum Feiern.

Adrenalin pur!

"Das ganze Projekt ist eine große Herausforderung", meint Papantoniou. "Das ist oft Adrenalin pur!"  Denn bei Großprojekten gibt es immer mal wieder Überraschungen, sei es ein Lieferengpass oder eine Höhle im Untergrund. Doch "dem Ingenieur ist nichts zu schwör", das Sprichwort Daniel Düsentriebs gilt auch hier, im Norden Griechenlands. Dann lächelt die Powerfrau plötzlich: "Ich bin stolz, an diesem Projekt mitzuarbeiten, denn es ist so wichtig für die Umwelt. Es ist wichtig, Energie nachhaltig zu erzeugen.” Als Frau in einer "Männerwelt" findet sie sich zurecht, _"_die Zeiten haben sich geändert."

Die Ingenieure wirken konzentriert aber zufrieden. Mit einigen technischen Veränderungen, beispielsweise durch höhere Dammkronen als ursprünglich geplant, können die Turbinen des künftigen Pumpspeicherkraftwerks bis zu acht statt nur sechs Stunden lang laufen. Eine nicht unerhebliche Kapazitätssteigerung!

Im Umweltvergleich zu chemischen Batterie-Speichern schneiden Pumpspeicherkraftwerke deutlich besser ab. Wasser oder Lithium? Projektentwickler Vassis bevorzugt ganz eindeutig Wasser als Speichermedium. Zumal: "So eine Anlage hält 100 Jahre, da können Batteriespeicher nicht mithalten!"

Vangelis Vassis bevorzugt ganz eindeutig Wasser als Speichermedium
Vangelis Vassis bevorzugt ganz eindeutig Wasser als Speichermediumeuronews

Hilfreiche Millionen

Mit Wasser kennt der Mann sich aus. In Katar hat er international Erfahrung bei Großprojekten gesammelt, beim Bau von Strandpromenaden und Sturmflutschutzanlagen mitgewirkt. Jetzt ist er zurück in seine Heimat Griechenland und kümmert sich unter anderem auch um die Beschaffung von EU-Geldern: "Das Gesamtprojekt Amfilochia kostet etwa 650 Millionen Euro und im Jahr 2021 hat uns die Europäische Union hierfür einen Zuschuss von 250 Millionen Euro gegeben."

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Ist das ein Einzelprojekt, will ich von Vassis wissen, oder kommt da noch mehr? Projektentwickler Vassis: "Terna Energy versucht, über ein Dutzend neuer Speicherkraftwerke zu entwickeln und drei oder vier Projekte sind bereits soweit gediehen, dass mit dem Bau sofort begonnen werden könnte. Europäische Zuschüsse auch für diese Projekte zu bekommen, wäre wirklich hilfreich!"

ECC-Attica: im Herz des griechischen Strom-Netzes

Szenenwechsel. Am Rande des Großstadtmolochs Athen liegt das Energiekontrollzentrum ECC-Attica: Hier schlägt das Herz des griechischen Strom-Netzes. Euronews bekommt eine Sondergenehmigung für den Dreh im Hochsicherheitsbereich. Lefteris Grammatikopoulos, der Betriebsleiter der vom griechischen Netzbetreiber IPTO/ADMIE gesteuerten Anlage, lotst mich in das futuristisch anmutende Innere der Anlage. Auch die Modernisierung des Kontrollzentrums hat die Europäische Union mitfinanziert.

Die erneuerbaren Energien sind eine echte Herausforderung für das Stromnetz, ganz egal ob in Griechenland, Deutschland oder sonstwo. Vor dem gigantischen Großschirm, der ein bisschen an die Zentrale eines Weltraumbahnhofs erinnert, sind Computer-Inseln im Raum verteilt. In klösterlich anmutender Konzentrationsstille sitzt ein halbes Dutzend Männer vor Bildschirmen mit bunten Grafiken, Flussdiagrammen und Zahlenkolonnen.

Fehlt es plötzlich irgendwo in Griechenland an Sonne und Wind, müssen Nikos Katsaros und seine Kollegen sofort mit Wasserkraft und Erdgas ausgleichen. Stressig wird es immer wieder abends: denn da wollen alle gleichzeitig kochen, duschen, daddeln, der Verbrauch schießt in die Höhe… und gleichzeitig geht die Sonne unter!

Ein Telefon klingelt, eine knappe Anweisung – und schon geht im Norden Griechenlands eine Schleuse auf, Wasser stürzt auf Turbinen, Strom fließt ins Netz. Das Team hier im Kontroll-Raum des ECC Attica ist dafür verantwortlich, dass die Stromspannung permanent und präzise auf demselben Niveau bleibt, ohne Schwankungen, ohne Blackout, immer und überall.

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Elektroingenieur Nikos Katsaros ist mit dafür verantwortlich, dass die Stromspannung permanent und präzise auf demselben Niveau bleibt
Elektroingenieur Nikos Katsaros ist mit dafür verantwortlich, dass die Stromspannung permanent und präzise auf demselben Niveau bleibteuronews

Elektroingenieur Nikos Katsaros nimmt sich fünf knappe Minuten Zeit um zu erklären: "Alle vier Sekunden kommen frische Daten in das System. – Wir kommunizieren mit den Wasser- und Gaskraftwerken. Die können rasch ausgleichen."

Überall im Land wird gebaut, gegraben, verlegt. Denn bessere Netze sorgen dafür, dass der Strom schnell da ist, wo er gebraucht wird. Und das ist wichtig bei der Energiewende. Denn Industrie- und Verbrauchszentren liegen nicht unbedingt immer in unmittelbarer Nähe von Wasser-, Wind- oder Sonnenkraftwerken. Stromtransport! Netzstabilität! Das sind konkrete, drängende und dringende Herausforderungen nicht für Griechenland, sondern für ganz Europa, denn vielerorts sind die Netze überaltert – oder brutal unterdimensioniert.

EU-Aktionsplan für Stromnetze

Schätzungen der EU-Kommission zufolge müssten noch in diesem Jahrzehnt europaweit fast 600 Milliarden Euro in die Stromnetze investiert werden. Also damit es jetzt kein Missverständnis gibt: das ist kein Schreibfehler! Nein, wirklich, keine Millionen, sondern 600 Milliarden (wer es genau auf die Milliarde wissen möchte: 584 Milliarden Euro)!

Und jüngste Wortmeldungen seitens diverser Netzbetreiber und ihrer Verbände deuten darauf hin, dass selbst diese astronomische Summe nicht reichen könnte. Im November des vergangenen Jahres präsentierte die Europäische Kommission den EU-Aktionsplan für Stromnetze. Das war dringend notwendig, denn der Stromverbrauch wird in der Europäischen Union bis 2030 um etwa 60 Prozent steigen.

Damit das nicht völlig daneben geht, hat der Europäische Verbund der Übertragungsnetzbetreiber (kurz: ENTSO-E) einen "Zehnjahresnetzentwicklungsplan" erstellt (kurz: TYNDP). Und diese "Studie zu den Systemanforderungen – Chancen für ein effizienteres europäisches Stromnetz bis 2030 und 2040" hat es in sich sich! Um mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien, der zunehmenden Elektrifizierung Europas und der sich beschleunigenden Energiewende Schritt halten zu können, müsse die Übertragungsinfrastruktur in den kommenden sieben Jahren auf das Doppelte ausgebaut werden! Es gibt Probleme bei den Verteilernetzen (40 Prozent sind älter als 40 Jahre und müssten modernisiert werden), es fehlt an „intelligenten Netzen“, und, und, und…

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100 Prozent zu viel Strom (manchmal)

Doch zurück ins Kontrollzentrum des ECC Attica vor den Toren Athens. Betriebsleiter Lefteris Grammatikopoulos erläutert mir das bis hoch unter die Saaldecke reichende Flussdiagramm an der Wand seiner Stromkommandozentrale: "Wir haben bereits jetzt viele Windparks und Sonnenkraftwerke in Griechenland. Manchmal produzieren die einen Energieüberschuss, der den griechischen Stromverbrauch um 100 Prozent übersteigt."

"Manchmal haben sie zu viel Strom", frage ich nach, "manchmal zu wenig. Wie gehen Sie mit dem Problem um?"

Lefteris Grammatikopoulos: "Ja, das ist schon heute eine große Herausforderung für mein Team. Die Lösung für die Zukunft liegt in Speichertechnik und auch in grenzüberschreitenden Stromnetzen mit Nachbarländern und anderen Kontinenten." 

Finanzierungslücke

Die Europäische Kommission warnt vor einer Finanzierungslücke, speziell im Zusammenhang bei grenzüberschreitenden Energienetzen. In einer offiziellen Mitteilung heißt es: "Während der Großteil des Finanzierungsbedarfs für künftige Vorhaben durch Marktfinanzierung gedeckt werden muss, wächst der Druck, zusätzliche öffentliche Unterstützung für grenzüberschreitende Vorhaben bereitzustellen, um die Energiekosten für die Endverbraucher zu begrenzen. Allerdings besteht ein Missverhältnis zwischen dem wachsenden ermittelten Bedarf und den verfügbaren EU-Mitteln. Die bis 2027 im Bereich Energie bereitgestellten Mittel wurden (…) gekürzt."

Betriebsleiter Lefteris Grammatikopoulos
Betriebsleiter Lefteris Grammatikopouloseuronews

Die konservative Regierung in Athen hat sich verpflichtet, ein Drittel des nach der COVID-Krise von der Europäischen Union beschlossenen Wiederaufbau-Fonds in die Bekämpfung des Klimawandels zu stecken. 31 Milliarden Euro kommen hierfür aus Brüssel. Ein Teil davon kann für Modernisierung und Ausbau des griechischen Stromnetzes verwendet werden.

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Griechenlands Strategie: Exporteur grüner Energie

Ich bin mit Ioannis Margaris verabredet, dem stellvertretenden Vorsitzenden des griechischen Netzbetreibers IPTO. Der druckreif auf Englisch formulierende Spitzenmanager nimmt sich eine halbe Stunde Zeit für ein detailliertes Gespräch, aus dem wir hier einige Auszüge wiedergeben:

Hans von der Brelie (Euronews): "Bis 2040/45 rechnen Sie mit 12 Gigawatt Offshore-Windenergie. Was tun mit dieser Riesenmenge Elektrizität?"

Ioannis Margaris (IPTO): "Offshore-Windenergie ist ein völlig neues Element im nationalen Energie- und Klima-Plan. So viel erneuerbare Energie wird für den Verbrauch in Griechenland gar nicht benötigt. Die Strategie Griechenlands ist es, ein Exporteur grüner Energie nach Zentraleuropa zu werden. Und zwar (mittels Stromtrassen) durch den Balkan oder durch Italien. Das ermöglicht den Export überschüssiger erneuerbarer Energie, die wir (in Zukunft) in Griechenland aufgebaut haben werden. Deshalb haben wir vor Kurzem ein neues Projekt zwischen Griechenland und Deutschland vorgeschlagen, das durch die Adria (und Kroatien, Slowenien, Österreich) verlaufen könnte. - Allerdings gibt es auch Verbindungen Richtung Süden: Wir planen Stromtrassen nach Ägypten und Saudi-Arabien… Europa hat aufgrund des Russisch-Ukrainischen Krieges ein lebenswichtiges Interesse an derartigen Trassen."

Ioannis Margaris ist ein Top-Manager des griechischen Netzbetreibers IPTO
Ioannis Margaris ist ein Top-Manager des griechischen Netzbetreibers IPTOeuronews

Hans von der Brelie (Euronews):Was wünschen Sie sich von den Entscheidungsträgern? Sollten Gesetze geändert werden, um das zu erleichtern?“

Ioannis Margaris (IPTO):“Wenn sie heute eine neue (Strom-)Leitung bauen möchten, müssen sie einen sehr schwierigen und langwierigen Genehmigungsprozess durchlaufen. Deshalb war einer unserer Vorschläge, nicht nur an unsere eigene Regierung übrigens, sondern auch in der Debatte mit der Europäischen Union, über neue Wege nachzudenken, Stromübertragungs-Projekte zu genehmigen.”

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Hans von der Brelie (Euronews):„Wie ist die Situation heute? Schafft es Griechenland, mit den zunehmenden – und schwankenden – Mengen erneuerbarer Energie aus Sonne und Wind umzugehen? Oder ist das Netz hoffnungslos überlastet? Haben Sie das noch im Griff?“

Ioannis Margaris (IPTO):“Die Antwort ist: Ja! Derzeit haben wir in Griechenland 12.5 Gigawatt erneuerbarer Energie. Unser Stromnetz, die Übertragungssysteme, die Hochspannungsleitungen können bis zu 19 GW transportieren. Wir warten darauf, dass weitere 6 GW erneuerbarer Energien ans Netz gehen.”

Hans von der Brelie (Euronews):„Was ist denn die Bestandsaufnahme im Moment? Es gab und gibt ja überall Baustellen: Was steht Ihnen an grenzüberschreitenden Hochspannungsleitungen derzeit zur Verfügung?“

Ioannis Margaris (IPTO):“Wir haben bereits bestehende Trassen mit sämtlichen Nachbarn. Wir haben eine 500 Megawatt-Trasse nach Italien, wir haben Hochleistungsverbindungen nach Albanien, Nord-Mazedonien, Bulgarien und in die Türkei. Derzeit arbeiten wir daran, die Übertragungskapazität dieser Trassen zu verdoppeln, streckenweise auch zu verdreifachen.”

Hans von der Brelie (Euronews):„Haben Sie ein konkretes Beispiel?“

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Ioannis Margaris (IPTO):“Mit Italien beispielsweise haben wir die Entscheidung getroffen, eine neue grenzüberschreitende Trasse mit 1 Gigawatt Übertragungskapazität einzurichten. Das hilft beim Stromexport.”

Hans von der Brelie (Euronews):Die Europäische Union schätzt, dass dringend viele hundert Milliarden Euro in die Modernisierung der europäischen Stromnetze investiert werden müssen. Es geht hier um unvorstellbar hohe Geldsummen. Wo soll denn das ganze Geld herkommen?“

Ioannis Margaris (IPTO):“Das stimmt, die (europaweit) diskutierten 580 Milliarden Euro für unumgängliche Investitionen in die Stromnetze sind wirklich eine enorme Summe. Doch andererseits verschwenden wir teilweise immer noch viel Geld mit den althergebrachten Kraftwerken, wir verbrennen quasi Geld für sehr alte Kraftwerke, wir verbrennen Geld für deren CO₂-Ausstoß. Mit der schrittweisen Integration erneuerbarer Energien wird das anders werden – und es könnte helfen, die Strompreise zu senken.”

Windräder vetreiben und gefährden Vögel

Die letzte Station unserer Reportagereise quer durch Griechenland führt uns zum Hafen von Rafina. Dort, an der Anlegestelle der großen Autofähren, treffe ich Apostolos Kaltsis vom griechischen Vogelschutzbund. Wir setzen über nach Evia, Griechenlands zweitgrößter Insel, 156 Kilometer lang, voll majestätischer Bergmassive. Über 200.000 Menschen leben dort, doch große Flächen waren bis vor kurzem noch naturbelassen, ein Paradies für griechische Erholungssuchende aus dem nahen Athen, für Wanderer und Vogelkundler - wie Kaltsis.

Angekommen auf der Insel geht es weiter im Geländewagen, Kaltsis lenkt bergauf. "In Griechenland gibt es noch etwa 100 bis 120 Brutpaare des Habichts-Adlers (Aquila fasciata)", berichtet er, "die Art gilt als gefährdet."  Im Kofferraum liegen Stativ und Teleskop mit Superauflösung. Am Horizont zeichnen sich erste Windräder auf den Bergrücken ab. "Wir werden den Nistplatz des Habichtsadlers überprüfen, ob die Vögel immer noch dort sind", sagt Kaltsis. Fröhlich hört er sich nicht an, eher bedrückt.

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Wo sind die Adler?

Die Gegend um den Berg Ohi wurde zum Vogelschutzgebiet erklärt, insbesondere auch wegen des Vorkommens des Habichtsadlers. Wir halten an. Kaltsis zeigt mir die Gegend um den "Adler-Felsen", viele Jahre brüteten die Raubvögel dort. Doch heute entdeckt Kaltsis keine Spur von ihnen.

"Der Abhang und die Felsen auf der linken Seite, das ist eine der Stellen, an denen der Habichtsadler üblicherweise seinen Horst baut", sagt Kaltsis. "Doch der Habichtsadler braucht, so wie alle Raubvögel, eine fünf Kilometer große Sicherheitszone rund um seinen Horst, ganz ohne Windräder. Damit ist es hier vorbei."

Apostolos Kaltsis vom griechischen Vogelschutzbund
Apostolos Kaltsis vom griechischen Vogelschutzbundeuronews

Straßen zerschneiden jetzt das Jagdrevier. Raubvögel finden weniger Beute. Jeder Windpark, jedes neue Windrad verringert den Lebensraum der Beutevögel, ganz egal ob Adler oder Geier, es fehlt einfach an Platz, so das Argument von Kaltsis und seiner Vogelschutzkollegen. Und immer wieder werden in Griechenland, auf Zypern, überall in Europa große Vögel von Rotorblättern erschlagen. Der Vogelkundler zeigt mir einige Fotos, schön sieht das nicht aus.

Von einem Rotorblatt gemetzelter Vogel
Von einem Rotorblatt gemetzelter Vogeleuronews

Doch andererseits sterben viel mehr Vögel durch Gebäude (Stichwort: tödliche Fensterfronten), Straßenverkehr, streunende Katzen und Wilderer als direkt durch Windräder. Weshalb Kaltsis eher das Argument des schrumpfenden Lebensraums betont. Detaillierte Flächennutzungspläne für Natura-2000-Schutzgebiete könnten für eine klare Trennung sorgen zwischen Vogelschutz, Landwirtschaft und Windenergie, fordert Kaltsis.

"Unser Job ist der Schutz von Vögeln und deren Lebensraum", so Kaltsis. "Und hier sagt die Europäische Kommission genau dasselbe, was auch wir anprangern: Die Art und Weise, in der Windparks innerhalb griechischer Natura-2000-Gebiete gebaut werden, verletzt europäisches Recht."

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Kaltsis weiter: "Das sagt die Europäische Kommission übrigens ganz offiziell: Griechenland steht kurz davor, in dieser Sache wegen Verletzung des Europarechts vor den Europäischen Gerichtshof geladen zu werden.​"

Der Adlerfelsen auf Evia trägt seinen Namen zu Recht, "ein ideales Adler-Gelände", meint Kaltsis. "Deshalb gab es hier in der Gegend lange Zeit vier Brutpaare. Das reduzierte sich mit der Ankunft der Turbinen rasch auf drei, dann zwei…" Und es ist unklar, ob überhaupt noch ein Paar bleiben wird. "Schauen Sie sich doch nur einmal um", zeigt Kaltsis mit großer Geste, "über 200 Windräder stehen da nun". Die Windparks bringen Menschen in die Wildnis, Autos. Die typischen Beutetiere der Adler werden deshalb vorsichtiger, scheuer. Die Adler haben es schwerer, Beute zu schlagen.

Und was ist mit Klimawandel und Erderwärmung, frage ich ihn. Brauchen wir nicht dringend mehr, viel mehr an erneuerbaren Energien? Kaltsis räumt durchaus ein, dass erneuerbare Energien benötigt werden. Doch sein Lösungsvorschlag liegt nicht in mehr Windparks, sondern in geringerem Energieverbrauch. Der Mensch solle, so Kaltsis, seinen Energieverbrauch massiv einschränken. Energiesparen statt Windparks bauen, um es auf den Punkt zu bringen.

Die miesen Tricks der Windpark-Konstrukteure

Auf der Rückfahrt plaudert er aus dem Nähkästchen und erklärt mir einige der halbseidenen Tricks, mit denen manche Windpark-Konstrukteure es schaffen, profitable Windradprojekte von strengen Prüf- und Genehmigungsverfahren fernzuhalten und derart geschickt mit diversen Zuständigkeitsbereichen unterschiedlicher Genehmigungsbehörden zu jonglieren, dass auch problematische Standorte für Windparks letztendlich doch genehmigt werden, trotz Gefahr für die natürlichen Lebensgrundlagen vieler Arten.

Einer der "klassischen" Tricks liegt laut Kaltsis beispielsweise darin, ein großes Lizenzgebiet eines Windparkbetreibers (für das eigentlich eine vollumfängliche, strikte Umweltverträglichkeitsprüfung, teilweise sogar eine Ministererlaubnis erwirkt werden müsste) in mehrere kleinere, nur scheinbar von jeweils unabhängigen Firmen betriebene Gebiete aufzuteilen. Letztendlich stehen dann in der Landschaft immer noch sehr viele Windräder auf demselben Gebiet, doch auf dem Papier sieht es so aus, als stünden dort nur mehrere "kleinere" Projekte – für die jeweils vereinfachte Verfahren gelten…

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Der studierte Biologe gibt einen Stoßseufzer von sich, "wir sind beim Vogelschutzbund mittlerweile alle halbe Juristen geworden", lächelt er ironisch. Doch ganz vergeblich sind die Anstrengungen seines Teams nicht, in einigen Fällen konnte der griechische Vogelschutzbund Windparkprojekte verzögern oder gar stoppen.

Er benennt einen weiteren unlauteren Trick der Unternehmen. Statt die – bei großen Windparkprojekten vorgeschriebene – Feldforschung im Frühling, also zur Brutzeit der dort lebenden Vögel, zu betreiben, hätten einige Firmen das im Herbst gemacht. Die Ergebnisse von Brutpaarbeobachtungen sind aber im Herbst quasi wertlos, erinnert Kaltsis.

"Wenn schon Windräder gebaut werden, dann sollten sie zumindest entlang der Bundesstraßen und Autobahnen errichtet werden, aber nicht auf Bergrücken", empört sich Vogelkundler Kaltsis. "Und sie sollten vor allem näher an die Verbrauchszentren gebaut werden." Und dort, wo es möglich sei, solle man eher auf Solarzellen und PV-Paneele auf Haus- und Fabrikdächern setzen.

Den Plan der griechischen Regierung, mit erneuerbaren Energien, insbesondere mit Windkraft, zu einem "grünen Energie-Exporteur" zu werden, nennt Kaltsis "empörend". Vogelschutzlobbyist Kaltsis meint, der Regierung gehe es "lediglich um finanzielle Interessen". Kaltsis weiter: "Es liegt nicht in unserem griechischen Interesse, unsere wunderbaren Landschaften für eine angeblich grüne Energie-Plattform für Stromexporte zu opfern."

Vogelwarnanlagen mit künstlicher Intelligenz an Windrädern

Vielleicht können George Diakomanolis und Aristos Oikonomou eine Teillösung beisteuern, um die in Griechenland sehr emotional geführte Debatte zumindest etwas zu entschärfen. Die beiden stehen an der Spitze eines griechischen Start-up-Unternehmens, Irida, das bald den Weltmarkt erobern könnte. Mithilfe künstlicher Intelligenz revolutionieren sie die Technik für Vogelwarnanlagen an Windrädern.

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"Der Algorithmus unserer künstlichen Intelligenz ist sehr, sehr genau", freut sich George Diakomanolis. "Er kann Vögel erkennen und von sämtlichen anderen bewegten Objekten unterscheiden, mit einer Präzision von fast 100 Prozent."

Irida-Chef George Diakomanolis
Irida-Chef George Diakomanoliseuronews

Im Klartext: Dort wo früher halbe Windparks zum Stillstand kamen, weil ein Flugzeug den Himmel kreuzte, eine seltsame Wolke beim Bewegungsmelder für Verwirrung sorgte oder ein Zugvogelschwarm hoch oben vorbeiflog, sorgen die neuartigen KI-Vogelwarnsysteme dafür, dass sich alles weiterdreht. Es sei denn, ein wirklicher, echter Vogel kommt dem Rad gefährlich nahe.

Das neue System ist bislang an 230 Windrädern in fünf europäischen Staaten installiert. Es funktioniert rund um die Uhr. Hochauflösende Kameras erkennen anfliegende Vögel. Ein Schall-Signal warnt. Der Vogel macht kehrt. Und wenn nicht? Dann greift die Notabschaltung des Windrades, es wird abgebremst.

"Fakt ist", betont George Diakomanolis, "dass die Europäische Union bereits jetzt von den Windpark-Betreibern verlangt, derartige Systeme an den Masten der Windräder zu installieren, wenn diese in sensiblen Gebieten errichtet werden, wie Natura-2000-Gebieten und (überall) dort, wo Vögel aktiv sind."

Während Staaten wie Spanien, Frankreich und Griechenland diese EU-Vorgabe für Vogelwarnsysteme an Windrädern in Naturgebieten bereits weitgehend umsetzen, hinken die meisten nordischen und osteuropäischen Staaten hinterher, monieren die Irida-Manager.

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Irida-Chef Aristos Oikonomou
Irida-Chef Aristos Oikonomoueuronews

Aristos Oikonomou betont die Lernfähigkeit des System, die dazu führe, dass es sich ständig selbst perfektioniere: "Während wir hier miteinander reden, trainiert der Zentralcomputer den Algorithmus des KI-Systems. Die Kameras an den Windrädern arbeiten wie Augen für uns. Und die sind überall in Europa, in Griechenland, auf den Bergen und Feldern, auf See, an Land. Wir sammeln ständig Daten, ohne Unterbrechung. Und damit füttern wir das System, so dass es in der Lage ist, noch mehr Vogelarten zu erkennen und zwischen ihnen zu unterscheiden."

Wenigstens das grüne Herz...

Der Tag über der Insel Evia geht zur Neige, goldene Sonnenfächer greifen durch die Wolkentürme, die Landschaft der griechischen Antike, mythengesättigt, geschichtsschwer, bietet sich dem Auge des Betrachters in all ihrer Pracht und Herrlichkeit dar. Eine Landschaft wie gemalt von Altmeister Albrecht Altdorfer.

Ein Mann lässt mit zusammengekniffenen Augen den Blick schweifen über dieses Naturschauspiel. Man merkt sofort: Ilias Karabas liebt seine Heimat. Sobald er zu reden beginnt, atemlos, zeigend, deutend, sich drehend, kommt ein Stück griechischer Geschichte zum Vorschein, Berge und Täler, Ebenen und Felsmassive an denen antike Schlachten tobten, Götter zur Erde stiegen, große Dinge geschahen. "Das hier ist unser Kulturerbe", sagt Karabas – und deutet auf die Landschaft.

Doch um besser Gehör zu finden, argumentiert auch er mit dem Naturschutz. Einer der letzten großen Nadelwaldbestände der Ägäis solle erhalten bleiben, so wie er jetzt noch ist, weitgehend unzerschnitten, halbwegs intakt. "Großbrände verwüsteten bereits den Norden, Windparks den Süden Evias", sagt Karabas. "Also sollte man wenigstens das grüne Herz unserer Insel retten."

Schullehrer Ilias Karabas kämpft für den letzten großen Nadelwaldbestand (der Ägäis)
Schullehrer Ilias Karabas kämpft für den letzten großen Nadelwaldbestand (der Ägäis)euronews

Karabas, der in seiner Freizeit die Fußballjugend trainiert und mit seinem Naturschutzverein Sideritis gegen Windparks mobilisiert, kann mehr als reden: "In den vergangenen Tagen haben wir gegen den Bau einer Windmess-Station gekämpft. Doch letztendlich wurde die dann doch errichtet. Allein in der Gegend dort drüben auf dem Berg sind 51 Windkraftanlagen geplant. Wir können unter gar keinen Umständen akzeptieren, dass unsere wunderbaren Berge, an denen unser Leben hängt, der Wind-Industrie überantwortet werden."

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Auch Christos Gouvalis ist wütend. Er und Karabas kennen sich gut. Gouvalis kommt aus einem kleinen Dorf hier in der Gegend, er ist ein begeisterter Ausdauer-Sportler – und ein Mann, der einsteht für seine Überzeugungen. Im Beruf begleitet der Polizist Gefangenentransporte. In seiner Freizeit rennt er über Berge und organisiert Demos. 1.200 Läufer haben sich bereits für den nächsten Protestlauf später im Jahr registriert. Und die Zahlen klettern weiter nach oben. Der Dirfy-Trail könnte diesmal zu einer hundert Kilometer langen Riesen-Demo werden.

Christos Gouvalis steht ein für seine Überzeugungen
Christos Gouvalis steht ein für seine Überzeugungeneuronews

Gouvalis: "Wir organisieren einen 100-Kilometer-Berg-Geländelauf. Los geht es auf dem Berg Dirfy und von dort rennen wir bis zum südlichsten Zipfel unserer europäischen Insel Evia. Wir organisieren das, um gegen die Ausbeutung unserer Berge durch Windparks zu protestieren."

Gouvalis, Karabas und andere Mitstreiter der Anti-Windrad-Bewegung auf Evia sind Teil eines größeren Netzwerkes, Save Andros, das griechenlandweit gut aufgestellt ist. Mit dem Motto "Freie Berge ohne Windparks!" gelingt es den Aktivisten seit Jahren, Proteste zu organisieren.

Andererseits: Die Gründe für einen raschen Ausbau erneuerbarer Energien wiegen schwer. Um den Klimawandel zu bremsen, benötigt die Menschheit den Umstieg auf Erneuerbare so schnell wie möglich.

Doch andererseits ist die Frage durchaus berechtigt, ob Windparks unbedingt mitten in wertvolle Naturgebiete gebaut werden müssen. Die Debatte wird weitergehen – und es wird wohl von Fall zu Fall entschieden werden müssen, wo ein Windpark hingehört und wo nicht. 

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Güterabwägung, Bürgerbeteiligung, Transparenz, öffentliche Debatte, klare Positionierung der politischen Parteien – mit demokratischen Entscheidungsfindungsprozessen werden Lösungen gefunden, bei denen manchmal die eine, manchmal die andere Seite kompromissbereiter wird sein müssen. Es ist – so banal es klingen mag – alles eine Sache der Abwägung. Denn benötigt wird beides, in Griechenland, Europa, weltweit: Klimaschutz und Artenschutz. Am besten Hand in Hand.

Weitere Quellen • Fixer & Übersetzerin: Eleni Korovila; Schnitt: Stéphane Petit; Drohnenpilot: Petros Pogkas; Wildtier-Fotografie: Balkan Chamois Society, HOS, BirdLife Greece, Game and Fauna Service of Cyprus, Stavros Tsiadikoudis, Michalis Kotsakis

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