Wo in Europa haben es Behinderte am schwersten?

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Von Servet Yanatma
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Dieser Artikel wurde im Original veröffentlicht auf Englisch

Laut Daten aus 34 europäischen Ländern sind Menschen ohne Behinderung seltener von Armut bedroht als Menschen mit einer Behinderung.

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In der Europäischen Union leben rund 101 Millionen Menschen mit irgendeiner Form von Behinderung.

Dies entspricht 27 % der EU-Bevölkerung über 16 Jahren, also etwas mehr als einem von vier Erwachsenen. Sie sind mit verschiedenen Ungleichheiten konfrontiert, die ihnen das Leben schwer machen.

Die EU-Kommission fordert einen angemessenen Lebensstandard für alle Menschen mit Behinderungen. Dazu gehören ein unabhängiges Leben, hochwertige Sozial- und Beschäftigungsdienste, zugänglicher und integrativer Wohnraum, angemessener Sozialschutz, die Teilnahme am lebenslangen Lernen und eine gestärkte Sozialwirtschaft.

Beim Vergleich des Status von Menschen mit Behinderungen in Europa sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen. Die sozioökonomischen Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Behinderung sind besonders groß.

Mehrere Indikatoren zeigen, dass Menschen mit Behinderungen erheblich benachteiligt sind. Wir befassen uns mit diesen sozioökonomischen Unterschieden.

Was gilt als Behinderung?

Laut Eurostat bezieht sich eine Behinderung in erster Linie auf die Einschränkungen, die Menschen aufgrund von Gesundheitsproblemen bei der Ausübung bestimmter Tätigkeiten mindestens in den letzten sechs Monaten hatten. Menschen mit einer Behinderung sind Personen, die mindestens eine grundlegende Schwierigkeit bei einer Tätigkeit haben, wie z. B. beim Sehen, Hören, Gehen, Erinnern und so weiter.

Die Prävalenz von Behinderungen in Europa

Der Anteil der Menschen mit irgendeiner Form von Behinderung variiert in der EU beträchtlich und reicht laut Eurostat von 14,6 Prozent in Bulgarien bis zu 38,4 Prozent in Lettland im Jahr 2022.

Den Daten zufolge werden Behinderungen in zwei Gruppen eingeteilt: "einige Einschränkungen" und "schwere Einschränkungen".

In der EU gaben 19,8 Prozent der Menschen im Alter von 16 Jahren und älter an, eine gewisse Einschränkung zu haben, während 7,2 Prozent sagten, dass sie aufgrund von Gesundheitsproblemen in ihren üblichen Aktivitäten stark eingeschränkt seien.

Im Jahr 2022 reichte der Anteil der Menschen mit schweren Behinderungen von 2,7 % in Bulgarien bis 10,3 % in Estland.

In Frankreich und Deutschland lag dieser Anteil mit fast 10 Prozent über dem EU-Durchschnitt. Im Vereinigten Königreich gaben 2018 ebenfalls 11,5 Prozent an, dass sie eine Schwerbehinderung haben.

Warum ist der Anteil der Menschen mit Behinderungen in Europa so unterschiedlich?

Die Zahlen beruhen auf Selbstauskünften und werden daher bis zu einem gewissen Grad von der subjektiven Wahrnehmung der Befragten sowie von ihrem sozialen und kulturellen Hintergrund beeinflusst. Der subjektive Charakter ist also eine wichtige Erklärung für diesen Unterschied.

Dennoch werden diese "Statistiken als relevante und zuverlässige Schätzer des Gesundheitszustands der Bevölkerung angesehen", betonte Eurostat.

Diese Statistiken sind sehr wertvoll für Trendanalysen und für die Messung sozioökonomischer Ungleichheiten zwischen Menschen mit Behinderungen und ohne Aktivitätseinschränkungen.

Sozioökonomische Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Behinderung sind wichtig

Das Armutsrisiko ist einer der wichtigsten sozioökonomischen Unterschiede zwischen Menschen mit Behinderungen und Menschen ohne Erwerbseinschränkungen.

Der Anteil der Menschen mit einer Behinderung, die in der EU von Armut bedroht waren, reichte von 13,6 % in der Slowakei bis zu 44,4 % in Estland.

Diese Zahl war in den nordischen Ländern (mit Ausnahme von Schweden) meist niedrig, während sie in den baltischen Ländern höher war.

Da das Armutsrisiko in der EU sehr unterschiedlich ist, liefert ein Vergleich der Kluft zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen in den einzelnen Ländern aussagekräftigere Erkenntnisse.

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Behinderte Menschen sind stärker von Armut bedroht

Menschen ohne Behinderung sind seltener von Armut bedroht als Menschen mit einer Behinderung.

Dieser Trend wurde in allen 34 europäischen Ländern (27 EU-Mitgliedstaaten, 5 Beitrittskandidaten und 2 Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA)) festgestellt, für die Daten verfügbar waren.

Von der EU-Bevölkerung mit einer Behinderung waren 20,5 % von Armut bedroht, verglichen mit 14,5 % der Menschen ohne Einschränkungen.

In absoluten Zahlen war dieser Unterschied unter den EU-Mitgliedern in Italien und Griechenland am geringsten (1 bzw. 2 Prozentpunkte). In Estland (26,5 Prozentpunkte) war der Abstand am größten, gefolgt von Litauen (21,4 Prozentpunkte), Kroatien (20,3 Prozentpunkte) und Lettland (19,5 Prozentpunkte).

In den baltischen Ländern, Kroatien und Bulgarien war der Abstand am größten

Die absolute Kluft zwischen Menschen mit und ohne Behinderung betrug in dreizehn EU-Ländern mehr als 10 Prozentpunkte, was zeigt, wie sehr behinderte Menschen dort benachteiligt sind.

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Diese Kluft war in den baltischen Ländern sowie in Kroatien und Bulgarien am größten. Bemerkenswerterweise war sie auch in den Niederlanden, Belgien und Schweden sehr hoch, wo der Index für soziale Gerechtigkeit der Bertelsmann Stiftung besser war als in vielen anderen Ländern.

Italien und Griechenland sind die besten Länder mit geringeren Unterschieden

Betrachtet man die relativen Unterschiede (Verhältnis von behinderten zu nicht behinderten Menschen), so sind die Unterschiede in Italien und Griechenland am geringsten. Der Anteil der von Armut bedrohten Menschen war bei Menschen mit einer Behinderung nur 1,1 Mal so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung.

Den größten relativen Unterschied verzeichnete Kroatien (2,6-fach), gefolgt von Estland und Irland (jeweils 2,5-fach).

In elf EU-Ländern betrug dieser relative Unterschied mehr als das Zweifache, was darauf hindeutet, dass Menschen mit Behinderungen wirtschaftlich stärker gefährdet sind als Menschen ohne Behinderungen.

Arbeitslosigkeit ist bei behinderten Menschen höher

Im Jahr 2022 lag die durchschnittliche Arbeitslosenquote in der EU bei Menschen mit Behinderungen bei 9,4 Prozent, verglichen mit 6,1 Prozent bei nicht behinderten Menschen. Mit Ausnahme der Tschechischen Republik war die Arbeitslosenquote in allen EU-Ländern bei behinderten Menschen höher.

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In Ungarn, Slowenien und Litauen lag der relative Unterschied bei über 2,5. Das bedeutet, dass die Arbeitslosenquote in diesen Ländern bei Menschen mit einer Behinderung mehr als 2,5 Mal so hoch war wie bei Menschen ohne Behinderung.

Bei der Beschäftigung ist das Gefälle noch deutlicher

Die Beschäftigungsquote ist auch ein Schlüsselindikator für das sozioökonomische Gefälle zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen.

Laut einem Bericht des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI ), der von Angelina Atanasova, einer Forscherin der Europäischen Sozialen Beobachtungsstelle in Brüssel, verfasst wurde, betrug die Beschäftigungslücke bei Behinderten im Jahr 2022 in der EU 21,4 Prozentpunkte.

Sie reichte von 8,5 Prozentpunkten in Luxemburg bis zu 37 Prozentpunkten in Irland.

In neun EU-Ländern betrug die Beschäftigungslücke bei Menschen mit Behinderungen mehr als 30 Prozentpunkte, was einem von drei Ländern entspricht. An der Spitze lag Irland, gefolgt von Kroatien (36 Prozentpunkte), Belgien (35,3 Prozentpunkte) und Litauen (35 Prozentpunkte).

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An der Spitze lag Luxemburg, gefolgt von Dänemark (9,9 Prozentpunkte), Portugal (13,1 Prozentpunkte), Italien (14 Prozentpunkte) und Spanien (14,6 Prozentpunkte).

Die Teilnahme am Erwerbsleben ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Menschen mit Behinderungen wirtschaftliche Autonomie und soziale Eingliederung erreichen.
Angelina Atanasova
Wissenschaftlerin, Europäische Sozialbeobachtungsstelle

Während die Beschäftigungslücke bei Behinderten in Deutschland (24 Prozentpunkte) höher war als in der EU, war sie in Frankreich (20,8 Prozentpunkte) etwas geringer.

Was könnten die möglichen Gründe für diese beträchtlichen Unterschiede zwischen den EU-Ländern sein?

Die Kluft "spiegelt hauptsächlich Unterschiede in institutionellen Faktoren wider (wie die Umsetzung nationaler Antidiskriminierungsgesetze, sozialstaatliche Regelungen und spezifische Sozialhilfepolitiken)", schrieb Atanasova in ihrem ETUI-Bericht.

Keine signifikanten Verbesserungen bei der Beschäftigung

Die Beschäftigungslücke bei Menschen mit Behinderungen hat sich in der EU in den vergangenen neun Jahren nicht wesentlich verändert. Sie hat sich zwischen 2014 und 2022 auch nicht wesentlich verbessert.

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Die Lücke erreichte 2022 mit 21,4 Prozentpunkten den niedrigsten Stand, verglichen mit 22,7 Prozentpunkten im Jahr 2014.

Diese Daten zeigen, dass Menschen mit Behinderungen gegenüber nicht behinderten Menschen auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor benachteiligt sind.

"Die Teilnahme am Erwerbsleben ist eine wesentliche Voraussetzung für die wirtschaftliche Autonomie und soziale Eingliederung von Menschen mit Behinderungen", schrieb Atanasova.

Die Wirkung von Sozialtransfers ist enorm, um das Armutsrisiko zu verringern

Die Zahlen von Eurostat zeigen, dass die Auswirkungen von Sozialtransfers auf die Armutsgefährdungsquote enorm sind.

Im Jahr 2022 wären 67,1 Prozent der EU-Bevölkerung mit einer Behinderung von Armut bedroht gewesen, aber nach Berücksichtigung der Sozialtransfers (wie Leistungen, Beihilfen und Renten) lag der Anteil bei 20,5 Prozent.

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Höhere Leistungen für Behinderte in den nordischen Ländern

Einige Länder stellen mehr Mittel für Menschen mit Behinderungen in Europa bereit, während der Anteil der Leistungen für Behinderte an den Gesamtausgaben für den Sozialschutz sehr niedrig ist.

Im Jahr 2021 lag der durchschnittliche Anteil der Leistungen für Behinderte an den Gesamtausgaben für Sozialschutzleistungen in der EU bei 6,9 %.

Unter Einbeziehung einiger EFTA- und Kandidatenländer verzeichnete Dänemark mit 16,8 Prozent den höchsten Anteil, gefolgt von Norwegen (15,8), Island (14,9) und Luxemburg (11,4).

In der Türkei hatten behinderte Menschen mit nur 3,1 Prozent den geringsten Anteil an den Leistungen, gefolgt von Malta (3,4), Zypern (3,4) und Griechenland (3,9).

Dieser Anteil war in den nordischen Ländern höher. Unter den "Großen Vier" der EU war der Anteil in Deutschland etwas höher als in der EU, während Frankreich, Italien und Spanien niedrigere Leistungsanteile meldeten.

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Betrachtet man die nominalen Werte, wird die Kluft noch größer. Im Jahr 2021 lagen die Invaliditätsleistungen pro Person zwischen 27 € in der Türkei und 3.162 € in Norwegen. Der EU-Durchschnitt lag bei 644 €. 

Diese Zahlen spiegeln die Invaliditätsleistungen im Rahmen der Gesamtausgaben für Sozialschutzleistungen wider. Die EU-Mitgliedstaaten gaben rund 287,8 Milliarden Euro für Leistungen bei Behinderung aus.

Die nordischen Länder wiesen die höchsten Invaliditätsleistungen pro Person auf, was auch für den Anteil der Invaliditätsleistungen gilt.

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