Wiedersehen mit Kawa und Emina

Wiedersehen mit Kawa und Emina
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Von Hans von der Brelie mit Lars Bastian (Kamera)
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Tausende Menschen flüchteten in die EU, auch Kawa Eli aus Syrien. Wir trafen den Kurden in Rumänien. Wo ist Kawa jetzt? Wiedersehen in Deutschland.

Manche Lebenswege lassen uns nicht los. In Zeiten der Flucht aus den von Krieg und Konflikten gezeichneten Gebieten in Syrien oder im Irak gibt es daran keinen Mangel. Die Geschichte von Kawa und Emina ist eines dieser Schicksale. Nach langer Trennung bauen beide nun an einer gemeinsamen Zukunft. In Deutschland.

Neue Heimat für vertriebene Kurden: Ruhrgebiet

Mit den beiden sind wir im Ruhrpott verabredet. Nach zwei Stunden Stau fließt der Verkehr endlich wieder. Kohle, Stahl und industrielle Revolution haben das Ruhrgebiet groß gemacht. Die Zeiten sind vorbei: heute kämpft die Gegend mit Strukturwandel, Arbeitslosigkeit und Hartz Vier.

Gelsenkirchen, Gladbeck… viele kurdische Flüchtlinge aus dem Norden Syriens haben hier Zuflucht gefunden, darunter auch eine Familie, die ich bereits Anfang 2015 getroffen hatte – ganz im Osten Rumäniens. Im zähen Ruhrpott-Verkehr bleibt Zeit, zurückzudenken, sich zu erinnern.

Rückblende: 70 Menschen zusammengepfercht auf einem Holzboot

Vor zwei Jahren tuckerte ein kleines Holzboot mit 70 Flüchtlingen hauptsächlich aus Syrien über das Schwarze Meer nach Rumänien. Ich hatte damals in einem Flüchtlingsheim Kawa Eli, seine Frau Emina und seine kleine Tochter Huner kennengelernt. Was ist aus der kleinen Familie heute, zwei Jahre später, geworden? Wir sind gleich in Gladbeck. Ich bin neugierig, sie wiederzutreffen. Im Kofferraum habe ich ein Schachbrett dabei, freue mich auf eine Partie, denn Kawa ist ein guter Spieler.

Doch zuvor werfen wir einen Blick zurück: Winter 2015. Das Schwarze Meer kann ungemütlich sein. Gefährlich. Als die Nachrichtenagenturen erste Meldungen über ein völlig überladenes Flüchtlingsboot verbreiteten, schickte Euronews ein Reporter-Team los. Nahost-Flüchtlinge auf dem Schwarzen Meer? Das war mehr als ungewöhnlich…

Todesangst und Terror: Das junge Paar kann fliehen

Todesangst und Terror vertrieben Kawa und Emina aus Kobane. 2014 war das, der sogenannte Islamische Staat eroberte Hunderte kurdischer Dörfer, kam immer näher. Emina war schwanger. In Urfa, auf der türkischen Seite der Grenze, gebar sie ein Mädchen: Huner. Ein “sprechender Name”, Kunst bedeutet er. – Auf der Suche nach Zukunft und Sicherheit floh die Kleinfamilie weiter: nach Europa.

Kawa erinnert sich: “Ich weiss, was Krieg bedeutet: Ich habe gesehen, wie Menschen vor meinen Augen getötet wurden, wie sie vor meinen Augen starben”, sagt Kawa. “Ich habe gesehen, wie ihre Körper zerissen wurden, wie ihnen die Beine abgerissen wurden. – Da ist ein Mann, Du kennst ihn gut, und er stirbt. Es ist nicht einfach, mitanzusehen, wie Dein Haus, Dein Heim zerstört wird, in nur einem Augenblick, einfach so in die Luft fliegt.” – Ich erinnere mich noch, wie Kawa damals um Fassung rang, mit den Tränen kämpfte. Es war ein schwieriger Moment, für ihn, der sich vor der laufenden Kamera erinnerte an die Gründe und schrecklichen Umstände seiner dramatischen Flucht, für mich, den Interviewer, nachzufragen, versuchen zu verstehen.

Schach im Flüchtlingslager und eine Verabredung

Im rumänischen Flüchtlingslager hatte Kawa mich zu einer Partie Schach eingeladen. Er war der weitaus bessere Spieler. Nach zwanzig Minuten war ich schachmatt. Um mir eine zweite Chance einzuräumen, verabredeten wir uns: in zwei Jahren würden wir uns zur Revanche-Partie treffen, egal wo.

Dezember 2016, einer dieser graukalten, norddeutschen Wintertage. Kawa empfängt uns herzlich. Die Heizung hat er auf 27 Grad gestellt. Kawas neues Zuhause heißt Gladbeck: eine 77.000-Einwohner-Stadt mit 1200 Flüchtlingen.

Während uns Emina eine traditionelle und scharf gewürzte kurdische Willkommensmahlzeit zubereitet, erfahren wir die gute Nachricht: sie erwartet ein zweites Mädchen. Im Januar ist es soweit.

Revanche-Partie in Gladbeck und eine lange Erzählung

Unterdessen hat Kawa Eli im Wohnzimmer die Schachfiguren aufgestellt. Wir losen aus, wer beginnt. Der Euronews-Reporter hat die weißen Figuren. Während wir spielen, erzählt Kawa, Zug um Zug entwickelt er seine komplizierte Fluchtgeschichte.

Die rumänischen Behörden hatten Kawa vor Gericht gestellt: Menschenhandel lautete die Anklage… weil er seine Frau und sein Neugeborenes illegal über die Grenze gebracht hatte.

Sechs Monate wartete Kawa hinter Gittern auf sein Verfahren. Emina floh mit ihrem Baby über Ungarn und Österreich nach Deutschland. Auch in der Haft spielte Kawa Schach, mehrmals trugen die Insassen ein Schachturnier aus. Das merkt man auch jetzt, hier in Gladbeck: rasch hat Kawa Eli seinen Vorteil auf dem Schachbrett ausgebaut, der Euronews-Reporter hat das Nachsehen.

Kawa Eli erinnert sich während des Spiels an die verflossenen Tage im rumänischen Gefängnis. Gut waren sie nicht, die Haftbedingungen. Doch eines Tages brachte ihm der Übersetzer eine Nachricht seiner Frau. Auf Kawa Elis Gesicht breitet sich ein Lächeln aus, als er vom Schachbrett aufblickt und sich erinnert: “Der Mann sagte zu mir: Deine Frau ist jetzt in Deutschland. Deine Familie ist in Sicherheit. Du brauchst Dir keine Sorgen mehr zu machen… In diesem Moment habe ich alles um mich herum vergessen: das Gefängnis, alles, wirklich. Ich fühlte mich auf einmal sehr glücklich als ich hörte:Emina und Hunder sind nun in Deutschland…”

Letztendlich sprach das Gericht in Rumänien Kawa von der Anklage des Menschenschmuggels frei. Doch wegen illegalen Grenzübertritts muss er umgerechnet 1300 Euro Strafe zahlen. Nach seiner Entlassung kam auch Kawa nach Deutschland. Als er Emina und die kleine Huner wiedersah, erkannte er seine Tochter kaum wieder, so groß war sie geworden – und konnte laufen. Würde Huner ihren Papa nach der langen Trennung wiedererkennen?

Kawa trifft seine kleine Tochter wieder

Kawa Eli erinnert sich an den Moment des Wiedersehens: “Sie sah hoch zu mir und dann sagte sie nur: Oh! – Dann fragte sie: Bist Du der Papa? – Und ich sagte: Ich bin Dein Papa! – Zuerst blieb sie zwei oder drei Minuten lang ganz still stehen, bewegte sich überhaupt nicht, sah mich an. Dann auf einmal fing sie an zu lachen, begann mit mir zu spielen und mir die Haare zu zerzausen. An einen Augenblick erinnere ich mich auch heute noch ganz genau: Als ich sagte, komm zu Papa! – Und sie rannte auf mich zu. Das war ein unglaublicher Moment, wirklich.”

Glücksmomente am Bahnsteig: Emina und Kawa umarmen sich

Familienzusammenführung ist ein Grundprinzip des Flüchtlingsschutzes. Auch Emina Alibrahim bekommt glitzernde Augen, wenn sie sich an diesen Glücksmoment erinnert: “Ich fühlte mich eigentlich nur zweimal glücklich, während dieser Zeit der Trennung: Das erste Mal, als ich erfuhr, dass mein Mann aus dem rumänischen Gefängnis entlassen worden war. Und dann, als ich ihn mit eigenen Augen am Bahnhof hier in Deutschland sah. Zunächst konnte ich gar nicht glauben, dass er es wirklich geschafft hatte. Es war so ein gutes Gefühl, ihn wiederzuhaben, wieder zusammen zu sein. Als der Zug einfuhr, konnte ich Kawa zuerst gar nicht finden. Dann sah ich diesen Koffer, der mir bekannt vorkam, es war der Koffer meiner Mutter. Auf einmal begriff ich: Kawa kommt wirklich! Ich rannte los, dann sah ich ihn. Und ich barg meinen Kopf an seiner Schulter.”

Weg aus Ostdeutschland

Die Behörden brachten die Familie in Ostdeutschland unter. Damit die Aufnahme der Asylbewerber die jeweiligen Bundesländer nicht überlastet, werden Wirtschaftsleistung, Bevölkerungszahl, Steueraufkommen und weitere Daten bei der Verteilung berücksichtigt. Doch viele von Kawas und Eminas Verwandten leben im Westen. Dorthin zogen deshalb auch Emina und Kawa. Zu diesem Thema sind wir mit Rainer Weichelt verabredet, dem Ersten Beigeordneten der Stadt Gladbeck. Er ist zuständig für die Integration der Flüchtlinge, für Familienpolitik, Jugend, Schule, Sport und vieles mehr. Ein Sozialdemokrat mit festen Überzeugungen und klarer Ansage, ein Mann, der sagt, was Sache ist: “Wir speziell in Gladbeck, wir haben festgestellt, dass anerkannte Flüchtlinge, speziell im Frühjahr 2016 in grossen Zahlen aus dem Osten unserer Republik ins Ruhrgebiet, nach Gladbeck gekommen sind, weil sie sich im Osten nicht wirklich sicher gefühlt haben. – Der Osten ist, was die Arbeitslosigkeit betrifft, in vielen Bereichen besser gestellt als wir hier im Ruhrgebiet”, so Rainer Weichelt.

Kein Kita-Platz für das kleine Kurdenmädchen

Um die Integration der Familie in die deutsche Gesellschaft zu erleichtern, bekam Kawa einige Adressen in die Hand gedrückt, darunter auch die eines christlichen Pfarrkindergartens. Kawa und Huner stellten sich vor – doch leider ist kein Platz frei. Vielleicht später, irgendwann im Jahr 2017?

Die Flüchtlingswelle brachte 150 Kleinkinder im Vorschulalter nach Gladbeck. Obwohl die Stadt nicht reich ist, werden jetzt neue Kitas gebaut – und die Kapazität der vorhandenen wird erhöht. “Ich bin mir sicher, dass meine Tochter problemlos mit anderen Kindern Kontakt knüpfen kann”, sagt Kawa. “Wir sind schon bei mehreren Kindergärten vorbeigegangen, doch dort wurde Huner nicht aufgenommen, denn sie ist erst zwei – und in vielen Kindergärten werden keine Kinder aufgenommen, die jünger sind als vier. – Wir würden es gerne sehen, dass Huner im Kindergarten und in der Schule die deutsche Sprache lernt. Und ich werde Kurdisch mit ihr sprechen.”

Es ist immens wichtig, dass kleine Kinder in einer fremden Gesellschaft so rasch wie nur irgend möglich in Kontakt mit Muttersprachlern kommen, sei es über gutnachbarschaftliche Beziehungen, feste Spielgruppen mit deutschen Kindern, Mutter-Kind-Gruppen, Kitas, Kindergärten, deutschsprachige Betreuungsangebote freiwilliger Helfer oder Schulen. Je früher der Spracherwerb beginnt, umso besser, Experten, Wissenschaftler, Politiker sind sich hier einig. In Huners Alter – zwei Jahre – ist das Gehirn bildlich gesprochen wie ein Schwamm, saugt alles auf, Sprachstrukturen werden angelegt, problemlos und rasch werden ein, zwei oder sogar drei muttersprachliche Sprachzentren im Hirn ausgebildet, wenn, ja wenn das Kind täglich einen festen Ansprechpartner in einer bestimmten Sprache hat. Die selber des Deutschen unkundigen Eltern können das meist nicht leisten – sie müssen ja selbst erst die Sprache erlernen. Bleiben die Kitas – und von denen gibt es angesichts des enormen Bedarfs ganz entschieden zu wenige. Wenn die kleine Huner eine Chance im Leben bekommen soll, dann braucht sie jetzt nur eine Sache: einen Kita-Platz.

Kaum Kontakt zu Deutschen

Bislang schloss Kawas Familie keine Bekanntschaft mit Deutschen. Im Haus – ein Gladbecker Altbau gleich hinter einen Backsteinkirche gelegen – leben nur Migrantenfamilien, überwiegend Kurden. Die meisten Sozialkontakte knüpft die Familie innerhalb der kurdischen Gemeinschaft. In der Gegend leben viele Flüchtlinge aus Kawas Heimatstadt Kobane. Nicht nur in Gladbeck. Auch in Gelsenkirchen.

Darüber hinaus haben auch viele Verwandte von Kawa und Emina hier in der Gegend Zuflucht gefunden: Brüder, Cousins, Eminas Mutter. Der Familien-Clan ist weitverzweigt – und lebt mittlerweile zu einem guten Teil im Ruhrgebiet.

Schlechte Aussichten auf Arbeit

Wenn die Kamera abgeschaltet, Kugelschreiber und Papier weggeräumt sind, dann kommen einige Bedenken hervor, die vor laufender Kamera kaum ein Politiker oder Entscheidungsträger gerne sagt – und die man als Euronewsreporter immer wieder zu hören bekommt in deutschen Städten und Gemeinden, ganz egal ob im Norden oder Süden der Republik. Es geht um Zeit. Um Lebenszeit. Und zwar in Bezug auf die fehlenden Qualifikationen der allermeisten Flüchtlinge, in Bezug auf die (hohen) Anforderungen des deutschen Arbeitsmarktes, in Bezug auf die nicht vorhandenen Sprachkenntnisse der Neuankömmlinge. Während sich um die Flüchtlingskinder kaum einer Sorgen macht – “Die werden ihren Weg schon machen”, ist immer wieder zu hören – so sieht es bei den erwachsenen Flüchtlingen anders aus. Manche Experten reden von einer “verlorenen Generation” – mit Aussicht auf einen Job in fünf bis zehn Jahren, bestenfalls. Denn zunächst muss ein gewisses Sprachniveau im Deutschen erreicht werden – das dauert. Und dann muss nachqualifiziert werden – das dauert ebenfalls.

Warten auf den Sprachkurs

Aber, gibt es denn ausreichend Sprachangebote oder eher lange Wartelisten? Generell in Deutschland, im Ruhrgebiet – und konkret, ganz lokal, in Gladbeck? Rainer Weichelt, der Erste Beigeordnete und Stellvertreter des Gladbecker Bürgermeisters, sieht genau da ein Problem: “Es gibt lange Wartezeiten. Das ist auch anders nicht zu stemmen gewesen. Das war im Sommer 2015 bis in den Sommer diesen Jahres so. Wenn da 1,2 Millionen oder eine Million Menschen (…) in ein Land kommen, dann sind ja nicht von jetzt auf gleich alle Systeme mit Knopfdruck hochgefahren, die müssen ja auch erst entwickelt werden.”

Doch es geht ja nicht nur um Kitaplätze und Sprachkurse. Gladbeck hat ein detailliertes Handlungskonzept entwickelt, alle Akteure ziehen an einem Strang, hier zeigt sich: es ist gut, einen funktionierenden Verwaltungsapparat zu haben.

Migranten machten Gladbeck zur Stadt

Erst die industrielle Revolution, der Bergbau und damit einhergehend die Einwanderung Tausender Polen und anderer Europäer machten aus Gladbeck eine Stadt. Im Gladbecker Stadtmuseum, idyllisch im Park gelegen, wird die Migrationsgeschichte nacherzählt, ein abgeschabter Uraltkoffer ist ausgestellt, Schwarzweißfotos und Alltagsgegenstände machen ein Nacherleben der damaligen Wanderungsbewegung möglich.

Heute – über ein Jahrhundert später – wächst Gladbeck erneut, auch dank Kawa und anderer Flüchtlinge. “Im Augenblick denke ich eigentlich nur daran, wie ich einen Sprachkurs und dann vielleicht auch einen Führerscheinkurs bekommen kann”, so Kawa. “Später dann, in fünf Jahren oder so, werde ich versuchen, mir wieder ein Musikinstrument zuzulegen und etwas mit Musik zu machen. Ich möchte gerne in Deutschland bleiben, falls mir erlaubt wird, hier zu bleiben.” – Kawa lächelt vorsichtig. Er weiß, dass er einen langen und schwierigen Weg vor sich hat. Doch er weiß auch, dass er jetzt endlich in Sicherheit ist.

Eine Runde Glück

Für Huner ist heute ein ganz besonderer Tag: Sie hat Mia und Julie kennengelernt. Die vier und fünf Jahre alten Mädchen sind stolz darauf, der kleinen Huner den Weg zum Weihnachtskarussel zu zeigen – und ihre Oma spendiert eine Runde Glück und wirbelnde Lichter. Eine ganz spontane Geste, eine Zufallsbekanntschaft, ein Spielplatzabenteuer – und nicht zuletzt der Beleg dafür, dass Willkommenskultur – made in Gladbeck Realität ist im rauen Ruhrpott-Alltag.

Gladbecker Bürger engagieren sich. Und dieses Engagement geht manchmal sehr weit: zwei Gladbecker halfen beispielsweise beim Aufbau eines Gesundheitszentrums in Kobane.

Huners Vater Kawa will ich 2018 wiedertreffen, wir verabreden uns mit Handschlag: abgemacht. Und erneut gilt: egal wo. – Vielleicht gewinne ich dann ja auch einmal eine Runde Schach.

Filming INSIDERS in Gladbeck, Germany

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