Deutsche melden sich verhältnismäßig oft krank, heißt es. Karenztage sollen somit die Arbeitgeber entlasten, doch Experten warnen vor sozialen Folgen. Ist die Forderung nach Eigenbeteiligung fair?
Das Gesundheitssystem ist auch in diesem Wahlkampf ein zentrales Thema. Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat sich im vergangenen Jahr in einem Beitrag auf X dafür ausgesprochen, dass gesetzlich Versicherte bei der Terminvergabe keine Nachteile im Vergleich zu Privatpatienten haben sollen.
Doch nicht nur das lange Warten auf Arzttermine führt zu Unzufriedenheit. In einem Interview mit dem Handelsblatt in der vergangenen Woche forderte Allianz-Chef Oliver Bäte die Einführung eines Karenztages. Das würde bedeuten, dass Arbeitnehmer am ersten Krankheitstag keinen Lohn mehr erhalten.
"Weltmeister der Krankmeldungen"
Der Grund für Bätes Forderung ist die hohe Zahl an Krankmeldungen in Deutschland, die bei durchschnittlich 20 Tagen pro Jahr liegt. Der EU-Durchschnitt beträgt jedoch nur acht Tage. Diese Zahl würde Deutschland zum "Weltmeister der Krankmeldungen" machen und die Kosten im Gesundheitssystem erhöhen. Laut Bäte könnte ein Karenztag eine Lösung sein, die Arbeitgeber entlastet.
Laut einer vor kurzem veröffentlichten Analyse der Krankenkasse "DAK" ist der sprunghafte Anstieg der Fehltage seit 2022 vor allem auf ein neues elektronisches Meldeverfahren (eAU) sowie häufigere Erkältungswellen und Corona-Infektionen zurückzuführen. Die telefonische Krankschreibung oder Missbrauch spielen jedoch keine signifikante Rolle, so die Analyse.
"Wir müssen uns klarmachen, dass Deutschland im internationalen Vergleich bei den Krankenständen zu den Spitzenreitern gehört", betont auch der Ökonom Professor Dr. Bernd Raffelhüschen gegenüber Euronews. Seiner Ansicht nach wären drei Karenztage notwendig, um das System zu entlasten.
Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, widerspricht jedoch und erklärt, dass Kurzerkrankungen von bis zu drei Tagen nur sieben Prozent der Arbeitsunfähigkeitsmeldungen ausmachten. "Die Karenztagesregelung wird daher nicht den gewünschten großen Effekt haben, um kurze Krankheitsphasen zu vermeiden", so Bentele.
Professor Dr. Raffelhüschen plädiert dennoch für die Schaffung umsetzbarer Anreize, um Krankschreibungen zumindest kurzfristig zu reduzieren, um die damit entstehenden Kosten zu reduzieren.
Ist der Karenztag gerecht?
Kritiker des Karenztages sehen eine Gefahr, da nicht jeder die finanziellen Mittel hat, die Kosten eines Krankheitstages selbst zu tragen. "Bleibt der Karenztag bestehen, besteht die große Gefahr, dass sich viele Menschen trotz Krankheit zur Arbeit schleppen. Doch wer krank zur Arbeit geht, gefährdet nicht nur sich selbst, sondern auch andere", warnt Verena Bentele.
Seit dem 1. Januar 2025 beträgt der Mindestlohn in Deutschland 12,82 Euro pro Stunde. Eine ledige Person ohne Kinder in Steuerklasse 1, die Mindestlohn bezieht, verdient schätzungsweise zwischen 1.550 und 1.650 Euro netto im Monat. Der Nettotagessatz läge somit bei etwa 73 bis 77 Euro.
Einem Bericht des Statistischen Bundesamtes zufolge waren in Deutschland im Jahr 2023 rund 17,7 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das entspricht rund 21,2 Prozent der Bevölkerung.
Die Einführung eines Karenztages würde sich in diesem Gehaltsbereich besonders stark bemerkbar machen und könnte dazu führen, dass Arbeitnehmer trotz Krankheit zur Arbeit gehen.
Rein statistisch und wirtschaftlich gesehen kann man die Wirtschaft jedoch nicht auf eine Minderheit ausrichten, meint Professor Dr. Raffelhüschen. Als Statistiker sehe er es so: "Wenn jemand in Armut gerät, sollte ihm geholfen werden. Allerdings sollte die Unterstützung nicht vom Unternehmen oder den Beitragszahlern kommen, sondern vom Steuerzahler, der dazu beiträgt, Bedürftigen zu helfen", erklärt er.
"In einem Sozialstaat ist es unser Prinzip, dass Armutsbekämpfung nicht durch proportionale Beiträge finanziert wird", meint Professor Dr. Raffelhüschen. "Wir müssen jedoch bedenken, dass in den nächsten 15 Jahren doppelt so viele Krankentage finanziert werden müssen, wobei immer weniger Beitragszahler dies schultern."
Diese Maßnahmen, darunter die Karenztage und Eigenbeteiligung, sieht Professor Dr. Raffelhüschen als geeignet, die Beiträge für die kommenden Generationen stabil zu halten.
Kompromiss Eigenbeteiligung?
Neben dem Karenztag ist die Eigenbeteiligung ein weiterer Punkt, der laut Professor Dr. Raffelhüschen in Betracht gezogen werden müsste.
"Wir benötigen eine Eigenbeteiligung der Patienten bei Heil- und Hilfsmitteln sowie bei ärztlichen Behandlungen. Diese Rechnungen sollten direkt vom Patienten beglichen werden, der dann teilweise eine Rückerstattung erhält", erklärt der Ökonom.
Er fügt hinzu, dass das Anreize schaffe und helfen könnte, die Beiträge für junge Menschen konstant zu halten, während die älteren Generationen weniger beisteuern. Bei chronisch Kranken könnte man dies durch Deckelung der Eigenbeteiligung lösen. Doch im Allgemeinen sollte die Gemeinschaft sollte nur dann voll übernehmen, wenn es notwendig wird, ergänzt Professor Dr. Raffelhüschen.
Präsentismus trotz Krankheit?
Laut Verena Bentele fühlen sich besonders Geringverdiener stärker gezwungen, krank zur Arbeit zu gehen, als jemand, der sich einen Verdienstausfall leisten kann. „Wer krank ist, sollte nicht darüber nachdenken müssen, ob er sich das leisten kann. Es ist sozial gerecht, niemandem diesen Druck aufzuerlegen“, ergänzt sie.
Anja Piel, DGB-Vorstandsmitglied, stimmt dem in einem schriftlichen Statement gegenüber Euronews zu. Ihrer Meinung nach schadet Präsentismus nicht nur der eigenen Gesundheit, sondern auch den Kollegen, da er zu Ansteckungen führen kann.
"Präsentismus ist auch wirtschaftlich schädlich, da die Folgekosten etwa doppelt so hoch sind wie die Kosten für krankheitsbedingte Fehlzeiten", erklärt sie und verweist auf eine Studie aus dem Jahr 2012, die zeigte, dass Unternehmen bis zu 70 Prozent der indirekten Kosten durch Präsentismus tragen.
Um sowohl Karenztage als auch die Folgen von Präsentismus zu vermeiden, schlägt Verena Bentele vor, dass Arbeitgeber die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen sollten, damit Arbeitnehmer gesund arbeiten können. "Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass ausreichend Geld in der Krankenversicherung vorhanden ist, um Fehlzeiten ausgleichen zu können. Eine erhebliche Investition in Prävention ist zudem zwingend notwendig."
Der Vorschlag des VdK umfasst unter anderem die Einführung einer einheitlichen solidarischen Krankenversicherung, in die auch bisher Privatversicherte, Selbstständige, Beamte und Abgeordnete einzahlen. "Dies wäre der einfachste Weg, um die Kostenbelastung für alle zu senken, wie es der Allianz-Chef wünscht", sagt die Präsidentin des VdK.
Reaktionen aus der Politik
Auch im derzeitigen Wahlkampf spielt die Debatte um den Karenztag eine Rolle. Euronews hat die CDU, SPD, die Grünen und die AfD für Stellungnahme gegenüber dem Karenztag kontaktiert. Bis zur Veröffentlichung dieses Artikels haben alle Vertreter, bis auf die CDU, schriftliche Statements an Euronews geschickt, in denen sie der Einführung eines Karenztages widersprechen.