Wer mit wem? Türkei vor schwieriger Koalitionsfindung

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Der Wunsch von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, die türkische Verfassung zu ändern und ein Präsidialsystem einzuführen, ist an den Urnen

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Der Wunsch von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, die türkische Verfassung zu ändern und ein Präsidialsystem einzuführen, ist an den Urnen abgelehnt worden. Obwohl er an diesem Sonntag gar nicht zur Wahl stand und als Staatsoberhaupt offiziell ohnehin zu Neutralität verpflichtet ist, hatte sich Erdoğan im Wahlkampf für die Verfassungsänderung und damit indirekt auch für die AKP ausgesprochen.

Die Regierungspartei gewann die Wahl deutlich, doch es ist ein Sieg mit bitterem Beigeschmack. Die absolute Mehrheit in der Großen Nationalversammlung ist weg, künftig sitzen für die “Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung” fast 70 Abgeordnete weniger im Parlament als bisher.

Ahmet Davutoğlu, Erdoğans Nachfolger als Ministerpräsident und AKP-Vorsitzender, gab sich am Wahlabend leidenschaftlich und kämpferisch. Nun steht er vor der schwierigen Aufgabe, einen Koalitionspartner zu finden. Diese Sorge hatte Erdoğan nie, unter seiner Leitung konnte die AKP immer alleine regieren.

Erstmals wird die HDP im Parlament vertreten sein. Die “Demokratische Partei der Völker” erhielt unter der Leitung von Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ vor allem im Osten der Türkei großen Zuspruch. Unter den im Ausland lebenden Türken war die pro-kurdische Partei mit 20,4 Prozent sogar zweistärkste Kraft hinter der AKP, die unter den Auslandstürken mit fast 50 Prozent der Stimmen deutlich an erster Stelle lag.

Von den in Österreich abgegebenen Stimmen entfielen 64,2 Prozent auf die AKP und 14,3 Prozent auf die HDP. Ein ähnliches Bild gab es in Deutschland: Mehr als die Hälfte der dort abgegebenen Stimmen entfiel auf die AKP (53,6 Prozent), gefolgt von HDP (17,5 Prozent) und CHP (16 Prozent). Die Türken in der Schweiz gaben ihre Stimmen mehrheitlich der HDP (47,5 Prozent), die AKP kam auf 25,1 Prozent.

Die Zeit drängt – und “die Tür ist geschlossen”

Höchstens 45 Tage darf die Koalitionsfindung dauern. Sollte sich in dieser Zeit kein Bündnis finden, werden Neuwahlen angesetzt.

Wie ist das Ergebnis der türkischen Parlamentswahl einzuordnen und welche Koalitionen sind möglich? Darüber sprach euronews-Reporterin Melis Özoğlu mit Faruk Acar vom Meinungsforschungsinstitut Andy-Ar.

euronews:
Herr Acar, die AKP ist erneut stärkste Kraft, hat aber Stimmen eingebüßt: Woran lag das Ihrer Meinung nach?

Faruk Acar:
In Wirklichkeit hat die Regierung nicht erst in der vergangenen Woche Stimmen verloren. Das hat bereits mit Ereignissen wie den Gezi-Park-Protesten begonnen. Und mit den Verhaftungen im Dezember 2013 sowie der Tatsache, dass sich vier in den Korruptionsskandal verwickelte ehemalige Minister nicht vor dem höchsten Gericht verantworten mussten. All diese Ereignisse haben dafür gesorgt, dass sich Teile der Bevölkerung gegen Erdoğan gestellt haben.

Das Wahlergebnis enthält eine Botschaft, die für den weiteren Lauf der Dinge nach der Wahl sehr bedeutsam ist. Die Unstimmigkeiten zwischen Erdoğan und der türkischen Zentralbank sowie die zuletzt schlechten Wirtschaftszahlen haben sich ebenfalls auf das Wahlergebnis ausgewirkt. Diese Faktoren hatten einen deutlichen Einfluss auf die Bereitschaft, für die AKP zu stimmen.

euronews:
Kommen wir zum Thema Koalition. Mit welcher Partei könnte die AKP eine Koalition bilden?

Acar:
Man könnte sagen, dass die AKP zu keiner der anderen Parteien eine größere Affinität hat. Wichtig ist, dass das nicht an der Haltung der AKP gegenüber den anderen Parteien liegt, sondern eher daran, was die anderen Parteien über die AKP denken.

Die AKP ist die stärkste Kraft, doch sie hat nicht ausreichend Sitze gewonnen, um alleine regieren zu können. Deshalb wird sie versuchen, eine Allianz zu bilden. Doch die Distanz zwischen den Parteien und der Ton, der während des Wahlkampfes angeschlagen wurde, haben dafür gesorgt, dass die Tür für die AKP bei den anderen Parteien geschlossen ist.

Dass CHP, MHP und HDP eine Koalition bilden, ist nahezu unmöglich, doch es wird sicher eine Koalition zwischen der AKP und einer anderen Partei geben. Doch ich bin der Meinung, dass die Regierung, die gebildet werden wird, das Land zu vorgezogenen Neuwahlen führen wird.

euronews:
Wie ist Ihre Meinung zum Erfolg der HDP?

Acar:
Wenn man betrachtet, was zwischen Erdoğan und Demirtaş seit der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr abgelaufen ist, dann sieht man, dass Demirtaş seine Popularität hat steigern können. Dank dieser Entwicklung hat er auch sogenannte temporäre Stimmen erhalten – also Stimmen von Wählern, die gegen die AKP stimmen wollten.

Während des Wahlkampfes hat sich die AKP nicht auf die CHP, sondern vor allem auf die HDP konzentriert. Deshalb hat sich die HDP einer Anti-Erdoğan-Rhetorik bedient, die auch die Sichtweise mancher sozialdemokratischer Wähler beinhaltete. Dank oder trotz dieser Situation haben viele Wähler lieber für die HDP und nicht für die CHP gestimmt. Die HDP hat temporäre Stimmen und Stimmen von freiheitlichen Demokraten erhalten, Bürger haben auch aus strategischen Gründen für sie gestimmt.

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Zudem stellt sich die HDP als eine türkische und nicht nur als eine kurdische Partei dar. Und sie hat Kandidaten aufgestellt, die aus allen möglichen Gesellschaftsschichten stammen. All das hat dafür gesorgt, dass man jetzt sogar von einer sozialdemokratischen Partei sprechen könnte, die ein unmittelbarer und starker Konkurrent der CHP sein wird.

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