Weinanbau - Gradmesser für den Klimawandel

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Von Hans von der Brelie mit Alex Sutton (camera)
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Im kalten Großbritannien wird immer mehr Wein angebaut: Steigende Durchschnittstemperaturen in den vergangenen Jahrzehnten belegen den Klimawandel.

Spätherbst in Sussex, südenglischer Altweibersommer, Weinlese … Nein, dies ist keine Reisereportage mit Weinprobe. Es geht um Zahlen, um Fakten, um ein Problem – und um eine der vielleicht wichtigsten Fragen dieses Jahrhunderts: Hat der Klimawandel bereits begonnen? Ja oder Nein?

150 Prozent Flächenzuwachs in einem Jahrzehnt

Hier in Sussex, im Südosten Großbritanniens liegt das Weingut Rathfinny: 72 Hektar Wein, bald doppelt so viel. 2020 wird dies das größte Weingut Großbritanniens sein. Die Landschaft um das Dörfchen Alfriston und das Cuckmere Tal ist idyllisch, gleich in der Nachbarschaft liegt der South Downs Nationalpark.

Sieht man sich die Temperaturmessungen des Südens und Südostens von England einmal genauer an, so stellt sich heraus: Vor einem halben Jahrhundert lag die Durchschnittstemperatur in den Wachstumsmonaten (April bis Oktober) noch bei zwölfeinhalb Grad Celsius. Heute sind es vierzehn Grad Celsius. Weinberge sind Gradmesser des Wandels: Im vergangenen Jahrzehnt wuchsen Großbritanniens Rebflächen um über 150 Prozent.

Weinanbau immer weiter nördlich

Das kann auch Paul Williamson bestätigen, einer der lokalen Erntehelfer hier auf dem Rathfinny-Weingut. Der Rentner mit der bunten Brille und dem breiten Lachen meint: “Es wird Jahr für Jahr wärmer. Weinbauern findet man jetzt in Großbritannien immer weiter nördlich.” Paul genießt die letzten Spätherbstsonnenstrahlen, die lockere Atmosphäre in der Gruppe der etwa 70 Erntehelfer. Hier treffen sich Stadt und Land, alte und junge Aushilfskräfte aus allen Gesellschaftsschichten: ein Londoner Mode-Modell, ein weit gereister Erntehelfer vom Dorf, Studenten und Rentner, Alteingesessene und Zugereiste. Gezahlt wird der Mindestlohn, wer will, kann auf dem Weingut unterkommen. Paul ist bereits das zweite Jahr mit dabei, für ihn ist die Weinlese eine willkommene Gelegenheit, seine Rente aufzubessern, seinen Muskeln etwas Gutes zu tun und gute Laune zu tanken.

Autumn Colours in the vineyard.. pic.twitter.com/qZwC9zq9fe

— Rathfinny Estate (@RathfinnyEstate) 3 November 2016

Heckenschere statt Hedgefund

Einige Meter weiter schneidet auch Mark Driver Trauben mit der Schere vom Weinstock. Als Hedgefund-Manager jonglierte Mark mit Milliarden. 2009 verließ er die Londoner City, wusste nicht, wohin mit seinen Millionen: Salat oder Wein? Schließlich tauschte er Schlips und Anzug gegen Winzerkleidung ein, mit umgerechnet etwa zwölf Millionen Euro stampfte er ein Weingut aus dem Boden: “Die ersten Jahre zahlt Du drauf”, meint Mark halb lachend, halb seufzend. “Das fühlt sich manchmal so an, als stündest Du unter der Dusche und zerreißt Geldscheine.”

Erderwärmung lässt Römertradition auferstehen

Der vierfache Vater sieht die Investition als Generationenprojekt: In den vollen Genuss des Gewinns werden wohl erst seine Kinder kommen. Doch Mark ist nicht blauäugig an seine neue Lebensaufgabe herangegangen. Er hat kalkuliert. Er hat gesucht. Er hat sich informiert… und er hat eine alte Geschichte wiederentdeckt, die ihn in seinen Plänen bestärkte: “Vor 2000 Jahren waren die Römer hier”, erzählt Mark und zeigt mit dem Finger über die Weinreben vor seiner Nase. “Gerade einmal zwei Kilometer von hier entfernt stand eine große römische Villa, da wurde wohl auch damals schon Wein angebaut, das war damals so üblich. Dann, im Mittelalter, kam eine Kälteperiode, wir wurden Biertrinker.” Mark lacht, dann fährt er fort: “In England wurden Weinreben erst wieder in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren gepflanzt. Dank des Klimawandels entstehen heute immer mehr Weingüter in England.”

Klimawandel: Britensekt macht Champagner Konkurrenz

Der Weg zum Erfolg ist lang, doch die Chancen stehen gut: Rathfinny liegt auf derselben Bodenformation wie die Champagne-Gegend in Frankreich. Geologen haben herausgefunden, dass die mineralogischen Charakteristika der Böden identisch sind: Wie ein sehr langes Band zieht sich die für den Sektweinanbau günstige Bodenschicht vom Norden Frankreichs bis hinüber in den Süden Englands. Laboranalysen bestätigen das. Und genau darauf setzt Weininvestor Mark Driver, er ist fest davon überzeugt, dass Rathfinny-Sekt eines Tages den ganz großen Champagnermarken Frankreichs Konkurrenz machen wird. Andere Weingüter im Süden Englands bestätigen ihn in seinem Optimismus: Englischer Sekt und Wein räumen seit geraumer Zeit bei den internationalen Wettbewerben der Weinkenner ab, Prädikatsmedaillen und Auszeichnungen gehen immer öfters nach Großbritannien, vor einigen Jahrzehnten noch völlig undenkbar, heute fast schon Winzer-Alltag.

Die Erntehelfer machen Pause ohne Sekt. Gesprächsthema ist der Klimawandel vor der Haustüre. Mit dem Rücken an eine besonnte Schuppenwand gelehnt, wundert sich David White über die jüngsten Veränderungen hier in der Gegend: “Voll der Wahnsinn. Ich bin schon durch Afrika und Australien gereist, habe dort Wein probiert. Und nun wächst Wein auf einmal hier bei mir. Das ist echt ein Ding. Klasse, doch schon irgendwie eine Überraschung. Ich lebe da drüben, hinter dem Hügel, und hier gab es früher nur Vieh: Kuhweiden, Ackerbau. Das hat sich total verändert, echt.”

Millionär drückt Weinschulbank

Nach seinem Abschied aus der Hochfinanz entschloss sich Multimillionär Mark Driver, noch einmal die Hochschulbank zu drücken: Weinbau ist eine Wissenschaft, keine Wette auf Wertpapiere. Zwei Jahre lang büffelte er brav alles, was man wissen muss über Fermentationsprozesse, Rebsorten, Klimakunde, Anbautechniken, Bodenanalyse…

Zielmarke 2025: Eine Million Sektflaschen pro Jahr

Doch auch Geld und Geduld werden gebraucht: Erst 2019 kommt Mark Driver auf eine “schwarze Null”. Dann beginnt die “Party”: 2025 könnte er eine Millionen Sektflaschen auf den Markt werfen, falls es so weitergeht mit dem Klimawandel. Nun ja, Mark schmunzelt, “wenn es wirklich ein sehr guter Jahrgang wird”. Der Mann kann sich vermarkten, weiß um die Bedeutung der runden Zahl: Eine Million Flaschen Jahresproduktion, das kommt schneller in die Überschriften der Zeitungen als 870.000. Und noch ist es ja nicht so weit.

Durchschnittstemperatur steigt und steigt

Nach dem Blick in die Zukunft besprechen wir mit Mark Driver die Zahlen der Vergangenheit: “Wir haben hundert Jahre alte lokale Wetteraufzeichnungen”, berichtet der Multimillionär. “Und wenn man sich die ansieht, so stellt man fest, dass es seit 25 oder 30 Jahren einen Anstieg der Durchschnittstemperatur gibt. Dadurch haben wir nun bessere Möglichkeiten, die Trauben zur richtigen Reife zu bringen, den richtigen Zucker- und Säuregehalt zu erzielen, ausgewogene Trauben zu ernten, mit denen man wirklich ausgezeichneten Wein machen kann.”

Südafrika, Neuseeland, Australien, Frankreich, Kalifornien, Chile… Suffolk

Drei Stunden Autofahrt Richtung Nordosten, nach Earsham, ein Dörfchen bei Bungay in der Grafschaft Suffolk, unweit von Norfolk. Etwas außerhalb von Earsham treffen wir Hannah und Ben Witchell. Die jungen Eltern haben soeben das Weingut Flint gegründet, im April wurden die letzten Weinstöcke gepflanzt.

Die Raffinessen des Weinbaus lernten Hannah und Ben zwei Jahre lang im französischen Beaujolais, nördlich von Lyon. Das Paar sammelte auch Erfahrungen in Südafrika, Neuseeland und Australien, schuftete bei der Weinlese in Kalifornien und Griechenland, arbeitete Hand in Hand in Argentinien.

Beim Frühstückstee erzählt Ben, auf was er geachtet hat, bei der Wahl seiner Weinanbaufläche: “Du brauchst einen eher niedrig gelegenen Ort, idealerweise in Küstennähe, dadurch verringert sich das Frostrisiko. Auch wenn hier in Großbritannien der Zuckergehalt nicht ganz so hoch ist wie in den heißeren Klimazonen, entwickelt sich bei uns das Geschmacksprofil besser: Phenole, Säuregehalt und all die anderen Geschmackskomponenten haben Zeit sich zu entfalten und ergeben einen Wein, der recht aromareich ist und einen ausgeprägten Geschmack hat.”

EU hilft bei Verwirklichung des Lebenstraumes

Früher arbeitete Ben als Informatiker, Hannah verdiente Geld in der Reisebranche. Jetzt stecken sie die Ersparnisse ihres gesamten Lebens in einen Neustart: Abenteuer Weinberg. Auch die Europäische Union gibt einen Zuschuss. 12.500 Weinstöcke aus Deutschland, Pflanzen, Terrassieren, neue Maschinen … all das addiert sich zu einer Investition von 350.000 Euro. Das Preisticket für einen Lebenstraum. “Aus den Pinot-Blanc-Trauben wollen wir Weißwein keltern. Die Trauben haben wir so lang wie möglich am Stock gelassen, um die höchstmögliche Reife zu erzielen”, erklärt Hannah.

Weinanbauflächen werden weiter wachsen

An der Universität von East Anglia haben wir uns mit Alistair Nesbitt verabredet. Seine Doktorarbeit verfasste er über die Auswirkungen des Klimawandels auf den Weinbau in Großbritannien. Der Klimaexperte sagt: “In den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren wuchsen die Anbauflächen, insbesondere hier im Südosten Englands. – In den kommenden zehn Jahren wird sich der Weinbau in weiteren traditionellen Ackerbaugegenden ausbreiten, wie hier in East Anglia.”

Alistair und Ben kennen sich gut. Der Wissenschaftler sammelt Weinbergdaten: Temperatur, Windgeschwindigkeit, Bodenfeuchtigkeit. Daraus erstellt er komplexe Mikroklima-Modelle, die sowohl den Winzern helfen, wie auch der Weltgemeinschaft der Klimaforscher. Ich möchte von Alistair wissen, ob er den globalen Trend zur Erderwärmung hier vor Ort bestätigen kann:

“Der Klimawandel ist eine Realität. Wir beobachten ihn in den Weinbergen – und das schon seit über sechzig Jahren: Während der Vegetationsperiode stieg die Temperatur im Durchschnitt um mehr als ein Grad Celsius. Das hört sich vielleicht wenig an, doch es gibt den Ausschlag, ob man Wein anbauen kann – oder nicht”, sagt Alistair Nesbitt.

Es stimmt also: Das Klima ändert sich, die vom Menschen verursachte Erderwärmung beschleunigt sich – auch in Großbritannien.

Insiders: Climate change in the UK

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