Kriegsalltag in Syrien: "Wie die Ratten im Keller"

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euronews hat mit Helle Thorning-Schmidt, Geschäftsführerin der Kinderschutzorganisation "Save the Children", sowie mit dem französischen Arzt Raphael Pitti gesprochen, der in Syrien medizinisches P

euronews:
Vor sieben Jahren zog es Teile der syrischen Bevölkerung auf die Straße, um für Freiheit sowie soziale und wirtschaftliche Verbesserungen zu demonstrieren. Aus den zunächst friedlichen Protesten wurde ein Bürgerkrieg und ein Stellvertreterkrieg, der nun schon in sein achtes Jahr geht. Es ist kein Ende des Konflikts in Sicht. Die anhaltende Gewalt hat mehr als 500.000 Tote gefordert, Millionen Menschen wurden vertrieben. Selbst Schulen und Krankenhäuser wurden getroffen und manchmal sogar vorsätzlich angegriffen. Das Land ist teils bis zur Unkenntlichkeit zerstört und die Liste der Grausamkeiten leider endlos. Inmitten des Krieges und der Zerstörung: die hilflose Zivilbevölkerung. Um ihre Notlage zu beleuchten, spreche ich mit zwei Gästen: Zunächst mit Helle Thorning-Schmidt, Geschäftsführerin von “Save the Children”. Diese Hilfsorganisation, der sie vorsteht, hat Syrien zum weltweit gefährlichsten Land für Kinder erklärt und leistet derzeit humanitäre Hilfe für 2,5 Millionen Menschen in Syrien, darunter 1,7 Millionen Kinder. Und ich begrüße Dr. Raphael Pitti. Er ist ein französischer Arzt, der seit 2012 mehr als 20 Mal im syrischen Kriegsgebiet war und dort syrische Ärzte und Krankenschwestern ausgebildet hat.

euronews:
Helle Thorning-Schmidt, danke für Ihren Besuch bei The Global Conversation. Der Krieg geht in sein achtes Jahr, kann man sagen, dass die internationale Gemeinschaft das syrische Volk im Stich gelassen hat?

Helle Thorning-Schmidt:
Ich glaube, wir müssen zu dem Schluss kommen, dass die internationale Gemeinschaft das syrische Volk und die syrischen Kinder im Stich gelassen hat. Und mich besorgt die Eskalation des Konflikts: Die Vereinten Nationen haben jetzt bestätigt, dass Chemikalien in Syrien als Waffen eingesetzt worden sind. Die Gräuel, die man dort sieht, dass fast zwei Millionen Menschen in belagerten Gebieten leben und dass nicht zugelassen wird, dass Lebensmittel und medizinische Hilfe in schwer zugängliche Regionen gelangen. Das ist eine neue Stufe der Grausamkeit, und ich befürchte, dass wir diesen Zustand irgendwann als normal ansehen. Im Grunde handelt es sich um einen Krieg gegen Kinder. Wenn man Gebiete bombardiert, in denen sich Zivilisten aufhalten, wenn man Schulen und Krankenhäuser bombardiert, ist das ein Krieg gegen Kinder – und diesen sollten wir nicht so hinnehmen.

euronews:
2017 war für syrische Kinder das tödlichste Jahr überhaupt. 2018 wurden bislang 1000 Kinder getötet oder verwundet. Glauben Sie, dass diese Zahl auf die Art und Weise dieses Krieges zurückzuführen ist, nämlich auf Luftangriffe?

Thorning-Schmidt:
Das hängt mit mehreren Dingen zusammen. Wenn sich Kampfhandlungen in Zivilistengebiete verlagern, also meist Städte, ist das ein Angriff auf die Zivilbevölkerung und insbesondere Kinder. Vergessen Sie nicht, dass Ost-Ghuta im Grunde ein Vorort von Damaskus ist.

euronews:
Wie steht es um Kindersoldaten? Offenbar hat sich deren Zahl seit 2015 verdreifacht…

Thorning-Schmidt:
Kinder sind im Krieg verstärkt der Gefahr ausgeliefert, als Soldaten kämpfen zu müssen oder Zwangsarbeit leisten zu müssen. Das Risiko, sexuell missbraucht zu werden, ist für sie ebenfalls höher. Und wir stellen fest, dass immer mehr Mädchen bereits im Kindesalter verheiratet werden, weil die Familien meinen, damit seien sie am sichersten und da die Kinder eine wirtschaftliche Belastung für die Familien werden.

euronews:
Sprechen wir über die langfristigen Folgen des Krieges, also psychologische Traumata…

Thorning-Schmidt:
Wir stellen fest, dass diese Kinder unter posttraumatischem Stress leiden. Viele von uns werden nicht wissen, was das ist. Es gibt Kinder, die sich verstecken oder Stress spüren, wenn sie den Lärm von Bombenangriffen hören. Es gibt Kinder, die ins Bett nässen, die nicht schlafen können und Kinder, die sich im Grunde einfach nicht normal verhalten. Ich frage die internationale Gemeinschaft: Wie können wir von diesen Kindern verlangen, ihr Land aufzubauen, wenn sie keine Bildung genossen haben? In Syrien gibt es mehr als 1,7 Millionen Kinder, die nicht zur Schule gehen, weil die Schulen bombardiert wurden. Sie haben keinen Zugang zu Bildung, sie sind unterernährt, sie sind äußerst verängstigt, sie leiden unter gesundheitsschädlichem Stress. Wie sollen diese Kinder jemals Syrien wiederaufbauen?

euronews:
Vielen Dank für Ihre Erläuterungen und Ihren Besuch bei The Global Conversation.

Thorning-Schmidt:
Danke für die Einladung.

euronews:
Ich spreche jetzt mit Dr. Raphael Pitti, einem französischen Arzt, der medizinisches Personal im syrischen Kriegsgebiet ausgebildet hat. Vielen Dank für Ihren Besuch bei The Global Conversation. Sie sind Notarzt, sie waren genau 21 Mal in Syrien. Berichten Sie uns, wie das vor Ort vonstatten geht. Man muss dazu wissen, dass Krankenhäuser gezielt angegriffen wurden. Wie kann man unter diesen Umständen Patienten behandeln? Mit welchen Medikamenten und mit welchem Personal?

Raphael Pitti:
Wenn man in einem Krankenhaus arbeitet, das nicht gut ausgestattet ist und sie sehen, dass sich die Bedingungen verschlechtern, hat das einen unmittelbaren Einfluss auf den Zustrom von Patienten, die zu ihnen kommen. Man muss aussortieren. Eine gewisse Zahl an Patienten, die sie unter anderen Gegebenheiten würden behandeln können, müssen sie aufgrund des Andrangs und der fehlenden Mittel sterben lassen.

euronews:
Man kann sich vorstellen, dass es an Ärzten mangelt. Die besten Ärzte haben das Land verlassen und auch Mediziner entkommen den Bomben nicht…

Pitti:
Die kompetentesten Ärzte verlassen Syrien oft mit ihren Familien, wenn sie nach zwei, drei Jahren einfach nicht mehr können. Oft müssen sie dann durch Medizinstudenten ersetzt werden. Oder durch ungelernte Kräfte, die einfach versuchen zu helfen. Aus Putzfrauen wurden Krankenschwestern und Hebammen. Aus Studenten wurden Krankenpfleger, aus Erstsemestern wurden Gefäßchirurgen.

euronews:
Die Rede ist von mehr als 500.000 Todesopfern. Hinsichtlich der Überlebenden: Wie überlebt man Kriegsverletzungen, die man bei Luftangriffen oder durch Fassbomben erlitten hat?

Pitti:
Wegen der erwähnten schlechten Bedingungen, ist man gezwungen, erst einmal das Leben des Patienten auf Kosten gewisser Körperfunktionen zu retten. Es wird viel amputiert. Es entsteht eine Generation mit tausenden von Menschen, die sich trotz Behinderung in einem zerstörten Land werden zurechtfinden müssen. Das ist eine große Last für ein Land, sich gleichzeitig um die Vielzahl der Kriegsversehrten zu kümmern und den Wiederaufbau zu versuchen.

euronews:
Sie haben in mehreren Aussagen über die Zerstörung der medizinischen Infrastruktur gesprochen. Können Sie uns erklären, worum es dabei genau geht?

Pitti:
Seit 2011 werden die medizinischen Strukturen in Syrien direkt von der Regierung ins Auge genommen. Die Regierung hat immer versucht darzustellen, dass die Rebellengebiete für die Bevölkerung nicht sicher seien. Deshalb ist die Gesundheitsversorgung in Syrien, die vor 2011 sehr gut ausgebaut war, vollständig zerstört worden. Die Behandlung chronischer Erkrankungen wird nicht mehr gewährleistet, Impfungen werden nicht mehr gewährleistet. Natürlich werden auch Krebsleiden nicht mehr behandelt – Zuckerkrankheit und Bluthochdruck genauso wenig. Man schätzt also, dass bis zu 1,5 Millionen Menschen indirekt durch den Krieg umgekommen sind, weil die Gesundheitsversorgung nicht mehr da ist.

euronews:
Also wären das insgesamt zwei Millionen Kriegstote.

Pitti:
Ganz genau.

euronews:
Sie waren zuletzt vor vier Monaten in Syrien, stehen aber nach wie vor mit Kollegen vor Ort, auch in Ghuta, in Verbindung. Was geschieht dort? Von welchen Neuigkeiten können Sie uns berichten?

Pitti:
Seit 2013 ist Ghuta umzingelt – und seit neun Monaten belagert. Die Unterernährung war bereits vorher sehr verbreitet. Seit einem Monat gibt es täglich Angriffe – mit allen möglichen konventionellen Waffen, die man so kennt, aber auch mit Napalm, mit Splitterbomben und Raketen. Das geschieht jeden Tag, hinzu kommt manchmal der Einsatz von Chlor. Innerhalb eines Monats gab es sechs Angriffe mit Chlor. In Ghuta leben die Menschen wie die Ratten im Keller. Teilweise sind die Keller dermaßen überfüllt, dass die Menschen nach draußen gehen, versuchen, unter freiem Himmel zu schlafen, und hoffen, dass sie keinen Bombardierungen ausgesetzt sein werden.

euronews:
Ist es angemessen zu sagen, dass die Zivilbevölkerung zwischen den Regierungstruppen und den Rebellen gefangen ist und Opfer beider Lager ist?

Pitti:
Ja, das trifft auf die gesamte Bevölkerung zu.

euronews:
Sind Sie persönlich Zeuge von Hinrichtungen durch die Rebellen geworden? Man spricht auch von chemischen Waffen, die die Rebellen eingesetzt haben könnten.

Pitti:
Natürlich, auch die Rebellen haben chemische Kampfstoffe eingesetzt. Die syrische Bevölkerung ist weit von der Revolution entfernt, von der sie sich eine gewisse Freiheit erhoffte. Die Bevölkerung ist die Geisel mehrerer Gruppierungen und bezahlt den höchsten Preis.

euronews:
Dr. Raphael Pitti, danke für Ihren Bericht. Ich weise noch einmal auf Ihr Buch hin, es trägt den Titel: “Geh dort hin, wo die Menschlichkeit Dich führt”.

Das war’s für heute. Danke fürs Zuschauen. Wir melden uns bald wieder, in der Zwischenzeit können Sie uns in den sozialen Netzwerken besuchen. Auf Wiedersehen!

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