Tausende Migranten hängen auf der Westbalkanroute fest

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Von Hans von der Brelie
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Der bevorstehende Winter und katastrophale Zustände in den inoffiziellen Migrantenlagern verschärfen die Situation. Bosnische Behörden, unterstützt von IOM und UNHCR, bemühen sich, die Menschen in Notunterkünften unterzubringen, doch manche weigern sich.

Tausende von Migranten sind in Bosnien und Herzegowina an der Grenze zu Kroatien gestrandet. Erste Minusgrade kündigen den Winter an. Müssen sich die Behörden auf eine humanitäre Notsituation an der Außengrenze der Europäischen Union einstellen? Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit und gegen die Kälte, doch in den vergangenen Wochen hat es Bosnien mit Hilfe von IOM, EU und UNHCR geschafft, mehrere Flüchtlingsunterkünfte mit (fast) ausreichender Bettenkapazität einzurichten.

In diesem Jahr suchten rund 21.000 Migranten in diesem Teil der Welt einen Weg nach Europa, dieses Mal durch Bosnien und Herzegowina. Also keine Neuauflage des gewaltigen Migrantenstroms von 2015, keine neue "Westbalkanroute". Denn damals flohen eine Million Menschen vor allem über Serbien nach Europa.

Unterwegs mit der bosnischen Bergwacht. Hier, im Grenzgebiet zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien, sind jeden Tag Dutzende Migranten unterwegs. Sie versuchen, die Außengrenze der Europäischen Union zu überqueren. Illegal. Hier, im waldigen Nordwesten, vermuten sie weniger Grenzschützer. Und von der bosnischen Grenzstadt Bihac bis nach Kroatien sind es quer über den Berg nur ein paar Kilometer Fu´ßmarsch.

Vor dem Aufbruch heißt es: Essen fassen. Also: Schlange stehen. Internationale Organisationen verteilen Nahrungsmittel. Denn Tausende Menschen sind hier gestrandet. Die kroatische Polizei stellt Grenzgänger im Wald und schickt sie zurück nach Bosnien.

Migranten hausen in Zelten oder Ruinen

Bereits jetzt liegen die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Viele der offiziellen Aufnahmezentren sind bereits kurz nach der Eröffnung überfüllt. Manche Migranten schlafen immer noch in Zelten oder Gebäuderuinen - wie bereits im Sommer und Herbst. Einige Gruppen hängen seit Monaten hier fest, probieren wieder und wieder den illegalen Grenzübertritt. Um Asylschutz in Bosnien-Herzegowina möchte kaum einer bitten.

Bilal ist gerade dabei Fladenbrot zu backen. Der 15jährige Teenager hat zusammen mit seinem Familienclan ein offenes Feuer in einem Betonring entfacht, darüber wird eine flache Metallplatte gelegt, die Bilal mit Öl beträufelt. Während er darauf wartet, dass der dünne Fladenteig knusprig wird, erzählt er:

"Ich komme aus Pakistan, ich gehe nach Spanien. Aber zuerst nach Kroatien. Ich backe Brot, weil das (hier ausgegebene) Essen schlecht ist. Das Problem ist die Grenze, die ist dicht. Dreimal haben wir schon versucht, nach Kroatien zu kommen."

Die Migranten haben das verfallene Studentenwohnheim von Bihac besetzt. Teile des Gebäudes sind ohne Strom. Ich erkunde das mehrstöckige Labyrinth mit dem Licht meines Handys. Unlängst kam es hier zu Handgreiflichkeiten zwischen rivalisierenden Migrantengruppen, das Innenministerium schickte eine Elite-Einheit. Seitdem sollen Medien draußen bleiben. Euronews kam trotzdem rein.

Die Migranten haben die Etagen nach Nationalitäten aufgeteilt, hier die Iraner, dort die Migranten aus Pakistan und Bangladesch... Die Iraner haben kleine Zelte auf dem kahlen Betonboden "ihrer" Etage aufgestellt. Handwerker waren unlängst hier, haben zumindest in einigen der über Jahre hinweg leeren Fensterhöhlen Rahmen und Glasfenster eingesetzt, damit der Winterwind draußen bleibt.

Shehzad verließ Pakistan vor zwei Jahren. Er hatte bei einer Impfkampagne in Wasiristan - einer entlegenen Grenzregion zu Afghanistan - geholfen, weshalb er von den Taliban bedroht wurde. Jetzt sucht er Asyl in Europa, wird aber ständig von europäischen Polizeibehörden zurückgeschoben.

Euronews-Reporter Hans von der Brelie: "Haben Sie schon versucht, die EU-Grenze zu überqueren?"

Shehzad Khan aus Pakistan: "Ja, einmal habe ich es sogar von Kroatien nach Slowenien geschafft. Doch die slowenische Polizei hat mich festgenommen und ich musste zurück nach Bosnien. Ich wurde zuerst der kroatischen, dann der bosnischen Polizei übergeben."

Euronews: "Soll das heißen, dass die slowenischen Behörden Sie nicht angehört haben?"

Shehzad Khan: "Genau, sie haben mich nicht angehört. Wir haben den slowenischen Behörden und der Polizei immer und immer wieder gesagt: Wir brauchen Schutz, bitte. Doch ich bekam keine Anhörung. Sie wollten keine Dokumente sehen. Sie haben mir nicht erlaubt, bei der Asylbehörde vorzusprechen. Obwohl wir ihnen gesagt haben, dass wir einen Anwalt wollen. Sie haben uns keinen Anwalt gegeben."

Verschärfte Kontrollen an der Westbalkanroute

Etwa eine Million Menschen wanderte vor drei Jahren über Serbien nach Westeuropa, bis Ungarn die Grenzen schloss. Heute verläuft die Balkanroute über Bosnien. Über zwanzigtausend Menschen kamen seit Jahresbeginn. Kroatien verschärfte die Kontrollen.

Im Oktober versuchten Hunderte Migranten den Grenzposten Maljevac bei Velika Kladusa zu überrennen. Einige warfen Steine. Die Polizei antwortete mit Tränengas und Schlagstockeinsatz. Eine Woche lang war der Grenzübergang blockiert.

Nach dem erfolglosen Durchbruchversuch zogen sich einige Migranten zurück nach Bihac. Es fehlt an Toiletten und Duschen. Dennoch verweigern die allermeisten Migranten Rückführungsangebote der Internationalen Organisation für Migration. Sie wollen hier, in der Nähe der Grenze bleiben.

Euronews: "Hier leben ungefähr tausend Leute in einer Ruine. Die ist baufällig. Das ist ein echter Skandal hier in Bosnien-Herzegowina. Viele der Menschen hier beschweren sich außerdem über die kroatische Polizeigewalt."

Laut UN-Flüchtlingshilfswerk soll Kroatien seit Beginn des Jahres 2500 Migranten zurückgeschoben haben. 1500 Asylbewerbern soll die Anhörung verweigert worden sein. Und: Es gibt 700 Aussagen über angebliche Polizeigewalt an der Grenze. Das Innenministerium in Zagreb bestreitet dies. - Muhammad aus Bangladesch sagt:

"Ich habe Verletzungen am ganzen Körper, hier, hier. Schauen Sie sich meine gebrochene Hand an. Und mein Bekannter wurde am Kopf verletzt. Eine Prügelei. Die kroatische Polizei hat uns niedergeknüppelt. Von mir aus sollen sie die Leute festnehmen, aber nicht verprügeln, das ist nicht ok. Ich bin ein Mensch. Telefon, Geld, Schnürsenkel - alles landete im Müll. Aber ich bin ein Mensch, kein Tier."

INSIDERS | The Western Balkans Route - Part 1

Drei von vier Migranten schaffen den illegalen Grenzübertritt

Lassen wir die Grenzregion einen Moment hinter uns. Wir fahren in die Nähe von Sarajewo. Dort wurden die Hadzici-Militärbaracken zu einem Flüchtlingsheim umgebaut. Draußen vor dem Tor warten Somalier und Pakistani. 400 Plätze hat das Notaufnahmezentrum, doch die waren nur Tage nach der Eröffnung bereits alle vergeben. Hier treffen wir Peter Van der Auweraert. Der gebürtige Belgier ist Westbalkankoordinator der Internationalen Organisation für Migration - kein Bürohengst, sondern ein Topexperte, der sein solides Insiderwissen beim jahrelangen Einsatz vor Ort erworben hat:

"80 bis 85 Prozent der Menschen hier sind keine Flüchtlinge, sondern Wirtschaftsmigranten. Etwa 35 Prozent sind Pakistaner, die meisten Menschen hier. Wir haben 20 Prozent Afghanen und 20 Prozent Syrer. Allerdings habe ich da einige Zweifel, denn manche Nordafrikaner geben sich als Syrer aus. Insgesamt kamen seit Jahresbeginn etwa 21.000 Menschen nach Bosnien, 4.500 sind noch hier. Das bedeutet, dass drei von vier Migranten den irregulären Grenzübertritt nach Kroatien geschafft haben."

"Wie erklären Sie sich, dass auf einmals so viele Menschen in Richtung der kroatischen Grenze drängten?", will Euronews vom Westbalkankoordinator der IOM wissen_,"Unter den Migranten zirkulierten Gerüchte, dass Kroatien die offiziellen Grenzübergänge für sie öffnen würde",_ berichtet Peter Van der Auweraert. Der UN-Mitarbeiter kann sich auf ein weitverzweigtes Netz aus Mitarbeitern stützen, die überall entlang der Westbalkanroute vor Ort sind, aber auch ein aufmerksames Auge auf die sogenannten sozialen Medien haben. "Diese Falschinformation wurde von Schleppern verbreitet, die damit ihr Geschäft beleben wollten", sagt Peter Van der Auweraert.

Die Preise der Schlepper explodieren

Kroatische Grenzschützer kontrollieren die europäische Außengrenze scharf. Weshalb die Schleuser für die Reise nach Europa mittlerweile horrende Preise verlangen. Abdullah aus Afghanistan bestätigt das:

"Ich mache alles, was nötig ist. Ich gebe den Schleppern noch mehr Geld. Ich warte ab. Ganz egal. Aber ich muss wirklich über diese Grenze nach Europa. Von Afghanistan nach Bosnien habe ich den Schleppern 6.500 Euro gezahlt, bis jetzt."

Die Preisexplosion ist ein echtes Problem für all jene, die wirklich Asyl benötigen. Wir treffen einen Übersetzer der US-Truppen in Afghanistan. Die Taliban entführten seinen Bruder. Aus Sicherheitsgründen will der junge Mann unerkannt bleiben. Nennen wir ihn Baba. 5300 Euro zahlte er für die Reise nach Bosnien.

Euronews: "Es ist nicht einfach, auf das Territorium der Europäischen Union zu gelangen. Wie wollen Sie das bewerkstelligen?"

Baba aus Afghanistan: "Viele Menschen erreichen Kroatien zu Fuß, es gibt Wege durch den Wald. Es ist schwierig, doch das größte Problem ist wirklich das Geld. Nur wenn man zahlt, bringen einen die Schleuser selber über die Grenze, zu Fuß, durch den Wald, im Regen, durch Flüsse. Du musst das Risiko eingehen. Doch die Schleuser überqueren zusammen mit einem die Grenze, wenn man die entsprechende Summe zahlt."

Die Schleuser empfehlen insbesondere einen Pfad im Nordwesten Bosniens. Der Bergweg führt nach Kroatien. Doch das den Schleusern gezahlte Geld ist eine Fehlinvestition. Diese Afghanen hier wissen nicht, dass sie beobachtet werden. Überall entlang der tausend Kilometer langen Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien gibt es Bewegungsmelder, Wärmebildkameras, Flugdrohnen und sogar ein kleines, von Frontex angemietetes Flugzeug kreist über diesem Grenzabschnitt.

INSIDERS | The Western Balkans Route - Part 2

Kroatien und Bosnien arbeiten eng mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex zusammen. Euronews bekam Zugang zu einigen erstaunlichen Bildern, die aus der Luft mit einer hochauflösenden Wärmebildkamera aufgezeichnet wurden. Der Frontex-Flieger hat auf der kroatischen Seite der Grenze einen wartenden Kleinbus entdeckt. Aus dem Wald rennt eine Gruppe von zwanzig Personen zu dem Fahrzeug und klettert hinein.

Während das Überwachungsflugzeug den Kleinbus der Schlepper verfolgt, überträgt die Kamera an Bord alle Bilder in Echtzeit in die Frontex-Zentrale nach Warschau. Dort werden sie im rund um die Uhr besetzten Bereitschaftsraum sofort ausgewertet und mit den jeweiligen nationalen Behörden - in diesem Fall dem Innenministerium in Zagreb und der kroatischen Polizei - geteilt. Nur Minuten später sind Streifenwagen vor Ort unterwegs, der völlig überladene und mit überhöhter Geschwindigkeit durch Kroatien rasende Kleinbus wird angehalten, die beiden Schleuser werden festgenommen. Einer von vielen Fahndungserfolgen des gut eingespielten Frontex-Teams und ein perfektes Beispiel für eine europäische Polizeiarbeit über Ländergrenzen hinweg.

Zurück nach Bosnien, in den Stadtpark von Bihac. Hunderte von an der Grenze gestrandeten Migranten schlafen hier, manche schon seit Monaten. Muhammad und seine Freunde sind Kurden aus dem Irak, sie zeigen uns ein zerbrochenes Handy. Mehrmals versuchten sie, zu Fuss in die Europäische Union einzuwandern. Die kroatischen Polizei schob sie gewaltsam wieder ab, behauptet Muhammad. Was genau geschah im kroatischen Wald? Muhammad erzählt:

"Die Polizei drängte uns in ihren Kleinbus, dann wurden wir zurück an die bosnische Grenze gefahren. Wir mussten uns auf den Boden setzen. Die Handys wurden uns weggenommen und zerstört. Die Reste bekamen wir vor die Füße geworfen. Wir waren eingekreist von fünf normalen Polizisten und zwei höherrangigen. Wir mussten wieder aufstehen. Als wir nach dem Geld fragten, dass sie uns abgenommen hatten, begannen sie, uns mit ihren Knüppeln zu verprügeln. Ich selber wurde auf Arme und Beine geschlagen. Wir waren zu fünft und rannten weg, Richtung Wasser. Wir durchquerten den Fluss, es regnete und war kalt. Am anderen Ufer war Bosnien. Als wir dort ankamen, bewarfen uns die kroatischen Polizisten mit Steinen, aber nicht mit so kleinen wie denen hier, sondern mit richtig großen."

INSIDERS | The Western Balkans Route - Part 3

Grenzschutz mit EU-Hilfe in Kroatien

Cetingrad ist ein malerisch gelegenes Grenzdorf in Kroatien. Wir sind neugierig, die kroatische Sichtweise kennenzulernen. Nach monatelangen Verhandlungen mit dem kroatischen Innenministerium bekommen wir schließlich eine Drehgenehmigung für die mit EU-Geldern errichtete Polizeistation. Der Leiter der Grenzschutzeinheit Damir Butina hat viel zu tun, gerade eben traf erneut eine Lieferung moderner Überwachungstechnik ein.

Euronews: "Sie haben neue Ausrüstung bekommen?"

Damir Butina: "Sehen Sie sich das hier mal an, das ist ein superleichtes Nachtsichtgerät. Ich kann Ihnen auch einen Bildschirm zeigen."

Euronews: "Was ist das?"

Damir Butina: "Mit dieser Wärmebildkamera und dem Joystick können wir über große Entfernungen hinweg Überwachungsoperationen durchführen. Auf dem Bildschirm sieht man das Gelände und, nun ja, in gewisser Weise ist das fast so was wie eine Playstation."

Euronews: "Werfen wir doch mal einen Blick nach draußen, auf Ihren Außendienst-Job, draußen an der grünen Grenze."

Kroatien will ab 2019 Schengen-Mitglied werden

Kroatien will Teil des Schengen-Raums werden, die Rede ist von 2020, die technischen Voraussetzungen will das Land bereits Ende 2018 erfüllt haben. Doch ein Schengenbeitritt ist nur möglich, wenn Kroatien die europäischen Außengrenzen effektiv schützen kann. Wenn drei von vier Migranten über die grüne Grenze nach Europa "einwandern" (wie es die Zahlen des Jahres 2018 nahelegen), dann sind Zweifel angebracht, ob dies tatsächlich der Fall ist. Im Hintergrundgespräch mit kroatischen Polizeioffizieren werden allerdings Zweifel an der Stichhaltigkeit dieser vom bosnischen Innenministerium veröffentlichten und von internationalen Organisationen zitierten Zahlen angemeldet. Angeblich schaffen es sehr viel weniger Migranten illegal über die Grenze, ist zu hören.

Und was ist mit der angeblichen Polizeigewalt an der Grenze? Im Hintergrundgespräch versuchen die kroatischen Grenzschützer den Verdacht zu entkräften. Eine verschärfte Kontrolle der EU-Grenzen bedeute nicht, betonen die Offiziere hier, dass sie Migranten verprügeln oder Handys zerstören würden - denn dann wären sie ihren Job sofort los. Im Einzelgespräch wirkt das durchaus glaubwürdig. Doch kann es wirklich ausgeschlossen werden, dass bei insgesamt weit über sechstausend kroatischen Grenzschützern nicht doch einige Schläger mit dabei sind, die es mit dem internen Regelwerk nicht ganz so genau nehmen, wenn sie sich mitten im Grenzwald unbeobachtet glauben?

Der Euronews-Reporter will wissen, wie sich die Grenzpolizei die zahlreichen Verletzungen der Migranten erklärt. Zu der Frage sagt Damir Butana:

"Wir sind auf dem Laufenden über Berichte unserer Kollegen aus Bosnien-Herzegowina, in denen es um gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen mehreren Migrantengruppen geht. Wenn sie Verletzungen haben, dann haben sie die sich bei Handgreiflichkeiten mit rivalisierenden Migrantengruppen zugezogen. Sie verletzen sich untereinander und behaupten anschließend, die kroatische Polizei sei Schuld."

Kroatische Regierung streitet Polizeiübergriffe ab

Die Debatte über angebliche Polizeiübergriffe hat die politische Ebene erreicht. Wird dadurch Kroatiens Schengenbeitritt verzögert? Die Europäische Kommission evaluiert derzeit das kroatische Grenzregime an der EU-Außengrenze. Und der Europarat hat der Regierung in Zagreb einen Brief mit Bitte um Aufklärung geschickt.

Die kroatische Regierung verneint gegenüber Euronews jegliches Fehlverhalten. Für Strafermittlungen fehle es an glaubwürdigen Zeugenaussagen. Im Gegenzug verweist Kroatien auf die jüngsten Erfolge bei der Bekämpfung des Schlepperunwesens an der tausend Kilometer langen Landgrenze mit Bosnien.

Euronews: "Die Außengrenze der Europäischen Union verläuft direkt hier. Die EU und die kroatische Regierung haben nicht nur in Hightech investiert, sondern auch in Personal: Ivana und Josip sind nur zwei von 6300 kroatischen Polizisten, die diesen Teil der europäischen Außengrenze sichern."

INSIDERS | The Western Balkans Route - Part 4

Humanitäre Hilfe für Migranten

Zurück nach Bosnien. Auf einem Feld bei Velika Kladusa haben einige Hundert Migranten ihre Zelte errichtet. Julien Kloberer arbeitet für Ärzte ohne Grenzen. Von ihm wollen wir wissen, ob er und seine Kollegen Anhaltspunkte oder Beweise für die angeblichen Polizeiübergriffe haben. Er sagt:

"Wir dokumentieren diese Fälle und wir überprüfen die Wunden und Prellungen, die sie haben. Diese Blutergüsse stimmen mit den Anschuldigungen, die diese Leute vorbringen, überein. Die Berichte über ihre angebliche Herkunft und die Wundbilder der Prellungen passen zusammen. Wir sehen Blutergüsse, die von Tritten oder von Stockschlägen stammen können."

Ein syrischer Flüchtling berichtet mir im Vertrauen aber auch von nächtlichen Schlägereien im Zeltcamp und von Drogenproblemen. Nachts sei es hier im Zeltcamp von Velika Kladusa einfach nur gräßlich, überall seien Schreie zu hören, Marihuana werde gedealt und konsumiert, auch Kokain. Für unser Drehteam sind diese Aussagen schwer zu überprüfen, wir sind keine verdeckten Ermittler, sondern offen mit Tontechniker und Kameramann unterwegs.

Andere Migranten beten bei Minusgraden, sie haben sich aus Latten und Plastikplanen eine Art Outdoor-Moschee zusammengezimmert. Auch die Zelte sind unbeheizt, eine humanitäre Notlage ist nicht mehr weit. Andererseits ist es nicht so, dass es immer noch keine Angebote der Behörden, der Hilfsorganisationen und der internationalen Staatengemeinschaft gäbe. Ein lokaler Unternehmer aus Velika Kladusa stellte sogar das Gebäude einer derzeit nicht genutzen Produktionsanlage als Übergangs- und Notwohnheim zur Verfügung. Etliche Migranten erklärten sich daraufhin bereit, vom kalten Acker umzuziehen in die Notlösung in der Miral-Fabrik.

Doch ein harter Kern der Migranten harrt weiter auf dem freien Feld aus. Wollen sie den internationalen Bildagenturen "dramatische Bilder" liefern und damit den "Druck" auf Kroatien und Europa erhöhen? Vielleicht ist diese Vermutung nicht ganz aus der Luft gegriffen, manche Migranten erklären im Hintergrundgespräch mit Euronews, ihrer Auffassung nach sollte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel Kroatien dazu bringen, "die Grenzen zu öffnen", schließlich sei Deutschland ja ein "großes und mächtiges Land". Derartige Hoffnungen seitens der Migranten zeugen von einer gewissen Naivität, möglicherweise auch von einer gewissen Unkenntnis nationaler und europäischer Entscheidungsprozesse.

Schockierende Zustände in Migrantenlagern

Muhammad aus dem Iran ist schockiert von den Zuständen in dem Zeltlager bei Velika Kladusa. Die Reise zu seiner Schwester nach Norwegen hatte er sich irgendwie einfacher vorgestellt. Der Student Muhammad, sein Cousin und dessen Familie nutzten als einige der allerletzten die Gelegenheit, von Teheran ohne Visum nach Belgrad fliegen zu können (auf Druck der EU gibt es diese Möglichkeit nun nicht mehr). In Serbien suchten sich die iranischen Migranten einen Schleuser und zogen weiter Richtung Westen. Nun, vor Ort in Bosnien direkt an der kroatischen Grenze, ist Muhammad klargeworden: Über die EU-Grenze kommt er hier nicht. Und den Winter in Bosnien-Herzegowina herumhängen möchte er auch nicht. Muhammad will wieder nach Hause:

"Wir wurden betrogen, von einem dieser Schleuser. Egal, ich persönlich will wieder zurück in den Iran, damit ich weiter studieren kann. Ich war überrascht, wie viele Menschen hier an der Grenze sind. Dort drüben ist ein extrem schmutziger Bereich. Hier kann man nicht leben, noch nicht mal eine einzige Stunde lang. Doch einige der Leute sind hier schon seit drei oder vier Monaten. Für mich ist das völlig unvorstellbar. Derzeit bin ich dabei, meinen Cousin davon zu überzeugen, dass es besser wäre, zurück in unser Heimatland zu gehen, in den Iran."

Anfang des Jahres schlug den Migranten auf ihrem Weg quer durch Bosnien-Herzegowina überwiegend Wohlwollen entgegen. Doch angesichts der steigenden Zahlen lehnen mehr und mehr Bosnier die Transitgäste ab. In den vergangenen Wochen kam es zu mehreren Protestdemonstrationen. In Velika Kladusa gingen Geschäftsleute auf die Straße, die einwöchige Grenzblockade und die damit einhergehende achttägige offizielle Grenzschließung an diesem Grenzübergang kostete die Unternehmer hier am Ort sechs bis acht Millionen Euro. Sie sind auf offene Grenzen und den weitgehend freien Warenverkehr mit der EU angewiesen.

Nun, wo es so aussieht, dass über den Winter auch einige der Migrantenkinder bosnische Schulen besuchen sollen, protestieren sogar vermehrt Eltern, die nicht möchten, dass ihre Kinder gemeinsam mit Migrantenkindern die Schulbank drücken. Kurz, man hat zunehmend den Eindruck, dass die Stimmung am Kippen ist.

Asim Latic hingegen will helfen. Seit Monaten kocht er für Migranten. Und er ist mit seiner Hilfsinitiative nicht alleine. Heute gibt es Bohnen mit Rindfleisch:

"In den vergangenen neun Monaten haben wir täglich 400 bis 500 Mahlzeiten serviert, insgesamt über 130.000 Mahlzeiten. Wir sind ein Team aus fünf bosnischen Kriegsveteranen. Wir können uns noch gut an die vier Kriegsjahre erinnern, die wir durchgemacht haben, als wir selber hungrig und durstig waren. Deshalb können wir nachempfinden, was diese Menschen hier fühlen und deshalb haben wir uns auch entschlossen, ihnen zu helfen. Die haben dieselben Probleme, die wir damals hatten", sagt Asim Latic.

Der tödliche Weg nach Europa

Unterwegs im Regen Richtung Europa. Nur noch wenige Kilometer und die Migranten werden die Landstraße verlassen und auf einen der gefährlichsten Bergpfade der Welt einbiegen: Erdrutsche töteten bereits mehrere Migranten in diesem Jahr. Und: Hier im bosnisch-kroatischen Grenzgebiet liegen noch unzählige Landminen. Der örtliche Chef der bosnischen Bergwacht berichtet mir von einem Alarm im Morgengrauen:

"Die Migranten benutzen diesen gefährlichen Bergpfad, weil sie glauben, dass sie dort niemanden treffen, vor allem keine Polizisten und es so nach Kroatien schaffen. Wir verstehen nicht, warum sie dabei so ein großes Risiko für ihr Leben eingehen", sagt Ermin Lipovic. "Vor drei Monaten hatten wir einen dramatischen Rettungseinsatz, weil ein Migrant sich da oben im Pljesevica-Massiv nachts verlaufen hatte. Früh am Morgen entdeckte er dann, dass er in einem Minenfeld war: Überall sah er nur noch Warntafeln. Dann hat er Hilfe herbeitelefoniert und mein Team von der Bergrettung ist da hoch. Das war ganz schön riskant, selbst für uns. Zusammen mit anderen Rettungskräften von der Polizei in Bihac haben wir es geschafft, ihn da lebend und ohne Verletzungen aus dem Minenfeld herauszuholen."

Seit dem Jugoslawienkrieg liegen dort Minen. Regen und Erdrutsche verschieben die tödlichen Fallen. Niemand weiß genau, wo sie heute liegen.

Eine Familie ist am Rande des Minenfeldes angelangt. Noch zögern sie, die sichere Straße zu verlassen...

INSIDERS | The Western Balkans Route - Part 5
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