Chemnitz: "Rechte und Grüne legen zu bei den Europawahlen"

Chemnitz: "Rechte und Grüne legen zu bei den Europawahlen"
Copyright 
Von Sophie ClaudetAyman Oghanna
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button
Den Link zum Einbetten des Videos kopierenCopy to clipboardCopied

Die sächsische Stadt kämpft um ihren Ruf. Dabei ist sie gespalten wie andere Orte in Deutschland und steht beispielhaft für das Bröckeln der politischen Mitte.

Seit vergangenen August bekommt die sächsische Stadt Chemnitz mehr Aufmerksamkeit als ihr lieb ist. Damals gab es nach einer tödlichen Messerstecherei, bei der der Täter ein Asylsuchender war, tagelange Ausschreitungen von rechten Gruppierungen und wütenden Bürgern. Das brachte Chemnitz den Ruf einer rechten Stadt ein. Euronews-Reporter Ayman Oghanna recherchierte eine Woche lang vor Ort, sprach mit Bürgern, Opfern von Gewalttaten und begleitete AfD-Politiker auf ihrem Wahlkampf. Über seine Erlebnisse sprach er mit seiner Kollegin Sophie Claudet.

Sophie Claudet, euronews:"Ayman als Sie in Chemnitz waren, gab es keine Unruhen oder Gewalt, weit entfernt von dem, was wir im vergangenen August gesehen haben. Also herrscht wieder Normalzustand?"

Ayman Oghanna, euronews: "Nicht ganz. Auf den Straßen geht es zwar ruhiger zu, aber es gibt Fälle, in denen die extreme Rechte in Chemnitz ziemlich stark in Erscheinung tritt - Hassverbrechen zum Beispiel nehmen in Chemnitz im Besonderen und in Sachsen im Allgemeinen zu. Und Gruppen wie die Ultras des Chemnitzer Fußballvereins sind bekanntermaßen mit Neonazis verflochten und zeigen sich mutiger in ihrer Ausdrucksweise. Auf der anderen Seite sind viele Menschen es leid, dass Chemnitz den Ruf einer rechten Stadt hat, und man kann mit gutem Recht sagen, dass die Mehrheit der Menschen dort keine Anhänger der extremen Rechten sind.

Unbestreitbar ist jedoch, dass mit dem Aufstieg der AfD in den vergangenen drei Jahren auch die Dreistigkeit rechtsextremer Gruppen gewachsen ist, wie auch die Öffnung des politischen Diskurses für fremdenfeindliche Ideen, Ideen über Nationalismus, über Heimat, über Vaterland, was bis vor kurzem tabu war.
Ayman Oghanna
Euronews-Journalist

Sophie Claudet:"Ermöglicht oder unterstützt die AfD, eine rechtspopulistische Partei Deutschlands, jetzt die Zusammenarbeit mit extremistischen neonazistischen Gruppen?"

Ayman Oghanna: "Der AfD wird oft vorgeworfen, Verbindungen zu Neonazis zu haben. Das ist etwas, was sie vehement leugnet. Unbestreitbar ist jedoch, dass mit dem Aufstieg der AfD in den vergangenen drei Jahren auch die Dreistigkeit rechtsextremer Gruppen gewachsen ist, wie auch die Öffnung des politischen Diskurses für fremdenfeindliche Ideen, Ideen über Nationalismus, über Heimat, über Vaterland, was bis vor kurzem tabu war. Meiner Meinung nach hat sich das politische Zentrum ein wenig nach rechts verlagert."

Sophie Claudet: "Aber geschieht das nicht auch in anderen westlichen Demokratien besonders in Osteuropa?"

Ayman Oghanna:"Sicher, die Rechten sind in ganz Europa auf dem Vormarsch. Aber in Deutschland ist es eine besondere Lage und alarmierend, aufgrund der dunklen Geschichte des Landes mit dem Faschismus und auch aufgrund seiner dominanten Position auf dem Kontinent."

Verschiedene Sichtweisen auf das Deutschsein

Sophie Claudet:"Es gibt einen Ihrer Protagonisten, der sagt, dass es in Ostdeutschland und Westdeutschland historisch unterschiedliche Sichtweisen auf das Deutschsein gibt. Dass es in Ordnung ist, stolz darauf zu sein, Deutsch zu sein, eine nationalistische Einstellung zu Deutschland zu haben. Kann man auch sagen, dass die Rechte und die rechtsextreme Szene in Ostdeutschland stärker vertreten sind als in Westdeutschland?"

Ayman Oghanna:"Auf jeden Fall. Die Zahlen belegen es. Die AfD und ähnlich ausgerichtete Parteien liegen in Umfragen im Osten viel höher als im Westen. Warum der Osten rechter ist als der Westen? Dafür gibt es viele Gründe. Wirtschaftlich gesehen war der Osten weitaus weniger wohlhabend als der Westen. Eine Idee, die ich faszinierend finde, ist jedoch diese Idee einer Krise der Männlichkeit und männlichen Identität im Osten. Nach dem Fall der Berliner Mauer verlor Ostdeutschland zehn Prozent seiner Bevölkerung, zwei Drittel davon waren Frauen, die für die Arbeit in den Westen gingen und buchstäblich alles hinter sich ließen, und metaphorisch gesehen viele wütende weiße Männer, die im neuen Deutschland nicht wirklich einen Platz finden."

Sophie Claudet:  _"Sind das also Fälle von wild gewordenen Testosteron-Ausbrüchen in Ostdeutschland?"

_

Ayman Oghanna: _"So einfach ist es glaube ich nicht. Die Antwort ist meiner Meinung nach vielschichtiger. Aber ein Teil des Puzzles könnte der Platz des ostdeutschen Mannes in der deutschen Gesellschaft sein."
_

Kommunismus förderte Frauen

Sophie Claudet:"Wenn Frauen - zumindest einige - nach Westdeutschland zogen, warum folgten die Männer nicht ihrem Beispiel?"

Ayman Oghanna:"Der Kommunismus war ziemlich erfolgreich bei der Schaffung einer breiten Klasse unabhängiger, emanzipierter Frauen, die oft besser ausgebildet waren als die Männer und es einfacher fanden, im Westen Arbeit zu finden, als die ostdeutschen männlichen Arbeiter, die sie zurückgelassen hatten."

Sophie Claudet:"Ganz kurze Antwort bitte: Wird die AfD bei den Europawahlen weiter an Stimmen gewinnen?"

Ayman Oghanna:"Ich glaube, das werden sie. Aber man sollte nicht übersehen, dass nicht nur sie Zulauf haben. Ich war in Chemnitz überrascht, wie viele Anhänger der Grünen und grüne Aktivisten ich getroffen habe, und obwohl es stimmt, dass die politische Mitte Deutschlands bröckelt, gewinnt nicht nur die extreme Rechte. Auch Parteien wie die Grünen gewinnen an Unterstützung."

Sophie Claudet:"Das werden wir bald herausfinden, oder?"

Ayman Oghanna:  "Wir werden sehen."

Journalist • Sophie Claudet

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Besser spät als nie? Merkel stellt sich Kritikern in Chemnitz

Hat Frankreich aus den Terroranschlägen von 2015 seine Lehren gezogen?

Deutschland im Energie-Wahlkampf: Wo weht der Wind des Wandels?