Filippo Grandi: "Von der Flüchtlingshilfe profitieren wir alle"

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Von Anelise Borges
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Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge fürchtet auf lange Sicht ein sozial-wirtschaftliches Problem, das sich schlimmer auswirken kann als das Gesundheitsproblem.

Die Coronavirus-Pandemie verändert unseren Alltag auf bisher ungeahnte Weise. Aber für einige Menschen hat sich nichts geändert - Flüchtlinge fliehen weiterhin vor Krieg und Verfolgung. Und viele enden in überfüllten Flüchtlingslagern, in denen es an vielem mangelt, von angemessenen Unterkünften bis hin zum Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen. Oft leiden sie an Kälte, Feuchtigkeit, Stress und Müdigkeit - angesichts der Covid-19 -Epidemie ist ihre Situation eine tickende Zeitbombe. Kann diese Katastrophe vermieden werden? Und wie kann sie vermieden werden? Darüber spreche ich mit meinem heutigen Gast, dem UN-Hochkommissar für Flüchtlinge Filippo Grandi. Herr Grandi, vielen Dank, dass Sie unser Gast bei euronews sind.

Euronews-Reporterin Anelise Borges:
Nach Angaben Ihrer Organisation flieht alle zwei Sekunden ein Mensch aus seiner Heimat, d.h. am Ende dieses Interviews werden mehr als 240 Menschen auf der ganzen Welt gewaltsam vertrieben worden sein. Einige werden in Flüchtlingslagern landen, in denen schreckliche Bedingungen herrschen. Bisher gab es in diesen Lagern noch keine größeren Ausbrüche von Covid-19. Welche Maßnahmen gibt es? Was können Sie tun, um das Schlimmste zu verhindern?
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Filippo Grandi, UN-Hochkommissar für Flüchtlinge:**

Wir versuchen, so gut wie möglich vorbereitet zu sein. Wir haben die Regierungen gebeten, sich auch der Flüchtlinge anzunehmen. Offensichtlich tun sie das, weil es im Interesse aller liegt, die gesamte Bevölkerung einschließlich der Flüchtlinge in die Maßnahmen miteinzubeziehen. Und wir helfen uns selbst mit unseren Partnern, den NGOs und anderen Organisationen der Vereinten Nationen aus den Bereichen Gesundheit, Wasserversorgung und sanitäre Einrichtungen - äußerst wichtig - sowie der Kommunikation. Wir haben selbst hier in Europa gelernt, wie wichtig es ist, jeden Tag auf die Mitteilungen der Behörden zu hören: Wie wir uns verhalten sollen, welche Sperren zu beachten, welche Regeln einzuhalten sind. Wir müssen dasselbe mit diesen Bevölkerungsgruppen tun. Und dann müssen wir Geld bereitstellen, denn es gibt noch ein anderes wichtiges Phänomen: Viele dieser Menschen leben von sehr kleinen Einkommen, Minijobs. Und viele dieser Einkommen und Arbeitsplätze verschwinden in der gegenwärtigen Situation. Es gibt also ein sozial-wirtschaftliches Problem, das sich auf längere Sicht noch schlimmer auswirken kann als das Gesundheitsproblem.

_Noch ein Punkt, wenn Sie gestatten: Sie sagten, dass die meisten dieser Menschen in überfüllten Lagern leben. Nun, für einen guten Teil dieser Menschen stimmt das. Tatsache ist, dass 60 bis 70 Prozent der 70 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen auf der ganzen Welt tatsächlich in überfüllten, armen Gemeinden leben. Sowohl diese Menschen als auch die aufnehmenden Gemeinschaften sind dieser Pandemie ausgesetzt.
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Flüchtlinge: In ganz Europa ein umstrittenes Thema

Euronews:
Flüchtlinge sind in Europa ein umstrittenes Thema. Es wird oft dazu benutzt, um politische Debatten anzuheizen. Besonders in bestimmten Mitgliedstaaten, die die Hauptlast der Migrationskrise 2015 zu tragen hatten. Dort erklären die Behörden, sie könnten es nicht länger leisten, Flüchtlingen zu helfen. Die Situation verschlechtert sich. Gerade erleben wir, dass die Europäische Union zu überleben versucht - mit großen Volkswirtschaften, die am Rande des Zusammenbruchs stehen. Fürchten Sie, was als Nächstes passieren könnte? Welche Auswirkungen diese Krise auf die zukünftige Integration der Flüchtlinge in die Länder Europas haben könnte?

Filippo Grandi:
Ja, und ich fürchte noch mehr, dass die Hilfe, die ausländische Hilfe, die Unterstützung und Europa ist, wie Sie wissen, der größte Geber von humanitärer- und Entwicklungshilfe in der Welt - ich fürchte, dass das alles gefährdet sein könnte, auf lange Sicht.

Vielleicht nicht sofort, denn jeder versteht, dass es jetzt dringende humanitäre Bedürfnisse gibt. Aber in die Zukunft gedacht, wenn diese Pandemie hoffentlich hinter uns liegt. Man muss beispielsweise daran erinnern, dass die Stärkung der Gesundheitssysteme in armen Ländern nicht nur im Interesse dieser armen Länder liegt - ein Argument, das leider manchmal nur schwer greift -, sondern dass die Stärkung dieser Gesundheitssysteme für alle wichtig ist, für die Bürger, für die Flüchtlinge. Das liegt im Interesse der ganzen Welt. Denn aus einem schwachen Land kann die Pandemie wieder aufflammen.
Sie sehen also, dass die Hilfe nicht nur im Interesse der Empfänger, sondern im Interesse aller liegt. Und ich hoffe, dass der Druck, der auf den nationalen Haushalten lastet - weil die nationalen Volkswirtschaften so hohe Kosten haben werden, um auf die Coronakrise zu reagieren - ich hoffe, dass dieser Druck nicht zu einer Kürzung der humanitären Hilfe und der Entwicklungshilfe führt, von der auch die Flüchtlinge profitieren.

Weltweit werden Grenzen geschlossen

Euronews:
Italien hat gerade erklärt, dass die italienischen Häfen nicht mehr als sicher angesehen werden können und dass die Behörden Flüchtlingsboote der Hilfsorganisationen "während der gesamten Dauer des durch die Ausbreitung von COVID-19 verursachten nationalen Gesundheitsnotstandes" nicht anlegen lassen werden. Wie reagieren Sie auf die Entscheidung Italiens, seine Häfen zu schließen?

Filippo Grandi:
Das ist nicht nur in Italien ein Phänomen. Überall auf der Welt sind die Grenzen geschlossen worden - und ich verstehe, warum das so ist -, weil die Regierungen versuchen, die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen. Das ist sehr verständlich - und es ist wahrscheinlich an den meisten Orten tatsächlich notwendig.

Aber wir müssen vorsichtig sein, denn Grenzschließungen sowie das Verhindern des Anlandens von Bootsflüchtlingen verstoßen gegen das grundlegende Prinzip des Schutzes von Personen, die diesen Schutz benötigen.Sie fliehen vor Krieg und Verfolgung - Dinge, die leider auch während der Pandemie nicht aufhören.
Unsere Botschaft an die Regierungen ist, dass es zuallererst Möglichkeiten gibt, die Asylpraxis auch unter diesen Umständen aufrechtzuerhalten. Und wir haben den Regierungen viele technische Ratschläge dazu gegeben, durch Quarantänesysteme, durch virtuelle Befragungen von Menschen - es ist also möglich. Muss man die Asylpraxis aussetzen, ist es wichtig, dass das nur für einen begrenzten Zeitraum gilt. Diese Maßnahmen sollten nur für die Dauer der Krise gelten. Aber sobald die Krise vorbei ist, müssen wir zu normalen Flüchtlingsschutzpraktiken zurückkehren - denn wenn diese Praxis nach dem Krisenende bestehen bleibt, dann wird es zu einer ernsten Menschenrechtssituation kommen.

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