Gerangel um den Kohleaustieg: Dörfer bleiben bedroht

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Von Hans von der BrelieSabine Sans
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Der Konflikt um die Kohle spitzt sich in Deutschland wieder zu. Euronews-Reporter Hans von der Brelie besuchte Lützerath. Er sprach vor Ort am Tagebau Garzweiler II mit betroffenen Anwohnern und Aktivisten.

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Illegale Blockade von Schaufelradbaggern, lautstarke Demonstrationen gegen Braunkohleverstromung, Hunderte Aktivisten, die in den Wäldern am Tagebaurand Baumhäuser bauen und ein Protestcamp errichten. Der Konflikt um die Kohle spitzt sich erneut zu in Deutschland. Euronews schickte seinen Reporter Hans von der Brelie nach Lützerath, um sich vor Ort am Tagebau Garzweiler II umzusehen.

Da stehe ich also erneut vor diesem Tagebau im Rheinland, Braunkohle bis zum Horizont, soweit das Auge reicht. Und wieder denke ich: Wie wunderschön das aussieht! Die im frühen Morgenlicht schimmernden Erdtöne der Deckschicht, die tausend Farbabstufungen von Ocker bis hin zu Braungrau, Schwarz… Eine tödliche Schönheit geht mir durch den Kopf. Werden sie aus dem Boden geholt, diese viele Hundert Millionen Tonnen Braunkohle, und verbrannt, dann wird Deutschland sein Klimaziel nicht einhalten. Die Klimakrise ist real, sie findet bereits statt, hier und heute, auch in Deutschland: Dürresommer, Starkregen, Dörfer unter Wasser.

Dass ich heute bei Sonnenaufgang am Rand von Garzweiler II stehe, einem der größten Braunkohlelöcher der Welt, ist kein Zufall. Aus der Szene der Klimaschutzbewegung habe ich einen Insider-Tipp bekommen, dass an diesem Wochenende „etwas geplant“ sei. Details: keine. Alles top-secret. Spannung!

Der Zeitpunkt passt: In Berlin finden Sondierungsgespräche statt in Sachen Regierungskoalition, Klima und Kohle stehen oben auf der Problemliste. Und es sind nur noch wenige Tage bis zu Beginn der internationalen Klimakonferenz COP26 in Glasgow. – Auf einmal sind in der kühlen Morgenluft Polizeisirenen zu hören, wenig später Hubschrauberrotoren. Über den chiffrierten Kurznachrichtendienst Telegram bekomme ich ein Update: Ein Bagger und zwei Absetzer sind blockiert.

Zur Einordnung: Garzweiler I, der historische Teil der Grube, hat eine Fläche von rund 66 Quadratkilometern - und die Rekultivierung bzw. die Baumpflanzung hat begonnen und ist im Gange. Garzweiler II, das aktuelle Abbaugebiet, hat derzeit eine Fläche von rund 48 Quadratkilometern. Wenn man GI und G2II zusammenzählt, kommt man auf etwa 114 Quadratkilometer.

Aktionen gegen den Kohleabbau

Eine bisher unbekannte Gruppe namens "Gegenangriff – für das Gute Leben" hat sich im Schutz der Dunkelheit in den Tagebau geschlichen. Dort teilen sich die 21 Aktivisten in drei Gruppen auf, mitten in der Grube bringen sie die riesigen Maschinen zum Stehen. Einige der Aktivisten ketten sich weit oben in den hochhausgroßen Geräten an.

Ich treffe mich mit Lara und Sarah im Protestcamp bei Lützeratz; nach einem vertraulichen Gespräch unter sechs Augen erklären sich die UnterstützerInnen bereit, mir über eine geheim gehaltene Nummer ein direktes Gespräch mit den Bagger-Besetzern im Tagebauloch zu ermöglichen. "Krasse Gefühle", erzählt mir die Stimme von da draußen, "es ist halt nicht so einfach, in eine Kohlegrube zu gehen und dort Bagger zu blockieren." Was sie genau mit ihrer Aktion erreichen wollen, will ich wissen. "Unsere Forderung ist ein schnellstmöglicher Kohleausstieg. Es kann nicht sein, dass der Kohleausstieg erst bis 2038 geplant ist – und noch Dörfer wie Lützerath abgebaggert werden sollen."

Ich muss an die Kohlegruben denken, die ich Laufe meiner Berufsjahre als Reporter besucht habe, in Deutschland, Rumänien, Polen, erinnere mich an meine Gespräche mit Kohlekumpeln, Gewerkschaftsbossen, Ministern in Mittel- und Osteuropa. Immer wieder tauchte das Argument auf: Warum sollen wir aus der Kohle aussteigen, jetzt schon, wenn es noch nicht einmal das reiche Deutschland schafft, vor 2038 Schluss zu machen mit dem Klimakiller Kohle?

Schneckentempo beim Kohleausstieg verzögert Energiewende

Durch das Schneckentempo in Sachen Kohleausstieg verzögerte Deutschland die europäische Energiewende. Wird sich daran jetzt etwas ändern, unter der noch zu findenden neuen Bundesregierung? Die Kohlelobby unterhält engste Beziehungen sowohl zur SPD, wie auch zu konservativen Politikern aus CDU/CSU. Während die Grünen im Bundestagswahlkampf auf einen früheren Kohleausstieg drängten, pochten die Sozialdemokraten öffentlich auf 2038 als Ausstiegsdatum. Doch nun, in einem Sondierungspapier von SPD, FDP und Grünen, taucht das Datum 2030 auf. Ein Hoffnungsschimmer für das Erdklima, für das deutsche Klimaziel, für die Dörfer über den Braunkohlereserven von Garzweiler?

Lützerath ist eines der sechs vom Tagebau Garzweiler II bedrohten Dörfer. Gelbe Kreuze, das Symbol der Kohlegegner, zeigen mir den Weg zum Protestcamp. Hunderte Menschen haben sich hier versammelt; ein Bauer – Eckhardt Heukamp – hat die große Wiese hinter seinem historischen Backsteinbauernhof zur Verfügung gestellt. Heukamp will bleiben, vier Generationen seiner Familie lebten und schufteten hier, bauten Feldfrüchte an. Jetzt hofft er, auf dem Klageweg gegen den globalen Energieriesen RWE gewinnen, seine Enteignung doch noch abwenden zu können. Eine Illusion? Wie ein Riegel liegt Lützerath zwischen den Baggern und der Braunkohle.

Geschäftigkeit im Protestcamp

Im Protestcamp herrscht emsige Geschäftigkeit. "Nee, hier kannst Du nicht filmen", klären mich einige Vermummte auf, die an beeindruckend großen Straßenblockaden arbeiten, scharfe Metallkanten sollen wohl Polizeireifen zum Platzen bringen, falls es eines Tages zur Räumung kommen sollte. Einige Meter weiter, beim Malertrupp, werde ich freundlicher empfangen. Mit grellgelber Farbe pinseln junge Frauen und Männer Protestparolen auf Stämme und Platten. Auch oben in den Bäumen rings um die Lichtung wird gearbeitet, es entsteht eine Baumhaussiedlung.

Tristesse der Hoffnungslosigkeit

Die meisten der ortsansässigen Bewohner haben Lützerath bereits verlassen, ihr Haus verkauft – oder einer Umsiedlung zugestimmt. Auch im benachbarten Keyenberg spüre und sehe ich die Tristesse der Hoffnungslosigkeit: gähnende Leere in der Wursttheke des Metzgermeisters, heruntergelassene Rollläden, zugemauerte Fenster, verrammelte Türen, Leerstand, Dörfer in Agonie. Das Bistum hat der Entwidmung der historischen Backsteinkirche von Keyenberg bereits zugestimmt, vor wenigen Tagen wurden die Glocken ausgebaut.

Ich habe mich im nahegelegenen Kuckum mit der Familie Dresen verabredet. Auch ihr Dorf steht auf der Liste der vom Abriss bedrohten Orte. Doch die Dresens wollen den vom Großvater geerbten Bauernhof nicht aufgeben. Mit anderen Ortsansässigen haben sie den Verein "Alle Dörfer bleiben" gegründet. Sie organisieren Demonstrationen und öffentlichkeitswirksame Protestveranstaltungen. Zu Hause am Tisch im Wintergarten bekomme ich erstmal eine Tasse Kaffee. Katze, Hühner, Pferd, ein gepflegtes Haus – die Dresens sind keine linksradikalen Revoluzzer, sondern gewissermaßen "Otto Normalverbraucher". Aber auch sie wollen sich nicht einfach so vertreiben lassen aus ihrer angestammten Heimat. "Warum soll ich mir von einem Gericht sagen lassen, enteignet zu werden", fragt Marita Dresen, "sozusagen zum Wohle der Allgemeinheit: um klimaschädliche Braunkohle abzubauen? Mitten in einer Klimakrise?"

Wie wohl die Menschen denken, die einer Umsiedlung zugestimmt haben, frage ich mich, als ich in Richtung Neu-Immerath fahre, einer Neubausiedlung, die nach der Zerstörung des vor knapp 900 Jahren gegründeten Ortes Immerath errichtet wurde. Die historische Windmühle, der bekannte Zwillingsturm des Immerather Doms, alte Gehöfte, Heimat für 1.200 Menschen, all dies fiel der Braunkohle zum Opfer.

Doch Neu-Immerath sieht auch nicht schlecht aus, keine Retortensiedlung, sondern ein gepflegtes Wohndorf mit Kirchplatz, gewundenen Straßen, vielen jungen Familien, einem funktionierenden Vereinswesen. Nicht alle, die hier wohnen, sind Braunkohle-Umsiedler, viele Menschen sind von anderswo aus der Gegend zugezogen, das Bauland ist billig. "Kohleausstieg so spät wie möglich", sagt breit lächelnd einer der Neu-Immerather, den ich auf der Straße anspreche. Stephan Nellen macht mir klar, dass immer noch viele Arbeitsplätze an der Kohle hängen, "und meiner Meinung nach", so Nellen weiter, "brauchen wir die Verstromung von Braunkohle immer noch, ehe wir so weit sind, mit ökologischer Energie weiterzukommen."

Eine Straße weiter sehe ich einen jungen Vater mit seiner kleinen Tochter auf einem Garagendach werkeln. "Kohle weg – und was dann?", fragt Johannes Ermisch, als ich ihn nach seiner Meinung zum Kohleausstieg frage. "Nur aus Windrädern können wir unsere Haushalte nicht mit Strom speisen", glaubt Ermisch zu wissen. "Wenn man dann auch noch Elektroautos aus der Steckdose laden soll, klappt das nicht", so Neu-Immerather Ermisch.

Doch andere Dorfbewohner sind damit nicht einverstanden, verweisen auf die rapiden Fortschritte bei der Weiterentwicklung der erneuerbaren Energien, sagen "Wir schaffen das" – und meinen damit Deutschlands Energiewende. Gewissermaßen teilt sich die Gemeinde in Optimisten, Menschen die an die Machbarkeit eines raschen Ausbaus von Wind- und Sonnenenergie glauben, und Pessimisten, Menschen, die den Glauben an die Erneuerbaren als Traumtänzerei einstufen. Mein Eindruck nach diesem Besuch in der Siedlung: Neu-Immerath ist gespalten, so wie das Ruhrgebiet, das Bundesland Nordrhein-Westfalen, so wie Deutschland.

Die Klimaschützer jedenfalls geben so rasch nicht auf. In den Tagen und Wochen vor dem Klimagipfel COP26 fahren die Aktivisten großes Geschütz auf: Baggerblockaden, Baumhausdörfer, Konzerte direkt an der Abbruchkante, Demonstrationen im Wochentakt - neulich war sogar Greta in Lützerath! DIE Greta. Und Greenpeace hat eine Unterschriftenaktion gestartet, fordert ein Abbaumoratorium.

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An RWE ging die Kohledebatte der vergangenen Jahre nicht spurlos vorbei. Bereits der Kohlekompromiss mit Ausstiegsdatum 2038 führte zur Ankündigung von Kraftwerksschließungen und Stellenabbau. Von der Regierung erhält das Unternehmen Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe. Zwar sollen über eine Milliarde Tonne Braunkohle in der Erde bleiben, so RWE, vor allem bei Inden und Hambach werden Abstriche gemacht. Doch Garzweiler II will RWE weiter ausbauen. Zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit benötige man die Braunkohle unter den betroffenen Dörfern bereits ab 2024, heißt es in einer Pressemitteilung des Konzerns.

Ob da im letzten Moment doch noch die Politik eingreift?

Cutter • Francois Rudolf

Weitere Quellen • MoJo-Kamera: Hans von der Brelie; Drohnen-Pilot: Eric Deyerler; Dank an: Gegenangriff für das Gute Leben; Sound-Mix: Thibaud Pick; Produktion: Géraldine Mouquet; Produktionsleitung: Sophie Claudet

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