Der Krieg hat Europa gezwungen, die Welt mit anderen Augen zu sehen

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Von Sándor Zsiros
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Der bulgarische Politologe ist Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Er spricht mit euronews-Reporter Sándor Zsiros über die Folgen von Putins Angriffskrieg.

Ein Jahr nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat der Krieg Europa stark verändert. In Wien ist der Politikwissenschaftler und Schriftsteller Ivan Krastev zu Gast in unserer Sendung The Global Conversation. Er spricht mit euronews-Reporter Sándor Zsiros über die Folgen von Putins Angriffskrieg.

Euronews: Wie hat der Krieg Europa verändert?

"Europa wurde gezwungen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Das ist der wichtigste Punkt, wie der Krieg Europa verändert hat. Europa sah sich als Nachkriegskontinent."
Ivan Krastev

Ivan Krastev: Europa wurde gezwungen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Das ist der wichtigste Punkt, wie der Krieg Europa verändert hat. Europa sah sich als Nachkriegskontinent. Die Vorstellung, dass ein großer Krieg in Europa nicht mehr möglich sei, war die Grundlage für die Art und Weise, wie Europa sich selbst in der Welt sieht. Und das stimmt nicht mehr.

Euronews: Was heißt das in der Realität und in der Geopolitik?

Ivan Krastev: Als der Krieg begann, waren die Europäer gezwungen, ihre wichtigsten Politikstrategien zu überdenken. Eine davon war, dass wirtschaftliche Beziehungen automatisch keinen Krieg bedeutet, dass man, wenn man mit jemandem Handel treibt, niemals gegen ihn kämpfen wird. Es stellte sich heraus, dass das nicht mehr stimmt. Zweitens hatten wir Europäer die Überzeugung, dass militärische Macht keine Rolle spielt. Dann haben wir entdeckt, dass es keine Rolle spielt, wenn man sie nicht hat. Aber sie ist wichtig. Und das hat alles verändert, den Militärhaushalt, die Art und Weise, wie die Wirtschaft funktioniert, sodass wir innerhalb eines Jahres einen völlig anderen Militärhaushalt haben. Wir bekommen kein russisches Gas und Öl mehr. Das ist eine radikale Veränderung.

Euronews: Ist die Situation in der Ukraine, ein Krieg der Zivilisationen oder ein traditioneller Krieg um Territorien?

Ivan Krastev: Es ist ein Identitätskrieg. Dieser Krieg ist ein Identitätskrieg, weil er so erklärt wurde. Vergessen Sie nicht, dass der Krieg mit dem Vortrag begann, den Präsident Putin im Sommer 2021 selbst verfasste. Darin sagt er, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind. Er ist mit der Idee in die Ukraine eingefallen, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind. Und die Ukrainer kämpfen gegen diese Vorstellung.

Euronews: Und was ist mit Russlands Argument, dass die westliche Orientierung der Ukraine eine Gefahr für sie darstellt?

Ivan Krastev: Russland könnte ein legitimes Argument in puncto Sicherheitsinteressen haben. Es kann grundsätzlich argumentieren, wo Militärbasen sein sollten oder nicht. Aber das Problem war, dass Russland der Ukraine das Recht absprach, Teil des Westens zu sein. Wer gibt Russland das Recht, den Ukrainern vorzuschreiben, wie sie ihre eigene politische Identität definieren? Russland ist ein mächtiger Atomstaat. Die Ukraine war aus russischer Sicht eine Art Kleinstaat, ein Staat, der am Ende des Kalten Krieges beschlossen hatte, seine Atomwaffen aufzugeben. Zu glauben, dass die Ukraine eine große Bedrohung für Russland darstellt, ist also, sagen wir es mal so: übertrieben.

EU-Reaktion auf den Ukrainekrieg

Euronews: Wie beurteilen Sie die Reaktion der Europäischen Union auf diesen Krieg?

**Ivan Krastev:**Als der Krieg begann, war das ein Schock. Und ich glaube, dass genau dieser Schock, mit dem niemand gerechnet hatte, die Europäische Union dazu gebracht hat, Dinge zu tun, zu denen die europäischen Staats- und Regierungschefs noch in der Woche davor nicht bereit waren. Es war der Schock, der Krieg, der zu einem großen Teil die europäische Einigkeit in den ersten Wochen erklärt. Es erklärt auch, warum die europäische Öffentlichkeit, die ansonsten auf diesen Krieg nicht vorbereitet war, plötzlich ganz anders reagierte, als zumindest Präsident Putin es von ihr erwartet hatte.

Euronews: Die Europäische Union hat beschlossen, Waffenlieferungen an die Ukraine zu finanzieren. Sie nimmt Millionen Ukrainer auf. Man versucht, Russland wirtschaftlich zu isolieren. Ist das der richtige Weg?

Ivan Krastev: Welche Möglichkeiten hatten die Europäer? Zunächst einmal wollte man eine Eskalation verhindern. Normalerweise liefert man keine Waffen, weil man glaubt, dass das die Russen von einer Eskalation abhält. Das Ausmaß der Zerstörung der Ukraine durch die russischen Bombenangriffe ist auf dem Niveau von 1941, 1942. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich für die Europäer die Frage: Sollen wir für die russische Besetzung der Ukraine verantwortlich sein oder sollen wir den Ukrainern geben, was sie von uns verlangen? Was die Menschen tun oder nicht tun, hängt sehr stark davon ab, wie man das Schlachtfeld sieht. Zu Beginn des Krieges glaubten nur sehr wenige Europäer, dass die Ukraine Widerstand leisten und gewinnen kann. In dem Moment, in dem sich das änderte, waren die Europäer viel eher bereit, den Ukrainern Waffen zu geben, die sie sonst nicht gegeben hätten.

Euronews: Apropos Eskalation. Halten Sie es für möglich, dass sich die NATO mit Soldaten an den Kämpfen beteiligt, zum Beispiel auf dem Boden der Ukraine?

Ivan Krastev: Ich glaube, weder die westliche Öffentlichkeit noch westliche Staatschefs sind dazu bereit. Und zweitens würde ein Kriegs-Eintritt der NATO den Dritten Weltkrieg bedeuten. Ich glaube, weder auf russischer noch auf NATO-Seite hat man daran ein Interesse. Und man darf nicht vergessen, dass Amerikaner und Russen in ihrer Geschichte noch nie direkt gegeneinander gekämpft haben.

Euronews: Sprechen wir über Mitteleuropa. Es gab starke Reaktionen aus Polen, aus den baltischen Ländern und einen anderen Ansatz aus Ungarn. Wie wirkt sich dieser Krieg auf die Zukunft der mitteleuropäischen Zusammenarbeit aus?

Ivan Krastev: Dieser Krieg wurde für viele Osteuropäer, insbesondere für die Balten und die Polen, zu ihrem eigenen Krieg. Und es gab Meinungsumfragen, die zeigen, dass der Hauptunterschied zwischen Ost und West darin besteht, dass der Osten die Besatzung fürchtet und der Westen den Atomkrieg. Aber als Ergebnis dieses Krieges gibt es dieVisegrád-Gruppe im Grunde nicht mehr. Aus den vier Visegrád-Staaten wurden zwei plus eins plus eins. Auf der einen Seite steht Polen, für das es um seine eigene existenzielle Sicherheit geht. Und das ist nicht nur die Position der Regierung, sondern auch die der Opposition, der gesamten Gesellschaft. Die Position der ungarischen Regierung ist im Grunde: Das ist nicht unser Bier. Wir wollen damit nichts zu tun haben. Sie haben zwar die meisten Sanktionen unterstützt, aber letztendlich sehr deutlich gemacht, dass sie die gemeinsame Politik nicht unterstützen.

Euronews: Wie und wann könnte der Krieg enden?

Ivan Krastev: Kriege enden auf dem Schlachtfeld. Heutzutage weiß man, dass Kriege nur sehr selten mit Friedensverträgen enden. Das haben wir nach dem Ende des Kalten Krieges gelernt: Die meisten Kriege enden mit einer gewissen Erschöpfung und Verhandlungen, aber nicht mit einem Friedensvertrag. Unter diesem Gesichtspunkt weiß ich nicht, wann und wie er enden wird, aber ich weiß etwas sehr Wichtiges: Sowohl auf europäischer als auch auf amerikanischer Seite hat man das Problem, dass der Krieg so enden sollte, dass wir keine Angst haben müssen, dass er in fünf, sechs oder sieben Jahren wieder so beginnt, wie er nach der russischen Annexion der Krim wieder aufflammte.

Euronews: Die EU hat der Ukraine die Vollmitgliedschaft versprochen. Halten Sie dieses Versprechen für realistisch oder war das ein Fehler?

Ivan Krastev: Es ist nicht realistisch. Aber bei vielen Maßnahmen, die im vergangenen Jahr passiert sind, hätte ich - wenn Sie mich vor einem Jahr gefragt hätten, gesagt, es ist nicht realistisch. Die Europäische Union ist bereits so stark in die Ukraine involviert, dass es unrealistisch ist, dass die Beziehungen wieder so werden, wie sie waren. Wir werden also etwas Neues erleben. Und das Ergebnis wird sein, dass die Ukraine sich verändert, dass die Europäische Union sich verändert.

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