"Es sind unsere Jungs, unsere Männer" - Russen richten sich auf einen langen Krieg ein

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Von euronews
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Die Zahl der russischen Kriegsgegner ist konstant niedrig, die halbe Bevölkerung versucht, den Krieg zu ignorieren, und drei Viertel stehen zwar nicht hinter dem Krieg, aber hinter ihrem Miltär - vor allem, seit es in die Defensive gerät.

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Nicht gegen den Krieg: Das ist die Schlussfolgerung, die das in Russland ansässige Meinungsforschungsinstitut Levada Center fast anderthalb Jahre nach der umfassenden Invasion in der Ukraine über die öffentliche Meinung in dem Land gezogen hat. Die öffentliche Meinung in Russland hat mehrmals geschwankt, ist aber im Allgemeinen stabil geblieben, so der Direktor des Zentrums gegenüber Euronews.

Nach Angaben des Levada-Zentrums - das von den russischen Behörden als "ausländischer Agent" eingestuft wurde - unterstützen bis zu drei Viertel der Bevölkerung Wladimir Putins Vorgehen in der Ukraine entweder generell oder mit Vorbehalten. 

Auf die Frage "Unterstützen Sie persönlich das Vorgehen der russischen Streitkräfte in der Ukraine?" antworteten 43 Prozent mit "auf jeden Fall ja" und 33 Prozent mit "eher ja".

Laut Denis Wolkow, dem Direktor des Levada-Zentrums, besteht der Kern der "Falken" oder "Z-Patrioten" aus etwa 25 % der gesamten russischen Bevölkerung, die die Fortsetzung der Militäraktionen grundsätzlich unterstützen. Etwa 10 % wären sogar bereit, den Einsatz von Atomwaffen zu unterstützen.

Der Rest unterstützt zwar nicht den Krieg selbst gegen die Ukraine - oder den "kollektiven Westen" - aber sie sehen sich in einer Situation, in der der Krieg bereits begonnen hat und ihre Erziehung und gesellschaftlichen Traditionen es ihnen nicht erlauben, sich dagegen auszusprechen.

"Es ist einfach eine Konfliktsituation, denn es gibt "unsere Leute" und es gibt die "Fremden". Wir sind für unsere Jungs und gegen die Fremden. Das ist ganz einfach", so Denis Wolkov.

"Die Unterstützung für die russischen Truppen nimmt jetzt in der gesamten Gesellschaft zu", so Dr. Anna Matveeva, die am King's College in London forscht.

"Und es ist nicht verwunderlich, warum das so ist, denn selbst diejenigen, die anfangs dagegen waren, denken jetzt: 'Wir sind in die Schlacht gezogen, und jetzt ist die ukrainische Gegenoffensive im Gange, wir können jetzt nicht verlieren. Das sind unsere Männer, unsere Jungs, unsere Ehemänner. Auch wenn die Sache, für die sie kämpfen, falsch ist, so sind sie doch unsere Jungs, unsere Bürger. Also müssen wir sie unterstützen."

Wolkov zufolge gibt es drei Schlüsselfaktoren, die die öffentliche Stimmung in Russland beeinflussen.

1) Wirtschaft und Wohlstand

Im März 2022 gab es in Russland tatsächlich eine Art finanzielle Panik - aus Angst vor den verheerenden Auswirkungen der ausländischen Sanktionen. Doch die russische Führung hat es geschafft, die Lage zu stabilisieren.

Die Auswirkungen der Sanktionen, wie die Abwanderung großer Unternehmen und beispielsweise das Verschwinden vertrauter ausländischer Markengeschäfte, betrafen vor allem große Städte, aber nicht das ganze Land.

"Hier ist es wichtig zu verstehen, dass enorme Mittel aufgewendet wurden, um diese Stimmung zu unterstützen, um den Glauben zu fördern, dass die Situation im Allgemeinen stabil ist. Und für viele hat sich die Lage vielleicht nicht einmal verschlechtert."

Ende letzten Jahres wurden Zahlungen für die an den Kämpfen beteiligten Personen und ihre Familien, für Rentner und Familien mit Kindern organisiert. Der Mindestlohn wurde angehoben.

Und wenn im letzten Frühjahr das "sich um um die Regierung scharen, gegen den Westen", eine große Rolle gespielt hat, so wird jetzt die Unterstützung nur noch durch wirtschaftliche Faktoren aufrechterhalten, so der Direktor des Levada-Zentrums.

2) Die Lage an der Front

Einzelne Rückzüge und Niederlagen der russischen Armee wirken sich nicht ernsthaft auf die Stimmung aus, sagt Denis Wolkow, aber permanente Rückschläge "häufen sich".  Negativinformationen über die Zahl der gefallenen russischen Soldaten sind nicht öffentlich zugänglich, aber mit der Zeit könnte auch dieser Faktor große Auswirkungen haben.

3) Mobilisierung

Die vom Kreml für den Herbst 2022 angekündigte "Teilmobilisierung" hätte der Faktor sein können, der die öffentliche Meinung in Russland  negativ hätte beeinflussen können.

"In der Tat haben sich auf nationaler Ebene nicht so viele Menschen mobilisiert. Aber der soziale Effekt, die Resonanz war enorm", erklärt Dr. Matveeva. "Die Behörden haben im Nachhinein erkannt, dass eine Mobilisierung - außer im Extremfall - nicht durchgeführt werden sollte, weil sie zu einer Zunahme der sozialen Spannungen führt."

Kremlpropaganda

Die Propaganda des Kremls ist und bleibt ein wichtiger Faktor. Die russische Führung versucht ihr Bestes, sogar eigenen Fehlleistungen zu ihrem Vorteil zu nutzen.

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Die Rede ist von der massiven "Hilfe an der Front"-Bewegung im heutigen Russland - wenn Bürger alles sammeln und schicken, was die russischen Soldaten in der Ukraine brauchen, von Schuhen und Lebensmitteln bis hin zu Drohnen und Funkgeräten; das heißt, die russischen Bürger gleichen im Grunde genommen die Versorgungsengpässe aus, die sich aus den Entscheidungen der militärischen und politischen Führung des Landes ergeben haben.

"Natürlich schimpfen die Leute auf die Regierung und sagen, dass die Regierung sich als hilflos und desorganisiert erwiesen hat und in einem reichen Land den Menschen keine anständigen Schuhe geben kann, dann müssen die einfachen Leute solche Lücken ausgleichen. Für manche nimmt das Ganze also Züge eines solchen "Volkskriegs" an. Paradoxerweise bieten die Versäumnisse des Staates bei der Versorgung ein Feld für die Gesellschaft, in das Spiel einzugreifen", so Dr. Matveeva.

Anti-Kriegs-Stimmung

Experten schätzen die Zahl der Russen, die grundsätzlich gegen den Krieg sind, auf 20 % oder etwas weniger. In den letzten anderthalb Jahren sind diese Zahlen praktisch unverändert geblieben.

Im Februar und März 2022 waren die Antikriegsdemonstrationen in den großen russischen Städten unübersehbar, klangen aber schnell wieder ab. Im Herbst desselben Jahres kam es vor dem Hintergrund der "Teilmobilisierung" zu einer zweiten Welle von Demonstrationen und Protesten - dieses Mal vor allem in den nationalen Republiken. Diese waren jedoch bereits kleiner und weniger gut organisiert.

Matveeva zufolge werden pazifistisch gesinnte Russen nicht so sehr durch die Angst vor den Konsequenzen vom Protest abgehalten, sondern durch das Gefühl, dass Proteste sinnlos sind.

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"Sie leben in einer Gesellschaft, in der Proteste zu sehr greifbaren Strafen führen können, bis hin zu strafrechtlichen Konsequenzen. Hinzu kommen der Verlust des Arbeitsplatzes, Geldstrafen und Ächtung. Es gibt also sowohl Angst als auch das Gefühl, dass man durch Proteste nichts ändern kann, d.h. man setzt sich und seine Angehörigen einer großen Gefahr aus und kann sowieso nichts erreichen".

Gleichzeitig trägt der Kreml indirekt der öffentlichen Stimmung Rechnung. Nach Ansicht von Experten hat die im Herbst 2022 angekündigte "Teilmobilisierung" der russischen Führung eine "rote Linie" aufgezeigt, die nicht überschritten werden sollte.

"Ob die Bürger die Entscheidungsfindung durch ihr direktes Handeln beeinflussen können, ist eine andere Frage, aber die öffentliche Stimmung, die gesellschaftliche Unterstützung oder Nicht-Unterstützung - sie werden von den Behörden einkalkuliert, bis zu welcher Grenze man gehen kann. Diese Grenze ist ganz klar", sagt Dr. Matveeva.

Das gesellschaftliche Trauma

Der Einmarsch in die Ukraine war für viele eine schwere Prüfung.

"Die Menschen begannen, sich zurückzuziehen, um alltägliche und wirtschaftliche Probleme zu lösen. Das war einer der Mechanismen, um sich an die Geschehnisse anzupassen: sich einfach von den Nachrichten abzuschotten, denn es war und ist für viele sehr traumatisch, selbst für diejenigen, die den Krieg unterstützen. Und die Leute sagten uns: 'Seht mal, das ist unmöglich, mehr Angst ist nicht ertragbar, ihr müsst euch irgendwie davon entfernen, denn ihr könnt sowieso nichts tun'", so Wolkov.

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Infolgedessen ignorieren viele Russen den Krieg in der Ukraine - absichtlich oder unabsichtlich.

"Die Menschen sind bereit, damit zu leben, wenn sie nicht direkt davon betroffen sind", so Wolkov.

"Die Ereignisse in der Ukraine sind nicht im Zentrum dessen, worüber die Russen nachdenken und sich Sorgen machen. Es gibt vielleicht ein Viertel, ein Drittel der Bevölkerung, die die Ereignisse aufmerksam verfolgen. Aber im Allgemeinen überschatten andere Dinge - Karriere, Kinder, Chancen, Gesundheit, Unterhaltung - diese 'spezielle Militäroperation, wie die Behörden sie nennen'", so Dr. Matveeva.

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