Massenproteste in Serbien: Warum sind die Menschen so wütend?

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Von Hans von der BrelieSabine Sans
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Seit Anfang Mai gehen jedes Wochenende Zehntausende in Serbien auf die Straße: Es sind die größten Massenproteste seit dem Ende des Milošević-Regimes. Auslöser war eine Schul-Schießerei, jetzt richtet sich die Wut der Menschen gegen die Regierung.

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Ein Meer an Menschen, so weit das Auge reicht! Seit Anfang Mai gehen in Belgrad, aber auch in anderen Städten Serbiens, jede Woche viele zehntausende Bürger auf die Straße. Auf Bluse oder T-Shirt stecken kleine Geier-Buttons! Es sind dies die größten Massenproteste seit dem Sturz von Slobodan Milošević. Warum protestieren die Menschen? Und was hat es auf sich mit den Geier-Buttons? Eine Recherche unseres Reporters Hans von der Brelie für Euronews Witness.

Die Belgrad-Variationen könnte man die Massenproteste in der serbischen Hauptstadt auch nennen: Die Ziele der Demos variieren, von Woche zu Woche verschiebt sich der Schwerpunkt der Forderungen und die jeweilige Richtung der Marschsäulen. Doch das Grundmotiv bleibt und ist im rhythmischen Rufen laut und deutlich zu hören: Vučić weg!, skandiert die Menge. Vučić – das ist der Präsident der Republik Serbien. Die Menge – das sind, bunt gemischt, Bildungsbürger und Büroleute, Arbeiter und Angestellte, junge Familien und Freundeskreise, Studenten und Städter, Malocher, deren Gesichtern und Händen man harte Arbeit und lange Schichten ansieht, hier und da laufen auch einige Landwirte mit.

Auf den Straßen protestiert, stark vereinfacht formuliert, das tendenziell europafreundliche Serbien gegen die seit einem Dutzend Jahren regierende Elite, es protestieren die Menschen, die endlich in die EU wollen, die ihr Land nicht länger abgehängt sehen wollen von gesellschaftlichem Fortschritt, wirtschaftlichem Wachstum und europäischen Zukunftsaussichten. Serben und Serbinnen, die genug haben von Korruption und Kriminalität, vom immer wieder aufgewärmten Kosovo-Konflikt und latenter Kriegsrhetorik, genug von einem Leben in einem "Klima der Gewalt und der Angst", auch dies ein Grundmotiv dieser wöchentlichen Proteste.

Zwar will Serbien auch unter Vučić offiziell immer noch der EU beitreten, doch seit einigen Monaten glauben immer weniger Bürger des Landes ihrem Staatspräsidenten, dass er es ernst damit meint. Mit Wut im Bauch und einem sehr konkreten Forderungskatalog im Gepäck variiert die Menge jedes Wochenende ihr Protest-Ritual: Mal wälzt sich der breite Strom der Zehntausenden vom Parlament zum Amtssitz des Präsidenten, ein anderes Mal bewegen sich die Massen zum staatlichen Sender, mit dem Ruf nach Medienvielfalt und Pressefreiheit auf den Lippen.

Auslöser der Proteste war ein Schulmassaker

Auslöser der Demos im Wochentakt war die Schießerei in einer Belgrader Schule, gefolgt von einem weiteren Massaker in einem Dorf. Anfang Mai war das. Serbiens Gesellschaft, in der zwar bis heute unzählige Schusswaffen, darunter kriegstaugliches Gerät, zirkulieren, in der es andererseits aber bislang kaum Schul-Schießereien wie etwa in den USA gab, war schockiert, suchte ein Ventil für kollektive Trauer und Unverständnis. Die Behörden reagierten schnell – innerhalb weniger Wochen wurden in einer Sammelaktion riesige Mengen an registrierten und nicht registrierten Schusswaffen eingezogen. Aber die Demonstrationen gingen weiter.

Kartons, Kleber, kühne Formulierungen

Warum richtet sich mittlerweile die Wut der Massen gegen die Regierung und Präsident Vučić? Vor einem Belgrader Universitätsgebäude kauert eine Gruppe Studenten neben einem kleinen Rasenstück, sie sind damit beschäftigt, Protestplakate für die Demo am Abend vorzubereiten. Ich geselle mich zu ihnen, lasse mir die Spruchbänder erklären.

Kartons, Kleber, kühne Formulierungen: "Wir wollen einen Rechtsstaat, keinen Ein-Kopf-Staat", übersetzt mir Tara ihren Spruch, gemünzt auf den als zunehmend autoritär empfundenen Polit-Stil von Präsident Vučić. Masha malt ein Fragezeichen hinter ihren Satz: "Serbien ohne Hoffnung?" Und Lazar ergänzt: "Du fühlst Dich nirgendwo mehr sicher!" Noch einmal ergreift Tara das Wort: "Viele von uns hier studieren Philosophie, wer wenn nicht wir, soll das Wort ergreifen? Wir dürfen nicht schweigen, gerade wir nicht, die junge Generation. Wir wollen unserem Land, Serbien, helfen."

Der Soziologe Zoran Gavrilović stößt zu uns. Er leitet das "Büro für Sozialstudien", kurz BIRODI, und kommt gerade vom Staatsanwalt. Dort hat er seine jüngste Studie hinterlegt und Beschwerde eingereicht gegen die serbische Medienaufsichtsbehörde REM. Gavrilović ist kein Mann der vagen Worte, dem BIRODI-Direktor geht es um harte Fakten. Um objektiv gemessene Daten, Sendezeiten, die Dauer von Wortmeldungen von Politikern dieser oder jener Partei im Rundfunk. Seine Zahlen, noch ganz frisch, zeigen eine klare mediale Vorzugsbehandlung für Präsident Vučić in den vergangenen Monaten: Bis zu 80 Prozent unkritische Berichterstattung.

"Unser Medienmonitoring zeigt, dass Fernsehsender mit serbienweiter Ausstrahlung ein Mittel der Propaganda und Werbung für Vučić sind", fasst BIRODI-Direktor Gavrilović die Ergebnisse seiner Untersuchung zusammen. Dann holt er etwas weiter aus, wird grundsätzlicher in seiner Kritik: "Serbien ist ein Staat, der vereinnahmt wurde von Korruption und politischen Eliten, der von Präsident Vučić gesteuert wird, um die gesamte Gesellschaft zu kontrollieren."

Die Studenten haben sich mittlerweile auf den Weg Richtung Belgrader Innenstadt gemacht. Aus allen Richtungen strömen Menschengruppen zum Parlament. Eine Gruppe gewerkschaftlich organisierter Arbeiter hat Warnwesten an. Einige gelbe und blaue Bauarbeiterhelme sind zu sehen. Viele serbische Fahnen. Auch viele rumänische Flaggen, begleitet von Bändern, auf denen "Wir brauchen Dich, Laura", steht. Hier in Belgrad versteht die Anspielung jeder: Laura Kövesi ist die erste EU-Staatsanwältin, sie kommt aus Rumänien. Ich habe mit ihr für Euronews kurz vor Ihrer Ernennung zur europäischen Top-Anklägerin gesprochen: Die begeisterte Basketballerin und knallharte Juristin dribbelt sich geschickt und kompromisslos durch die kompliziertesten Korruptionsaffären, schreckt auch vor Titeln und politischen Top-VIPs nicht zurück…

Manche Plakate in der Menschenmasse vor dem Parlament sind provozierend, andere nachdenklich oder traurig, wieder andere Anspielungen an beliebte Filmtitel, Gereimtes und Ungereimtes wird hier gezeigt, sorgfältig handgeschrieben, hoch in den Himmel gereckt im Konzert der Trillerpfeifen. "Endlich! Darauf haben wir elf lange Jahre gewartet", meint der bärtige Savo mit einem Stoßseufzer. Marko ergänzt: "Wir demonstrieren gegen jede Form von Gewalt." Und Zoran, ein untersetzter Mitfünfziger in blauem T-Shirt, sagt: "Es geht gegen Korruption und Kriminalität und ganz allgemein dagegen, dass die Institutionen in unserem Land nicht mehr richtig funktionieren."

Gut informierte Belgrader wundern sich, warum jüngsten Enthüllungen der serbischen Investigativ-PlattformKRIK und der New York Times, in denen detailliert mögliche Verbindungen aufgezeigt wurden zwischen regionaler Mafia, Fußball-Hooligans und höchsten Regierungsstellen, Präsident mitinbegriffen, kein energischeres Durchgreifen seitens der serbischen Staatsanwaltschaft folgte. Auch dieser Skandal, in Serbien als "Fleischwolf-Fall Belivuk" bekannt (der Chef der Gangsterbande drehte seine Gegner durch einen Fleischwolf) befeuert die Proteste.

Zwar wurden Belivuk und ein Teil seines Verbrecherclans festgenommen, doch so mancher Serbe fragt sich, warum den Querverbindungen Richtung Politik von Strafverfolgern so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Präsident Vučić bestreitet energisch eine Verwicklung. Und auf die wöchentlichen Groß-Demonstrationen der wütenden Bürger reagierten Präsident und seine regierende Fortschrittspartei mit einer Gegen-Kundgebung.

Bezahlte Regierungs-Fans?

Ende Mai brachten Reisebusse Vučić-Fans aus ganz Serbien, aber auch aus den Nachbarländern nach Belgrad. Mir kommt zu Ohren, dass manche Menschen für den Vučić-Marsch bezahlt wurden. Darauf angesprochen, verneinen das die Vučić-Anhänger. Ein Mann mit Riesen-Poster des Präsidenten meint energisch:

"Ich habe das alles aus eigener Tasche bezahlt, 80 Euro hat das gekostet, das da habe ich selbst organisiert, von meinem eigenen Geld, niemand hat mich bezahlt. Ich liebe Vučić und ich werde alles für ihn geben."

Fakt ist, dass die Regierungs-Rally weniger Menschen auf die Straße gebracht hat als die protestierende Zivilgesellschaft. Die Zahl der Pro-Vučić-Marschierer im Monat Mai und Anfang Juni reicht auch nicht annähernd an die Zahl der protestierenden Vučić-Gegner heran.

Verschwörungstheorien

Auf Pro-Regierungsveranstaltungen sind Verschwörungstheorien zu hören: Die Proteste der Opposition seien von ausländischen Geheimdiensten gesteuert. Ein Narrativ, das in aller Öffentlichkeit auch von der Regierungs-Chefin wiederholt wird. Und Präsident Vučić raunt in Interviews gerne von angeblichen Machenschaften des US-Geheimdienstes CIA. Und so mancher glaubt dem Geraune.

Die serbische Gesellschaft ist gespalten zwischen einerseits Anhängern der "Serbien-ist-das-Opfer"-Theorie, genährt unter anderem von moskautreuen Influencern, und andererseits Anhängern der "Vučić-ist-an-allem-Schuld"-Theorie. Zwar lässt sich bis zu einem gewissen Grad verallgemeinern, dass Teile des ländlichen Raumes der "Partei der Progressiven" von Alexandar Vučić folgen, während in der Hauptstadt Belgrad Vučić-skeptische Stimmen zu überwiegen scheinen, doch objektives Zahlenmaterial ist schwer zu beschaffen.

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Riesige Wandmalereien der Ultra-Nationalisten

Ich mache mich auf den Weg nach Neu-Belgrad. In einer Plattenhaussiedlung am Rande des Viertels Fontana fallen zunächst riesige Wandmalereien auf:

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Martialische Wandmalereien im Fontana-Vierteleuronews

Waffenstarrende Kämpfer vor serbischer Flagge. Gigantische Porträts von Putin und Trump. Schmähschriften auf die NATO. "Kosovo-ist-Serbien" steht überall auf den Mauern. Mit der Spraydose aufgebrachte Jahreszahlen erinnern an die Schlacht auf dem Amselfeld im Mittelalter – Ursprung des von serbischen Nationalisten gepflegten Kosovo-ist-unser-Mythos.

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Der Reporter im Fontana-Viertel vor nationalistischen Wandmalereieneuronews

Hier, im Fontana-Viertel, fordern viele Anwohner eine Wiedereingliederung des Kosovo und befürworten den russlandfreundlichen Kurs von Präsident Vučić. Die Wandmalereien wurden in Auftrage gegeben und bezahlt von der "Serbischen Rechten", einer ultranationalistischen Splitterpartei am extrem rechten Rand des politischen Spektrums. Die Neupartei soll Gelder aus Moskau erhalten, erläutert mir ein Kenner der Szene später im Hintergrundgespräch. Ihr Anführer, Miša Vacić, biegt gut gelaunt im weißen Hemd um die Ecke und begrüßt mich auf Deutsch.

Miša Vacić, der Präsident der "Serbischen Rechten", wohnt hier im Viertel. Als Jugendlicher hat er mit seinen Eltern einige Jahre in Deutschland verbracht. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen Serbiens kandidierte er ("wobei ich 35.000 Stimmen bekommen habe", berichtet er mir mit stolzgeschwellter Brust). Heute bringt er die Botschaften Putins unters serbische Volk: "Serbien wird von der EU erpresst, soll sich von einem Teil seines Territoriums (Kosovo) trennen und wird dafür bestraft, dass es als einziges Land Europas keine Sanktionen gegen Russland verhängt", antwortet er mir auf die Frage, warum er sich ausgerechnet die Wandmalerei mit den bewaffneten serbischen Kämpfern als Ort für das Interview ausgesucht hat.

Auch der Rechten-Führer im weißen Hemd behauptet, ohne den geringsten Beweis dafür vorzulegen, ganz auf Präsidentenlinie: "Diese Proteste werden von ausländischen Diensten organisiert, diese Geheimdienste wollen unser Land weiter destabilisieren." Manche Leute hier glauben ihm das…

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Unklare Verhältnisse

Das Verhältnis zwischen Ultranationalist Vacić, Chef der Serbischen Rechten, und Vučić, dem Präsidenten der Republik Serbien, ist etwas unklar. Einige Analytiker behaupten, Vučić kontrolliere Vacić (und belegen das mit einer großen Zahl abgehörter Telephongespräche). 

Gegenüber Euronews betont Rechten-Boss Vacić hingegen seine politische Unabhängigkeit: "Wir schreien nicht immer 'Bravo!', sobald Vučić etwas sagt. Wenn er allerdings etwas Gutes für Serbien tut, dann loben wir ihn, wie beispielsweise dafür, dass er Waffen aus Russland, Weißrussland und China bekommt." Und: "Wenn er unsere Armee ins Kosovo einmarschieren ließe, dann würden wir ihn wirklich, wirklich loben."

"Wenn nötig, schicken wir unsere Leute ins Kosovo"

Ich frage ihn ganz direkt, ob seine Leute auch im Norden des Kosovo mitmischen und in die gewaltsamen Ausschreitungen involviert sind. Miša Vacićs Antwort: "Unsere Partei hat Ableger überall in Serbien, also auch im Norden des Kosovo. Bislang haben wir keine Mitglieder von außerhalb, aus anderen Regionen, dorthin gebracht, aber klar, sobald das notwendig sein sollte, schicken wir Leute dorthin." Ich hake nach, frage nach Zahlen seiner Leute vor Ort. Der Extremistenführer gibt als Antwort: "Ich möchte nicht über Zahlen sprechen, doch ich bin absolut sicher, dass wir dort stark genug sind, um die Serben im Norden des Kosovo zu verteidigen."

Der Präsident der Serbischen Rechten ist hier im Hochhausviertel offenbar beliebt. Als er seinen kleinen Sohn Despot, ein in Serbien durchaus üblicher Vorname, im Kinderwagen am Spielplatz vorbeischiebt, wird er allseits freundlich gegrüßt. Ob er mich mit einigen Nachbarn bekannt machen könnte, frage ich ihn, mit Belgradern, die der Fortschrittspartei des Präsidenten nahestehen und beim Pro-Vučić-Marsch mitgelaufen sind.

Auf einen Schnaps mit Vučić-Anhängern

Klar, kann er. Ich folge Miša Vacić durch einige Treppenhäuser, stolz zeigt er immer wieder auf Anti-EU-Aufkleber an Türen. Fahrt im Aufzug, wir klopfen an bei Marijana Živojinović, einer jungen Frau, die uns mit ihrem Verlobten willkommen heißt und erst einmal einen scharfen Pflaumenschnaps zur Begrüßung serviert. 

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Wir kommen ins Gespräch. Seit fünf Jahren ist Marijana einfaches Mitglied der regierenden Fortschrittspartei. Vučićs Partei ist stolz auf die enormen Mitgliederzahlen, Experten bezeichnen die Fortschrittspartei oft als "Catch-All-Partei", ein Gemischtwarenladen, der viele unterschiedliche Interessen bedient.

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Marijana Živojinović ist einfaches Mitglied der regierenden Fortschrittsparteieuronews

Was ist das Geheimnis von Vučićs Erfolg?

Ich will verstehen, was das Geheimnis von Vučićs bisherigem Erfolg ist, immerhin war der Mann früher einmal Informationsminister von Slobodan Milošević. Wie konnte sich so einer retten in die Nach-Milošević-Zeit? Präsident werden? Und bei einem großen Teil der Bevölkerung so beliebt werden?

Marijana kommt vom Land, vor vielen Jahren zog sie nach Belgrad. Hier im Viertel Fontana fühlt sie sich wohl, das gutnachbarliche Verhältnis stimme, egal welcher politischen Richtung man angehöre. Marijana hat Wirtschaft studiert und kümmert sich um Steuerfragen. Ihr Fachbereich sind Unternehmenssteuern. Sie ist stolz auf ihren Aufstieg, zufrieden mit ihrer Arbeit, dankbar der Partei und dem Präsidenten.

Seit Vučić an der Macht ist, habe sich vieles im Land verbessert, meint sie. Marijana Živojinović wörtlich: "Viele junge Menschen haben einen Arbeitsplatz gefunden, es wurden viele neue Fabriken errichtet, auch Leute aus den Dörfern haben nun Aufstiegsmöglichkeiten und finden Arbeit. In der Vergangenheit hatten die Leute keine richtige soziale Absicherung, das hat sich nun alles geändert." 

Serbiens Demografieproblem (sehr viele junge Menschen wandern aus nach Westeuropa, um dort Arbeit zu finden) erwähnt sie nicht. Hingegen lobt sie Verbesserungen im Gesundheitssektor und konkret im Krankenhausbereich (auch hier gehen die Ansichten innerhalb der Bevölkerung diametral auseinander: Vučić-Gegner werfen Präsident und Regierung unter anderem eine eklatante Unterversorgung insbesondere der ländlichen Gebiete mit Gesundheitsdienstleistungen vor).

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Warum hat sie sich Zeit genommen, vor einigen Tagen, um bei der Pro-Vučić-Kundgebung mitzulaufen? Trotz Regen? Fortschrittsparteimitglied Marijana macht sich Sorgen: "Das ist ein sehr schwieriger Moment für unser Land", versucht sie zu erklären, "und ich will, dass die Gesellschaft, unser Land einig sind, nicht gespalten." Sie schätzt, dass etwa 70 Prozent der Bevölkerung hinter dem Präsidenten stehe und nur etwa ein Drittel auf Seiten der Opposition.

Marijana versteht sich als serbische Patriotin: "Wir sind ein kleines Land und wir würden gerne mit anderen kooperieren, aber es ist doch so, dass uns das Kosovo mit Gewalt genommen wurde. Ich möchte, dass das Kosovo an Serbien zurückgegeben wird." Aufgrund der jüngsten Vergangenheit wünschten sich viele Serben eine militärische Aufrüstung, sagt die junge Frau, und in diesem Bereich handele Präsident Vučić richtig, denn "wir brauchen verstärkte militärische Fähigkeiten, damit wir uns in unserem Land nicht fürchten müssen."

EU-"Fortschrittsbericht" zu Serbien

Offiziell möchte Serbien immer noch Mitglied der Europäischen Union werden. Doch die Verhandlungen schleppen sich dahin, um es mal vorsichtig auszudrücken. Der jüngste "Fortschrittsbericht" aus Brüssel zu Serbien ist, wenn man zwischen den mit diplomatischem Fingerspitzengefühl formulierten Sätzen zu lesen versteht, verheerend. Die Europäische Kommission kritisiert insbesondere Serbiens Russlandpolitik und verweist sehr eindringlich darauf, dass sich EU-Beitrittskandidaten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU anzupassen haben. Konkret geht es um die Russlandsanktionen, die Belgrad nicht mitträgt.

Doch ist das nicht der einzige Kritikpunkt, der unisono von EU-Kommission und EU-Ministerrat geäußert wird. Serbien muss, und da nimmt die Europäische Union kein Blatt vor den Mund, umsteuern in Sachen Medienvielfalt und Pressefreiheit. Das sind keine hohlen Phrasen, sondern sehr konkrete Punkte. Unter anderem geht es beispielsweise um TV-Lizenzen, Schmierkampagnen gegen Oppositionelle und Akteure der Zivilgesellschaft.

Inwieweit werden Medien vom Staat, von der Regierung beeinflusst?

Ich kaufe ein paar regierungsnahe Zeitungen, unter anderem das Massenblatt "Informer". Auf Seite Eins steht dort nach der großen Demo GEGEN die Regierung: "Das sind die Hasser, die Verräter…", weiter im Text geht es gegen Homosexuelle (was mit der Anti-Korruptionskundgebung gegen die Regierung nichts zu tun hat). Im Vergleich dazu werfe ich einen Blick auf die Seite Eins derselben Zeitung nach der großen Demo FÜR Vučić: "Das ist das Serbien der Hoffnung" ist dort zu lesen.

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Der Präsident der Vereinigung Unabhängiger Journalisten (NUNS) berichtet mir von direkten und indirekten Drohungen gegen Kollegen. Vor einigen Jahren wurde einem kritischen Journalisten das Haus abgefackelt. Das ist nur ein Beispiel unter anderen, sorgsam gesammelt und dokumentiert von NUNS. "In einigen Fällen ist die körperliche Unversehrtheit kritischer Journalisten in Serbien gefährdet", bringt es Željko Bodrožić auf den Punkt. Aber der Druck auf unabhängige Medien ist vielfältig. Bodrožić berichtet davon, dass nicht linientreue Medien finanziell ausgeblutet würden, insbesondere in ländlichen Regionen ein Problem.

Inwieweit werden Medien vom Staat, von der Regierung beeinflusst?, will ich vom Präsidenten des Journalistenverbandes wissen. Željko Bodrožić gibt eine Einschätzung: "Etwa 90 Prozent der Medien in Serbien werden direkt von der Regierung unter Präsident Alexandar Vučić kontrolliert."

Und mit den einseitigen "Informer"-Aufmachern konfrontiert, meint der Präsident des Unabhängigen Journalistenverbandes NUNS: "Das ist keine Zeitung im üblichen Wortsinn. Das ist wie ein Propaganda-Blatt von Alexandar Vučićs Serbischer Fortschrittspartei. Wie sie sehen, ist das reinste Propaganda: es waren keine 200.000 Leute auf der Vučić-Demo."

Persönlich Angriffe auf KRIK-Chef

Weiter geht es auf meiner Recherche-Tour in Belgrad, Richtung KRIK. Einige der weltweit besten Investigativ-Journalisten arbeiten hier, bei KRIK. Das von der Europäischen Union unterstützte Team um Stevan Dojčinović recherchiert zu Korruption und organisierter Kriminalität und gewann wichtige Journalistenpreise in Europa und Übersee. "Mittlerweile reichen wir keine Beiträge mehr ein", scherzt der Chefredakteur, "damit auch mal andere Kollegen zum Zug kommen."

Chefredaktuer Stevan Dojčinović: "Jedes Mal, wenn wir etwas über Korruption oder organisierte Kriminalität veröffentlichen, werde ich von regierungskontrollierten Medien persönlich angegriffen - und ich bin dann auf Seite Eins abgedruckt." 

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Der Mann mit den Piercings greift hinter sich, zieht ein paar Zeitungen vom Stapel, zeigt sie mir: "Hier werde ich als Mitglied einer Mafia bezeichnet, die den Präsidenten attackiert. Dort nennen die mich eine Sado-Maso-Typen. Und in dieser Ausgabe werde ich sogar als Terrorist bezeichnet."

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90 Prozent der Medien seien vom Staat beeinflusst, schätz der Präsident des Unabhängigen Journalistenverbandeseuronews

Jüngster Skandal in Serbien: Die Fleischwolf-Morde einer berüchtigten Mafia-Gruppe. Dem Belivuk-Klan werden mehrere Morde zur Last gelegt. Internationale Zielfahnder knackten die Telefone und hörten mit. Auch KRIK recherchiert seit Jahren. Jetzt steht Belivuk vor Gericht und packt aus: Er habe den Auftrag gehabt, einerseits Veranstaltungen von Präsident und Regierung zu schützen, andererseits Proteste der Opposition zu stören.

Gibt es Verbindungen zwischen Staatsorganen und organisierter Kriminalität? Und wenn ja, welche?

Stevan Dojčinović greift zum Rotstift und beginnt ein Schema auf die Tafel in seinem Büro zu zeichnen. Dabei erklärt er: "Der hohe Polizeibeamte, der Aufträge an Belivuk vergab, sagte (am abgehörten Telefon), dass diese Aufträge von Dijana Hrkalović kämen, also der zweitmächtigsten Person in der Polizei Serbiens. Aber er sagte dem Kriminellen auch, dass sowohl Dijana Hrkalovićs Boss, wie auch der große Boss informiert seien. Das zeigt, dass zwei weitere Top-Offizielle über die Verbindung zwischen Regierung und dieser Gruppe des organisierten Verbrechens Bescheid wussten."

Stevan Dojčinović blickt auf und bringt auf den Punkt, was in seinen Augen das eigentliche Problem ist: "Doch selbst heute, bis zum heutigen Tag, wurde kein einziger hochrangiger Polizei-Offizier oder ein Regierungsmitglied strafrechtlich belangt."

"EU sollte Vučić nicht länger als Stabilitätsfaktor betrachten"

Meine Interviewanfragen an Regierungsstellen und Ministerien werden nicht beantwortet. Auf Umwegen komme ich an die Mobiltelefon-Nummer der persönlichen Medienberaterin von Präsident Vucić. Aber auch hier herrscht Funkstille. Niemand hebt ab. Auch meine Text-Nachrichten werden nicht beantwortet.

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Meine Interviewbitten an Oppositionspolitiker hingegen schon: Srđan Milivojević, der für die Demokratische Partei im Parlament sitzt, nimmt sich kurz Zeit. In einer Sitzungspause kommt er aus dem Parlament, wir treffen uns auf dem Bürgersteig vor dem Kuppel-Gebäude der Volksvertretung.

Srđan Milivojević: "Wir haben unzählige Beweise, dass die höchsten staatlichen Stellen in die organisierte Kriminalität verwickelt sind. Seit 2013 tauchen kriminelle Gruppen bei Wahlen auf. Sie versuchen, die lokale Bevölkerung einzuschüchtern und sie versuchen, die politischen Gegner der Serbischen Fortschrittspartei zu bestechen. Unter derartigen Umständen sind normale, freie und faire demokratische Wahlen nicht möglich. Die einzige Möglichkeit ist, unter Druck internationaler Organisationen wie der Europäischen Union und einiger anderer, eine Übergangsregierung zu bekommen, die faire Bedingungen für freie Wahlen erst einmal herstellen müsste. Es ist wichtig, dass Alexandar Vučić von der Europäischen Union nicht länger als Stabilitätsfaktor angesehen wird."

Mutige Menschenrechts-Aktivistin

Meine nächste Gesprächspartnerin ist Aida Ćorović. Vor zwei Jahren machte sie weltweit Schlagzeilen. Die Menschenrechts-Aktivistin ertrug es nicht, auf dem Heimweg am Bild des verurteilten Kriegsverbrechers Ratko Mladić vorbeizumüssen. Sie protestierte, warf Eier auf das Wandbild des Verbrechers – und wurde daraufhin von Beamten in Zivil festgenommen.

Heute ist das Verbrecherbild übermalt. "Stoppt Pink TV", steht hier jetzt, beziehungsweise, in der wörtlichen Übersetzung: "Gehirn einschalten, Pinkt TV ausschalten!" – Das hat eine direkte Verbindung zu den derzeitigen Massenprotesten in Serbien. Eine der Forderungen der Demonstranten ist eine Schließung von "Pink": Der Sender gilt als regierungsfreundlich, teilweise pro-russisch und macht Quote mit Reality-Shows der übelsten Kategorie. Was "Informer" im Printmedienbereich ist, ist "Pink" im TV-Bereich. Gemeinsam werden sie von Kritikern als „die stählernen Fäuste des Präsidenten“ bezeichnet.

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Aida Ćorović geht zu jeder Anti-Vučić -Demo.euronews

Ich besuche Aida Ćorović zu Hause, sie wohnt quasi um die Ecke. Auch sie fordert einen Entzug der Sendelizenz von Pink TV. Die engagierte Frau geht zu jeder Anti- Vučić-Demo. Medienvielfalt und uneingeschränkte Rechtsstaatlichkeit seien unabdingbare Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie, meint sie.

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Im Gespräch sagt Aida Ćorović: "Die Menschen, die heute Serbien führen, sind teilweise dieselben, die in den 90ern den Krieg losgetreten haben. Wir haben Wahlen – aber die werden völlig von der Regierung kontrolliert. Ich war selbst Wahlbeobachterin und weiß, von was ich rede, ich habe das mit eigenen Augen gesehen. Es gibt die unterschiedlichsten Methoden zum Wahlbetrug: Stimmenklau, Manipulationen, den sogenannten bulgarischen Zug." (ein Ausdruck für das Hin- und Herfahren von Menschen, die von Wahllokal zu Wahllokal gebracht werden, um mehrfach abzustimmen).

"Wir haben keinen funktionierenden Rechtsstaat. Wir haben eine Staatsanwaltschaft, die Dutzende, ja Hunderte von schwerwiegenden Rechtsbrüchen ungeahndet lässt. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Normalbürger Ungerechtigkeit in allen nur erdenklichen Lebensbereichen erfahren."
Aida Ćorović
Menschenrechts-Aktivistin

Am Abend filme ich den Protestzug, der sich vom Parlament hinüber zum Amtssitz des Präsidenten wälzt. Die Demonstranten bringen selbst formulierte Botschaften an der Fassade an. Auf den Plakaten stehen Sprüche wie: "Freiheit oder nichts.""Deine Hände sind blutig.""Den serbischen Frühling kannst Du nicht stoppen.""Wir sind stärker als Gewalt." – "Tick tack, Mister President, die Uhr läuft ab.""Sie sind ausgewiesen aus dem Präsidentenpalast."

Wie geht es weiter? Niemand weiß es, und wie so oft liegen alle Optionen auf dem Tisch. Und sowohl in Belgrad wie auch in Brüssel und den EU-Mitgliedstaaten stellen sich viele Bürger und Politiker die Frage: Ist Serbien wirklich reif für die Europäische Union? Zweifel werden lauter. Nur eines scheint klar: Um Serbiens Traumata zu heilen, benötigt es sehr viel mehr als Neuwahlen oder eine Übergangsregierung. Es braucht Geduld, Gerechtigkeit, Medienvielfalt und viel guten Willen, die tiefen gesellschaftlichen Gegensätze zu überbrücken.

Cutter • Sebastien Leroy

Weitere Quellen • MoJo-Kamera: Hans von der Brelie; Fixer: Milivoje Pantović; Ton: Hugo Pouillard; Technische Unterstützung: Robin Richard; Produktion: Géraldine Mouquet, Besonderer Dank: Zoran & Oleksa; Produktionsleitung: Sophie Claudet; Lektorat: Peter Barabas

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