Ylva Johansson: Erstmals ein gemeinsamer, umfassender EU-Ansatz zu Migration

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Von Vincenzo Genovese
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Ziel der Reform ist es, das seit der Migrationskrise 2015 praktizierte Ad-hoc-Krisenmanagement abzuschaffen, das sich als völlig unzureichend erwiesen hat, um eine Herausforderung zu bewältigen, die die nationalen Grenzen überschreitet.

Das Europäische Parlament hat gerade den Pakt zu Migration und Asyl angenommen, eine umfassende Reform der EU-Migrationspolitik. Aber nicht jeder ist darüber glücklich. Einige EU-Länder wollen keine Asylbewerber aufnehmen, während Nichtregierungsorganisationen und Aktivisten mögliche Menschenrechtsverletzungen beklagen. Darüber haben wir mit der EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, in The Global Conversation gesprochen. 

Euronews-Reporter Vincenzo Genovese: Frau Kommissarin Johansson, vielen Dank, dass Sie bei Euronews sind. Das Europäische Parlament hat gerade dem Pakt zu Migration und Asyl zugestimmt. Was bedeutet das für die EU-Migrationspolitik?

Ylva Johanson, EU-Kommissarin für Inneres: Das bedeutet sehr viel. Es ist ein sehr großer Erfolg: Erstmals haben wir einen gemeinsamen, umfassenden europäischen Ansatz zu Migration und Asyl gefunden. Es bedeutet auch, dass wir das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, aber auch zwischen dem Rat und dem Parlament wiederhergestellt haben. Wir sind viel stärker, wenn es um Migration und Asyl geht, sowohl beim besseren Schutz unserer Grenzen als auch beim besseren Schutz der Grundrechte von Asylsuchenden und Schutzbedürftigen.

Euronews: Können Sie sicherstellen, dass keine Menschenrechte verletzt werden, zum Beispiel durch ungerechtfertigte Inhaftierung oder Rückführung von Migranten in unsichere Drittländer?

Ylva Johanson: Ja, das kann ich, weil in der Gesetzgebung ganz klar steht, dass wir den Schutz der Grundrechte von Asylsuchenden, das Recht, einen Asylantrag zu stellen, und besondere Schutzmaßnahmen für schutzbedürftige Personen stärken werden. 

Euronews: Eines der Elemente ist der Solidaritätsmechanismus. Die Ministerpräsidenten von Polen und Ungarn haben angedeutet, dass sie den Solidaritätsmechanismus in ihren Ländern nicht anwenden werden. Was passiert, wenn sie es nicht tun? 

Ylva Johanson: Ich bin sehr zuversichtlich, dass die Mitgliedsländer den Solidaritätspakt bald umsetzen werden. Sie scheinen aktiv an der Umsetzung zu arbeiten und ich bin überzeugt, dass sie ihn auch anwenden werden. 

Euronews: Aber was passiert konkret, wenn sie das nicht tun, welche Instrumente hat Kommission, um das zu verhindern? 

Ylva Johanson: Die Kommission hat die Instrumente, die sie in allen Gesetzen hat, nämlich Vertragsverletzungen zu ahnden. Aber noch einmal, ich glaube nicht, dass das passieren wird. Diejenigen, die sagen: "Wir lassen uns nicht zwingen, Asylbewerber aufzunehmen", sprechen von etwas anderem, was nicht im Pakt steht. 

Euronews: Der "Solidaritätspool" sieht jährlich 30.000 Umsiedlungen von Migranten vor, die irregulär in die EU einreisen. Im vergangenen Jahr hat Frontex mehr als 380.000 irreguläre Grenzübertritte registriert. Ist das nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein? 

Ylva Johanson: Nein, nein, das ist enorm. Es gab zum Beispiel nach dem Brand in Moria vor ein paar Jahren – wenn Sie sich daran erinnern, eine riesige Umsiedlungsaktion, vor allem mit unbegleiteten Minderjährigen. Wir haben 5000 umgesiedelt. 30.000 pro Jahr ist also wirklich eine enorme Anzahl. 

Kampf gegen Schlepper und Schleuser

Euronews: 2023 war das tödlichste Jahr im Mittelmeer seit 2017. Mehr als 3.000 Migranten starben. Wie kann der Pakt das ändern, wenn es keine europäische Such- und Rettungsmission gibt? 

Ylva Johanson: Der Kampf gegen die Schlepper ist das Wichtigste, um sicherzustellen, dass wir diesen tragischen Verlust von Menschenleben verhindern. Deshalb habe ich im November vergangenen Jahres die globale Allianz gegen Schleuserkriminalität ins Leben gerufen. Deshalb habe ich neue Gesetze in diesem Bereich vorgelegt. Der andere wichtige Punkt, den wir tun müssen, ist, die legale Migration zu stärken. 

Europa ist eine alternde Gesellschaft. Wir brauchen Migranten, aber wir müssen die Zuwanderung steuern.
Ylva Johanson

Euronews: Aber wenn die Migranten erst einmal auf den Booten sind, warum sollte man sie nicht retten?

Ylva Johanson: Natürlich sollten sie gerettet werden, wenn sie in Not sind. Das ist der Fall. Aber wir wissen auch, dass es trotz zunehmender Rettungsaktionen immer noch viele Tote gibt. Denn wenn man in einem Boot ist, dann ist das bei diesen Wetterbedingungen ein sehr großes Risiko. Und deshalb müssen wir diese Überfahrten von vornherein verhindern.

Zusammenarbeit mit Drittländern

Euronews: Auch das Memorandum mit Tunesien und das Abkommen mit Ägypten sind Teil der externen Dimension der EU-Migrationspolitik und betreffen den Mittelmeerraum. Wie kann man sicherstellen, dass die Menschenrechte in diesen Ländern respektiert werden? 

Ylva Johanson: Wir stellen natürlich sicher, dass die EU-Gelder und das, was wir tun, niemals die Menschenrechte verletzen. Darüber haben wir eine umfassende Kontrolle. Wir können nicht sicher über das sein, was außerhalb unseres Engagements in diesen Ländern passiert. Wir kennen unsere Nachbarn, wir müssen mit ihnen zusammenarbeiten, um zu versuchen, die Dinge zu verbessern. Und wir können nicht warten, bis alle Probleme in einem Land gelöst sind, denn wir müssen mit ihnen zusammenarbeiten, um die Herausforderungen zu lösen, mit denen sie konfrontiert sind. Was die EU-Gelder und die Projekte betrifft, an denen wir teilnehmen, so wird sehr genau darauf geachtet, wie wir unser Geld ausgeben und an welchen Projekten wir teilnehmen. 

Schwierige Kooperation mit Libyen

Euronews: Seit 2017 hat die EU 59 Millionen Euro für die Finanzierung des Grenz- und Migrationsmanagements in Libyen ausgegeben. Doch die libysche Küstenwache ist für ihre Menschenrechtsverletzungen bekannt. Vergangene Woche schoss sie auf eine europäische NGO, die eine Rettungsaktion durchführte, und das war nicht das erste Mal. Ist die Zusammenarbeit mit Libyen gescheitert? 

Ylva Johanson: Die Kooperation mit Libyen ist schwierig. Das stimmt. Wir haben klare Standpunkte, zum Beispiel wenn es um diese schrecklichen Haftanstalten geht. In einigen von ihnen herrschen wirklich inakzeptable Zustände. Wir retten Flüchtlinge aus Libyen und bringen sie im Rahmen des Nottransitmechanismus in sicherere Länder, wo sie in die Mitgliedstaaten oder in andere Drittstaaten umgesiedelt werden, oder wir unterstützen über die IOM (die internationale Organisation für Migration) die freiwillige Rückkehr von Migranten aus Libyen. Wir müssen auch bei der Suche und Rettung helfen, damit die Menschen nicht im Mittelmeer ihr Leben verlieren. 

Euronews: Meinen Sie die Such- und Rettungsaktionen der libyschen Küstenwache? 

Ylva Johanson: Ja. Sie sind diejenigen, die die Such- oder Rettungsaktionen durchführen müssen. Wir kritisieren, was mit den Menschen danach passiert, weil wir wissen, dass die Bedingungen in diesen Zentren, in die sie normalerweise gebracht werden, sehr schlecht sind. Wie bereits gesagt inakzeptabel. Und deshalb fordern wir die Libyer auf, das zu ändern und diese Zentren zu schließen und die willkürliche Inhaftierung von Migranten in diesen Zentren zu beenden. 

Euronews: Ein EU-Mitgliedstaat, Italien, verlagert die Bearbeitung von Asylanträgen nach Albanien, also in ein Nicht-EU-Land. Ist das der richtige Weg? 

Ylva Johanson: Der Plan ist, die Menschen, die in internationalen und nicht in italienischen Gewässern gerettet werden, in ein Zentrum in Albanien an Land zu bringen, wo ihre Asylanträge von den italienischen Behörden nach italienischem Recht bearbeitet werden. Und wenn sie asylberechtigt sind, werden sie nach Italien zurückgebracht. Das ist der Plan. Wir werden sehen, wie das funktioniert. Aber das ist ein sehr spezieller Weg, den Italien da geht.

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