Migrationskrise: "Talentpartnerschaften" eröffnen legale Wege

Migrationskrise: "Talentpartnerschaften" eröffnen legale Wege
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Von Isabel Marques da Silva
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Migration ist ein komplexes Thema. Einerseits geht es um Menschen, die Schutz oder ein besseres Leben suchen, andererseits stoßen viele Aufnahmeländer an ihre Grenzen ihrer Kapazitäten.

Allein in diesem Jahr sind mehr als 50.000 Menschen über das Mittelmeer geflüchtet, um in die Europäische Union zu gelangen. Die Verwaltung der Anträge von Migranten und Flüchtlingen ist seit Jahren ein Problem. Wird ein neues Paket zur Reform des Systems die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten ausgleichen? Darum und mehr geht es in The Global Conversation mit der EU-Kommissarin für Inneres Ylva Johansson.

Euronews-Reporterin Isabel Marques da Silva: Die Lage im Mittelmeer ist katastrophal. In diesem Jahr sind bereits 700 Menschen gestorben. Der Direktor der UN-Migrationsbehörde António Vitorino kritisiert, dass es an staatlichen Initiativen für die Seenotrettung mangelt. Wird es eine neue gemeinsame EU-Mission geben?

**Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres:**Die italienische Küstenwache leistet eine beeindruckende Arbeit. Sie hat in diesem Jahr bereits mehr als 30.000 Menschen gerettet. Es gibt natürlich auch NGOs, wenn auch in einem kleineren Maß. Die staatlichen Initiativen sind bei Such- und Rettungsaktionen am wichtigsten. Zuallererst muss man aber diese gefährlichen Überfahrten verhindern, angesichts der Gefahr, dass jemand vermisst wird oder sein Leben verliert. Deshalb ist Prävention so wichtig, man muss die Schmuggler bekämpfen, aber auch legale und sichere Wege in die Europäische Union anbieten. 

Euronews: InItalien kommen die meisten Flüchtlinge an, das Land steht an vorderster Front. Die Regierung hat gerade den Ausnahmezustand für sechs Monate ausgerufen. Der französische Innenminister hat die Regierung kritisiert, sie sei nicht in der Lage, die Migration zu steuern. Was sagen Sie dazu? 

**Ylva Johansson:**Italien steht unter großem Druck, sie haben das ziemlich gut in den Griff bekommen. Der Ausnahmezustand in Italien ist eine nationale Entscheidung. Aber das hilft Italien dabei, die Aufnahmekapazitäten schneller zu verbessern. Und das ist angesichts der großen Zahl der ankommenden Flüchtlinge notwendig. Dabei sollte Italien nicht allein sein. Wir müssen Italien unterstützen. 

**Euronews:**Tunesien ist derzeit ein wichtiger Ausgangsort für Migranten und Flüchtlinge, sowohl für Staatsangehörige dieses Landes als auch für Bürger aus anderen afrikanischen Ländern. Sie haben kürzlich Tunesien besucht und mit der Regierung gesprochen. Welche Maßnahmen werden ergriffen, um diesen Zustrom einzudämmen?

**Ylva Johansson:**Wir haben eine sehr gute Vereinbarung mit der tunesischen Regierung und den Behörden getroffen, um unsere Zusammenarbeit zu vertiefen, d.h. um unsere Unterstützung für den Schutz ihrer Grenzen zu verstärken, sowohl mit der Küstenwache als auch an ihren südlichen Grenzen. Dazu gehört auch die Unterstützung beim Aufbau von Kapazitäten für die Registrierung und Aufnahme von Migranten, aber auch die Zusammenarbeit bei polizeilichen Ermittlungen zur Verfolgung von Schmugglern. Wir haben uns auch auf einen legalen Weg geeinigt, die sogenannte 'Talentpartnerschaft', damit können Tunesier legal in die Europäische Union kommen. 

**Euronews:**Sprechen wir über das neue Migrations- und Asylpaket der EU, das Instrument zur Förderung einer größeren Solidarität, auch bei der Umsiedlung. Derzeit laufen Verhandlungen über die zu reformierenden Rechtsvorschriften. Wie zuversichtlich sind Sie, dass mehr Länder bereit sein werden, Flüchtlinge und Migranten aufzunehmen? Werden einige dieser Umsiedlungs- und Eingliederungsmaßnahmen verbindlich sein, sodass Mitgliedsstaaten sie nicht ablehnen können? 

Ylva Johansson: Wir arbeiten zusammen, um den vielen Todesfällen im zentralen Mittelmeerraum entgegenzuwirken. Wir arbeiten daran, mit Notsituationen umzugehen sowie daran, eine langfristige gesetzliche Lösung zu finden, um die Migration auf geordnete Weise zu steuern. Und bisher haben wir bei den Verhandlungen enorme Fortschritte gemacht. Natürlich müssen wir die Daumen drücken. Es ist noch ein langer Weg, aber ich bin zuversichtlich, dass wir uns noch vor Ende dieser Legislaturperiode auf einen Kompromiss einigen. 

Illegale Pushbacks verhindern

**Euronews:**Trotz all dieser Bemühungen um ein gemeinsames Vorgehen hat beispielsweise der Europarat die EU kürzlich vor der Praxis gewarnt, Migranten und Flüchtlinge abzuschieben, ohne ihre Anträge zu bearbeiten. Das ist nach internationalem Recht illegal. Aber Litauen hat gerade beschlossen, ein Gesetz zu verabschieden, das den Einsatz dieses Instruments in Notsituationen vorsieht. Was halten Sie davon? 

**Ylva Johansson:**Ich stehe in engem Kontakt mit Litauen. Ich war im Februar in Vilnius, um persönlich mit der Ministerin zu sprechen. Sie ist sehr offen dafür, zusammen mit meinen Dienststellen diese Gesetzgebung zu überprüfen und zu sehen, welche Änderungen notwendig sind, um die EU-Vorgaben zu erfüllen. Dieser Prozess läuft gerade. 

**Euronews:**Es gibt viele Talente, viele Menschen könnten in Europa arbeiten, sei es in Deutschland oder in Spanien. Diese Länder sind an Pilotprojekten mit Tunesien, Marokko und anderen Ländern interessiert. Wie würde das funktionieren?

**Ylva Johansson:**Es funktioniert, es wird sehr gut funktionieren. Wir haben in fast allen Mitgliedstaaten einen Arbeitskräftemangel, in fast allen Bereichen. Das ist eine einmalige Gelegenheit, neue Beziehungen mit vielen unserer Partnerländer zu knüpfen und in die legalen Wege zu investieren. Was wir vonseiten der Europäischen Kommission anbieten, ist die "Talentpartnerschaft", mit der wir zum Beispiel auch den Aufbau von Kapazitäten in der Berufsausbildung und in Sprachkursen unterstützen, bevor die Menschen in die Europäische Union gehen, um dort zu arbeiten. Das wäre eine "Win-Win"-Situation: Eine Investition in die Ausbildung in Tunesien würde sowohl denjenigen zugutekommen, die in Tunesien bleiben, als auch denjenigen, die für eine gewisse Zeit  in der EU arbeiten und dann vielleicht in ihre Heimat zurückkehren. 

**Euronews:**Die andere Seite der Medaille ist die Abschiebung von Menschen, die keinen Anspruch auf internationalen Schutz als Flüchtlinge haben, und auch keinen regulären Arbeitsvertrag in Europa beantragt haben. Sind Sie mit der Strategie der EU-Regierungen einverstanden, Ländern, die sich weigern, bei der Rückführung zu kooperieren, mit einem Abbruch des Handelszugangs, der Visaerteilung oder sogar der Entwicklungshilfe zu drohen? 

Ylva Johansson: Man kannMenschen nicht in Länder zurückschicken, in denen sie nicht sicher sind. Das ist eine Sache, aber viele Menschen können auf sichere Weise in ihr Herkunftsland zurückgeführt werden. Aus diesem Grund nutzen wir Artikel 25 des Visakodex*, einen Mechanismus für den Fall, dass ein Partnerland bei der Rückführung nicht kooperiert. Dann schlägt die Kommission Visamaßnahmen für dieses Land vor. Wir beobachten, dass viele dieser Länder ihre Haltung völlig ändern und bei der Rückübernahme besser kooperieren. Das wird mehr legale Wege eröffnen. 

*Nach Artikel 25 Absatz 1 Visakodex sind Mitgliedstaaten verpflichtet, Schengen-Visa für Personen mit eingeschränkter Mobilität entweder aus humanitären Gründen, aus Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtungen auszustellen.

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