Oscar-Preisträger Mstyslav Tschernow, bekannt für seinen Dokumentarfilm "20 Days in Mariupol", zeigt in seinem neuen Werk "2000 Meter bis nach Andrijiwka" das brutale Gesicht des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.
Die Szenen fühlten sich an wie von einem anderen Planeten, so der Regisseur und Filmemacher Mstyslav Tschernow am Anfang seines Dokumentarfilms "2000 metriw do Andrijiwky" – 2000 Meter bis nach Andrijiwka, einem Dorf in der ukrainischen Region Donezk. "Aber es ist kein anderer Planet", so Tschernow, "es ist mitten in Europa".
Der Film, der in der Botschaft Nordrhein-Westfalens in Berlin gezeigt wurde, handelt von der ukrainischen Gegenoffensive, die im Juni 2023 anfing und rund sechs Monate dauerte.
Die ukrainischen Streitkräfte versuchten, Dörfer und Gebiet vor allem in den Regionen Donezk und Saporischschja von den Russen zurückzuerobern, so auch das Dorf Andrijiwka in der Nähe der umkämpften und gefallenen Stadt Bachmut.
Begleitet wird ein Platoon der 3. Sturmbrigade – sowohl mit Aufnahmen der Helmkameras der Soldaten, als auch von Tschernow und seinem Kollegen Oleksandr Babenko.
Ziel des Platoons war es, das fast komplett zerstörte Dorf Andrijiwka zu befreien – dafür mussten sie rund 2000 Meter durch einen verminten Wald zurücklegen.
"Gagarin"
Aufnahmen zeigen die Vorstöße der ukrainischen Streitkräfte und die Opfer, die jeder einzelne Meter mit sich brachte. Man lernt die Soldaten kennen und sieht das grausame Gesicht des Krieges aus ihrer Perspektive.
So erlebt man einen Vorstoß mit dem jungen Soldaten unter dem Rufnamen "Gagarin" – über Funk hört man, wie die Soldaten sich gegenseitig über die Lage informieren. Schüsse, Rufe und Granatenangriffe machen die blutigen Kosten des Angriffs des ukrainischen Platoons auf die Russen greifbar.
Nach einigen Minuten mit Gagarin wird das Bild schwarz und wechselt zu einem Kameraden hinter ihm, der den jungen Soldaten rüttelt und auffordert, sich zu bewegen. Doch Gagarin reagierte nicht mehr – er wurde von den Russen getötet. Bei seiner Beerdigung im Westen der Ukraine nimmt das ganze Dorf teil: Am Straßenrand knien die Menschen, um dem Gefallenen die letzte Ehre zu erweisen. "Unsere Helden werden getötet", sagt seine Mutter.
Gagarins Beerdigung war zu diesem Zeitpunkt Ende 2023 die 76. in dem kleinen Dorf.
Tschernow redet in dem Film mit Soldaten – jung und alt. Die Soldaten erzählen ihm, was sie vor der großangelegten russischen Invasion gemacht haben und warum sie der Armee freiwillig beigetreten sind. So sagt ihm ein Soldat, dass "wenn Krieg in deinem Land herrscht, sollte man sich dem Militärdienst nicht verweigern".
Tschernow selber räumt ein, dass Ukrainer vor der Entscheidung stehen, ihr Land mit einer Waffe oder anderen Mitteln zu verteidigen – er selbst entschied sich für eine Kamera, um den Krieg zu dokumentieren.
In Berlin sagte er, dass sich die Handlung des Films auch um die Entfernung zwischen Europa und der Ukraine dreht. "Wissen Sie, die Russen sagen in den staatlichen Fernsehsendern sehr gerne, dass ein russischer Panzer 24 Stunden braucht, um Berlin zu erreichen", so Tschernow.
"Ich habe viele dieser Panzer gesehen, die bereits niedergebrannt sind. Neben dem [Symbol für die Unterstützung von Russlands Krieg gegen die Ukraine] 'Z' schreiben sie sehr gerne 'Nach Berlin' auf die Panzer. Es dauert vielleicht 24 Stunden, aber nur, wenn die Ukraine fällt", sagte er.
Bereits seit 2015 wird berichtet, dass Russland Raketen, Helikopter und anderes militärisches Gerät mit "Nach Berlin" beschriftet hat. Neben "Für Stalin" stammt die Parole aus dem Zweiten Weltkrieg, als die Rote Armee unter dem Oberbefehl von Josef Stalin bis nach Berlin marschierte.
Im Herbst 2023 konnte die 3. Sturmbrigade das, was von dem Dorf noch übrig war, befreien. Einwohner gibt es dort keine mehr – sie wurden entweder von russischen Streitkräften getötet oder sind geflüchtet.
Tschernow und Babenko begleiteten ein Platoon und dessen Zugführer, Fedya, der das Ziel hatte, die ukrainische Flagge in dem befreiten Dorf zu hissen.
Nach den blutigen Kämpfen erreichten sie einen Keller und Fedya hisst die Flagge auf den Ruinen eines Hauses.
Der ukrainischen Open-Source Karte "Deep State" zufolge ist Andrijiwka trotz der Erfolge der ukrainischen Gegenoffensive wieder von den Russen eingenommen worden. Das zerstörte Dorf ohne Bewohner ist nun erneut von den Russen besetzt.
Zwischen Pflicht und Freiwilligkeit
Der Dokumentarfilm des Oscar-Preisträgers Tschernow ist ein "Zeitstempel über Distanz".
Sowohl die Distanz zwischen dem Teil des Waldes, den die ukrainischen Soldaten durchqueren müssen, um das von Russland komplett zerstörte Dorf Andrijiwka zu befreien, als auch die Distanz zu den europäischen Nachbarländern der Ukraine werden verdeutlicht.
Hunderte Kilometer entfernt wird in Deutschland diskutiert, ob man einen Pflichtdienst einführen sollte, um das Land zu verteidigen. Eine Mehrheit der Jugendlichen befürwortet einen freiwilligen Dienst, doch viele lehnen ihn ab.
In der Ukraine hingegen haben sich viele Menschen freiwillig gemeldet – oft mit dem klaren Gefühl, dass Verteidigung Pflicht ist, wenn Krieg im eigenen Land herrscht.