248 deutsche Unternehmen nutzen ein "Sanktionsloch", um weiter Geschäfte in Russland machen zu können. Das ist legal, aber ist es auch moralisch vertretbar? Wirtschaftsexperten haben Bedenken.
Kritiker werfen ihnen vor, in Putins Kriegskasse einzuzahlen. Auch drei Jahre nach der russischen Invasion in der Ukraine sind rund 248 deutsche Unternehmen noch immer in Russland aktiv.
Dabei machen sie rechtlich gesehen nichts falsch. Viele dieser Firmen sind Hersteller von schnelllebigen Konsumgütern. Dazu gehören der Käsehersteller Hochland oder der Gips-Hersteller Knauf. Sie und die anderen der 248 Unternehmen verstoßen grundsätzlich nicht gegen EU-Verordnungen.
"Das ist eine Lücke, die geschlossen werden muss", findet Nezir Sinani, Geschäftsführer von B4Ukraine, einer globalen Koalition zivilgesellschaftlicher Organisationen, die versuchen, den Zugang zu den wirtschaftlichen Ressourcen hinter der russischen Aggression zu blockieren.
Sinani fordert internationale Unternehmen auf, aus dem Russland-Geschäft auszusteigen. Durch ihren Verbleib im Land würden sie direkt zur russischen Wirtschaft beitragen und auf viele andere Arten direkt an einem Angriffskrieg Russlands beteiligt sein, so der B4Ukraine-Chef.
"Unternehmen stützen die Kriegswirtschaft Russlands durch Steuern"
Doch, wie genau profitiert der russische Staat von der Präsenz deutscher Firmen im Land? **"**Unternehmen stützen die Kriegswirtschaft Russlands durch die Steuern", sagt Sinani.
Laut dem Bericht der Kyiv School of Economics (KSE), B4Ukraine und der Squeezing Putin initiative zahlten internationale Unternehmen, die weiterhin in Russland tätig sind, allein im Jahr 2024 mindestens 17.2 Mrd. Euro an Steuern in Russland. Dazu gehören auch deutsche Unternehmen.
Die Gesamtsumme seit der vollständigen Invasion im Jahr 2022 beläuft sich auf mehr als 51.8 Mrd. Euro.
Doch was bedeutet das genau? Ein Beispiel verdeutlicht das Ausmaß: Laut B4Ukraine zahlt Russland je nach Region etwa 16.000 Euro pro Vertrag, um eine Person für den Militärdienst im Kampf gegen die Ukraine zu rekrutieren. Der oben genannte Betrag entspricht fast der Hälfte des für 2025 veranschlagten Militärbudgets Russlands (laut dem International Institute for Strategic Studies (IISS) sind es 125 Milliarden Euro. Genug, um über eine Million russische Soldaten unter Vertrag zu finanzieren. "Diese ausländischen Unternehmen tragen eindeutig weiterhin zur russischen Wirtschaft bei und unterstützen den Krieg", so der B4Ukraine-Chef.
Welchen Anteil daran tragen konkret deutsche Unternehmen?
Deutsche Unternehmen sind nach Steuern der zweitgrößte Beitragszahler in die Kassen des Kremls. Gleich nach den USA. Im Jahr 2024 zahlten amerikanische Unternehmen 1 Milliarde Euro Gewinnsteuer an den Kreml, während deutsche Unternehmen 513.5 Millionen Euro. Gewinnsteuer direkt an den Kreml zahlten, so der Bericht der KSE, gemeinsam mit B4Ukraine und der Squeezing Putin Initiative.
Nach Schätzungen von KSE haben deutsche Unternehmen allein zwischen 2022 und 2024 jährlich bis zu 1.72 Milliarden Euro an verschiedenen Steuern an Russland gezahlt (im Jahr 2022 etwa 1.6 bis 1.72 Milliarden Euro und für die Jahre 2023 bis 2024 etwa 1.4 bis 1.6 Milliarden Euro pro Jahr, wie KSE Euronews auf Nachfrage mitteilte).
Das ist Geld, mit dem Raketen und Bomben finanziert werden, die ukrainische Städte zerstören, so Sinani. Zur Verdeutlichung: Für 1,72 Milliarden Euro kann Russland 10.000 Shahed/Gerbera-3-Angriffsdrohnen kaufen - das am weitesten verbreitete Instrument des Terrors gegen friedliche ukrainische Städte.
Euronews hat bei deutschen Unternehmen nachgefragt
Euronews hat deutsche Unternehmen gefragt, warum sie sich nicht vollständig aus dem Geschäft in Russland zurückziehen?
"Aufgrund unserer Verantwortung für die rund 1.800 Mitarbeitenden und ihre Familien sowie für die jahrzehntelangen Partner der Hochland-Gruppe in Russland", antwortete der Käsehersteller Hochland auf Nachfrage von Euronews.
Die Hochland-Gruppe unterhält drei Werke in Russland: in der Region Moskau, in der Region Belgorod, im Dorf Prokhovka (etwa zwei Stunden von der ukrainischen Grenze entfernt), und in Belinsky, einer Kleinstadt in der Region Pensa.
Trotz des Krieges hält das Unternehmen am russischen Standort fest. Aussteigen? Fehlanzeige. Das Familienunternehmen verurteilt den "durch nichts zu rechtfertigenden Krieg der russischen Regierung gegen die Menschen in der Ukraine auf das Schärfste". Trotzdem hat der Käsehersteller nicht vor, seine Geschäftsteile in Russland zu verkaufen, trotz "erheblichem Rückgang der Rentabilität 2024", wie Hochland Euronews mitteilte.
Der russische Staat würde dann erst recht profitieren, hieß es. Hochland hat außerdem "die Hoffnung auf die perspektivische Rückkehr Russlands in die westliche Wertegemeinschaft noch nicht aufgegeben", hieß es in einem Schreiben an Euronews.
Es ist sehr kostspielig für Unternehmen, Russland zu verlassen. 2024 hatte das Land angekündigt, dass der Ausstieg für ausländische Unternehmen teurer wird. Das erklärte der russische Finanzminister Anton Siluanow, wie die russische Nachrichtenagentur Interfax berichtete. Die Steuer auf den Wert eines Geschäfts stieg von 15 Prozent auf insgesamt 35 Prozent. Der Rabatt, den diese Unternehmen auf den Verkaufswert des Vermögenswerts anbieten müssen, stieg ebenfalls, von 50 auf 60 Prozent.
Hinzu kommt: Bei Verkäufen ab 50 Milliarden Rubel (etwa 450 Millionen Euro) benötigen die Unternehmen das Einverständnis des russischen Präsidenten, Wladimir Putin wie der führende russische Wirtschaftsnachrichtensender RBK berichtete.
Hochland betreibt sein Geschäft an insgesamt sechs weiteren Stadnorten in Europa: mit vier Betrieben in Deutschland, drei in Polen, zwei in Rumänien, einem in Bulgarien, einem in Belgien, und einem in Spanien.
Wie viel des Gesamtumsatzes auf Russland entfällt und wie hoch die Steuern sind, die das Unternehmen dort einzahlen muss, wollte uns Hochland auf Nachfrage nicht mitteilen.
Laut der Federalen russischen Steuerbehörde beträgt die Gewinnsteuer für ausländische Unternehmen in Russland 25 Prozent, genauso viel wie für russische Unternehmen.
Doch Unternehmen zahlen in Russland nicht nur Steuern, sie machen auch Gewinn. Die KSE schätzt den Gesamtumsatz deutscher Unternehmen in Russland im Jahr 2024 auf rund 18.6 Milliarden Euro.
55 Prozent der vor der Invasion aktiven deutschen Unternehmen sind weiterhin in Russland tätig
Anfang Juli 2025 hatten sich laut der KSE nur 503 oder 12 Prozent der globalen Unternehmen vollständig aus Russland zurückgezogen, indem sie ihre Geschäfte verkauft oder liquidiert haben. Fast ein Drittel (33,2 Prozent oder 1.387 Unternehmen) hat den Betrieb eingestellt oder Pläne zum Rückzug angekündigt. 2.287 Unternehmen (54,8 Prozent) sind weiterhin auf dem russischen Markt tätig.
Auf Deutschland bezogen sind 55 Prozent der vor der Invasion aktiven deutschen Unternehmen weiterhin in Russland tätig, wie B4Ukraine Euronews mitteilte. Weitere 135 haben offiziell erklärt, dass sie ihre Geschäftstätigkeit vollständig einstellen, oder haben offiziell angekündigt, dass sie ihre Geschäftstätigkeit in Russland vorübergehend reduzieren werden. Nur 74 haben ihren Rückzug durch Verkauf oder Liquidation ihrer Geschäftstätigkeit abgeschlossen.
Doch Sinan warnt: Die Unterstützung deutscher Unternehmen reiche weit über Steuerzahlungen hinaus und umfasse auch die von ihnen unterstützten Lieferketten, sowie die bereitgestellten Technologien und Schulungen. "Durch ihren Verbleib in Russland laufen die deutschen Unternehmen Gefahr, in die russische Kriegsmaschinerie verwickelt zu werden."
Schwere Vorwürfe gegen den Gipshersteller Knauf
Genau dies wird dem Gips-Hersteller Knauf vorgeworfen. Laut Recherchen des ARD-Politikmagazins Monitor war das Unternehmen - indirekt - am Wiederaufbau von Mariupol durch Russland beteiligt. Ein Vertragshändler von Knauf hatte im Auftrag des russischen Verteidigungsministeriums ein Wohnprojekt mit Knauf-Baustoffen errichtet und damit öffentlich geworben.
Mariupol ist zum Sinnbild des brutalen Krieges in der Ukraine geworden. Nach der schweren Belagerung durch Russland im Frühjahr 2022 verwandelte sich die Stadt in eine Ruine. Menschen wurden getötet und vertrieben. Nun gleicht es einer modernen Baustelle. Mariupol soll eine russische Stadt werden. Bei der Auswertung von Bildern von der Baustelle waren Säcke mit der Firmenaufschrift "Knauf" zu sehen - eines der aktivsten deutschen Unternehmen in Russland.
"Wir weisen jegliche Vorwürfe entschieden zurück, diesen Krieg bzw. die Aufrüstung des russischen Militärs direkt oder indirekt zu unterstützen", antwortete Knauf auf Anfrage von Euronews. "Knauf unterhält keine vertraglichen Beziehungen mit dem russischen Verteidigungsministerium oder mit Behörden, die dem Ministerium unterstehen", so das Unternehmen.
Doch, wie konnten Knauf-Produkte dann zum Wiederaufbau von Mariupol eingesetzt werden?
Russische Tochtergesellschaften von Knauf würden keine Produkte an staatliche Stellen liefern, beteuert Knauf. Das Unternehmen erklärt: In Russland hergestellte Produkte würden nahezu ausschließlich an den unabhängigen Baustoffhandel verkauft. Es gäbe keine Möglichkeit, diese Händler anzuweisen, mit welchen Kunden sie nach dem Erwerb der Produkte Geschäftsbeziehungen unterhalten dürfen, so Knauf in einer schriftlichen Erklärung an Euronews.
Doch genau davor warnt Sinani: Der Preis, den die Unternehmen zahlen, sei viel höher als die Kosten für die Ausreise und das Verlassen des Landes. Denn es gehe um hunderttausende von Toten.
Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine haben nur 74 deutsche Firmen ihre Aktivitäten in Russland vollständig eingestellt
2024 kündigte Knauf den Ausstieg aus dem russischen Geschäft an. Bisher führten Gespräche mit einem potenziellen Käufer jedoch nicht zur Einigung, wie Knauf Euronews mit Bedauern mitteilte. Der Verhandlungspartner hätte die Gespräche abgebrochen, hieß es. Das Unternehmen prüfe derzeit weitere mögliche Optionen, um den Rückzug aus Russland umzusetzen, so Knauf zu Euronews.
"Seit Bekanntgabe des Rückzugs fließen der Knauf Gruppe keine Gewinne aus dem Russlandgeschäft mehr zu", hieß es außerdem. Das Geschäft in Russland laufe getrennt und werde vom lokalen Management geführt.
Investitionen in die Ukraine werden durch Aufrechterhaltung der russischen Wirtschaft geschwächt
Knauf betont außerdem sein Engagement für den Wiederaufbau und die fortlaufende Unterstützung der Ukraine. Es betreibt ein Werk mit 420 Mitarbeitenden in Kyjiw und baut im Westen des Landes zwei neue Werke. Knauf unterstütze die Ukraine darüber hinaus mit Produktspenden und der Renovierung zahlreicher Objekte wie Bildungseinrichtungen und Kliniken, hieß es.
Laut Sinan schwächen internationale Unternehmen in Russland jedoch die Investitionen, die in der Ukraine getätigt werden. So haben die deutsche Regierung und die deutsche Bevölkerung die Ukraine bisher mit einer Summe von 44 Milliarden Euro in Form von militärischer, humanitärer und finanzieller Hilfe unterstützt. Viele der deutschen Unternehmen, die weiterhin auf dem russischen Markt aktiv sind, würden diese Unterstützung untergraben und durch die Steuern, die sie zahlen, zur Aufrechterhaltung des Angriffskrieges beitragen, sagt Sinan.
Auch wirtschaftliche Sanktionen, die gegen Russland umgesetzt werden, seien deshalb nicht so effektiv, wie sie sein könnten, weil internationale Unternehmen, darunter auch deutsche, zum Wachstum der russischen Wirtschaft beitragen. Unternehmen stützen die Kriegswirtschaft Russlands nicht nur durch die Steuern, die sie zahlen, sondern auch durch die Lieferketten, die sie unterstützen, sowie die Technologie und Schulungen, die sie bereitstellen, erklärt der Chef von B4Ukraine.
Sanktionen wurden nicht "vollständig durchgesetzt"
Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine am 24. Februar 2022 hat die EU massive Sanktionen gegen Russland verhängt, zusätzlich zu den Maßnahmen, die seit 2014 aufgrund der Annexion der Krim und der Nichtumsetzung der Minsker Vereinbarungen gegen Russland verhängt wurden. Dabei handelt es sich neben Sanktionen gegen Einzelpersonen, diplomatischen Maßnahmen und Visamaßnahmen auch um Wirtschaftssanktionen. Die Maßnahmen sollen den größtmöglichen Druck auf Russland ausüben.
Doch der Krieg dauert nun schon seit drei einhalb Jahren. Warum wirken die Sanktionen scheinbar nicht so wie gedacht?
Der einzige Grund, warum manche Menschen nicht glauben, dass Sanktionen funktionieren könnten, ist, dass sie nicht vollständig durchgesetzt wurden, so Sinan. Damit meint er die Unternehmen, die nicht in der EU-Sanktionsliste enthalten sind, aber zur russischen Wirtschaft beitragen und eben indirekt auch zum Krieg.
"Lassen Sie die Schlüssel fallen und gehen Sie sofort"
Die Zahl der in Russland verbliebenen Unternehmen, beispielsweise aus Deutschland, sei "ungerechtfertigt hoch", findet der B4Ukraine-Chef. Es gäbe nicht genügend Druck und Unterstützung seitens der Regierung gegenüber diesen Unternehmen, um einen raschen Rückzug aus dem russischen Markt zu erreichen, so Sinan.
"Elf Jahre nach Beginn der Aggression Russlands gegen die Ukraine sehen wir nur sehr geringe Fortschritte, was den Rückzug dieser Unternehmen aus einem Markt angeht, der in direktem Zusammenhang mit der Finanzierung der Kriegsmaschinerie Russlands in der Ukraine steht", so Sinan zu Euronews.
Er fordert einen vollständigen Rückzug. Wie? "Lassen Sie die Schlüssel fallen und gehen Sie sofort", sagt Sinan. Denn es gäbe mittlerweile genügend Erfahrungen von anderen Unternehmen, wie das gemacht werden könne. Sinan empfiehlt, die Verluste abzuschreiben und Rechtsmittel durch internationale Schiedsgerichtsbarkeit zu suchen. Der B4Ukraine-Chef ist überzeugt: Es gibt keinen Grund, am Russland-Geschäft festzuhalten.