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Gedenken am 9. November - Steinmeier: Es ist an der Zeit, den Gefahren illusionslos ins Auge sehen

Steinmeier am 9. November 2025
Steinmeier am 9. November 2025 Copyright  AP
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Von Sonja Issel
Zuerst veröffentlicht am
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Am Tag des Gedenkens an die Reichspogromnacht und den Mauerfall hat Bundespräsident Steinmeier in einer Rede an den Mut und die Haltung der Gesellschaft appelliert. Antisemitismus sei „nie verschwunden“, die Demokratie bedroht und jeder Einzelne sei gefordert, „den Mund aufzumachen“.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in seiner Rede zum Gedenken an die Pogromnacht und den Mauerfall dazu aufgerufen, den 9. November als Moment der Selbstreflexion zu begreifen und den Zusammenhalt im Land zu stärken.

„Die liberale Demokratie steht unter Druck“, warnte Steinmeier. Populistische Bewegungen betrieben ein „Geschäft mit der Angst“, Tabus fehlten. Er warnte zugleich vor einer wachsenden Faszination für Autoritäres und betonte, Demokratie und Freiheit seien „so stark angegriffen wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik“ - durch Russland ebenso wie durch rechtsextreme Kräfte im Innern.

Kritik sei in einer Demokratie „nicht nur erlaubt, sondern nötig“, betonte Steinmeier. „Wer aber in den Extremismus flüchtet, verliert die Möglichkeit zur Mitgestaltung.“

Zwar mahnte der Bundespräsident, nicht in Alarmismus zu verfallen, sagte aber: „Es ist an der Zeit, dass wir den Gefahren illusionslos ins Auge sehen.“

Bundespräsident Frank‑Walter Steinmeier bei seiner Rede zum 9. November in Berlin
Bundespräsident Frank‑Walter Steinmeier bei seiner Rede zum 9. November in Berlin AP

Zugleich warnte er davor, politische Gräben weiter zu vertiefen. Wenn Mitte und Links sofort mit Begriffen wie Rechtsradikalität und Rassismus um sich werfen, rütteln sie selbst an der demokratischen Brandmauer, so Steinmeier. Themen wie Migration und Sicherheit dürften nicht automatisch mit Rassismus gleichgesetzt werden - sonst überlasse man sie den radikalen Rechten.

Mit Blick auf die Reichspogromnacht klagte Steinmeier, ausgerechnet „wir, die Nachfahren der Täter oder der Gaffer von 1938“, schafften es bis heute nicht, dem Antisemitismus entschieden Einhalt zu gebieten.

„Antisemitismus ist nicht zurück - er war immer da“, so der Bundespräsident. Seit dem 7. Oktober sei er auch in Deutschland sprunghaft angestiegen: von rechts, von links, von Menschen mit muslimischem Hintergrund und auch aus der Mitte.

Trotz Wohlstand, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit herrschten Unruhe, Unsicherheit, Rassismus und Antisemitismus. Die Gesellschaft leide, so Steinmeier, unter einem zunehmenden Motivationsverlust.

Er rief die Bürgerinnen und Bürger auf, nicht passiv zu bleiben: Man könne nicht mehr warten, bis der Sturm vorüberzieht. Es brauche „Demokraten, die den Mund aufmachen - im Parlament, beim Fußball, am Stammtisch, in der Schule, an der Bushaltestelle, am Arbeitsplatz.“

Erinnerungsveranstaltung im Schloss Bellvue

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach am Sonntagnachmittag bei einer Matinee in seinem Amtssitz. Begleitet wurde die Veranstaltung von den Schauspielern Jens Harzer und Marina Galic, die Texte von Autoren aus den jeweiligen Epochen deutscher Geschichte lesen.

Im Schloss Bellevue wurde an die Reichspogromnacht und den Mauerfall erinnert. Die Gedenkveranstaltung war musikalisch und literarisch untermalt.
Im Schloss Bellevue wurde an die Reichspogromnacht und den Mauerfall erinnert. Die Gedenkveranstaltung war musikalisch und literarisch untermalt. AP

Das Bundespräsidialamt erklärte im Vorfeld, der 9. November spiegele „sowohl die Aufbrüche zu Demokratie und Freiheit als auch den Schrecken von Gewaltherrschaft und Antisemitismus“ wider. Das Wissen um beides - um Mut und Menschlichkeit ebenso wie um Diktatur und Zerstörung der Menschenwürde - enthalte wichtige Lehren für die Gegenwart.

Mehrere Aktionen in der Bundesrepublik

Am Vormittag wurden vor dem Jüdischen Gemeindehaus in Berlin die Namen von 55.696 Juden verlesen, die während des Holocaust in der Hauptstadt ermordet wurden. Das Internationale Auschwitz-Komitee rief zu Solidarität mit den Überlebenden der Shoa auf.

Für sie sei der 9. November sowohl ein Tag des Gedenkens als auch ein Tag der Demokratie, erklärte Vizepräsident Christoph Heubner. „Die Überlebenden hoffen, dass sich die große Mehrheit der Menschen in Deutschland mit ihren Erinnerungen solidarisch zeigt - und die Demokratie gegen die Angriffe und Parolen rechtsextremer Populisten und Parteien stärkt und schützt“, sagte Heubner.

Im Zuge des Gedenkens an den Mauerfall hat Kulturstaatsminister Wolfram Weimer den Mut der Menschen in der damaligen DDR gewürdigt. „Der Fall der Mauer am 9. November 1989 war kein Geschenk des Schicksals, sondern die Ernte eines langen, mühsamen Kampfes mutiger, hoffnungsvoller Menschen für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte“, erklärte Weimer.

Anlässlich der Eröffnung einer neuen Dauerausstellung im Deutsch-Deutschen Museum Mödlareuth, das an die Geschichte der deutschen Teilung und ihre Folgen bis in die Gegenwarterinnert, betonte Weimer: "In Zeiten, in denen neue Mauern hochgezogen werden - nicht unbedingt aus Beton, vor allem aber in Köpfen und Herzen -, in denen Spaltung wieder zum politischen Programm erhoben wird, ist Mödlareuth ein Mahnmal."

Der 9. November: Ein Tag, der dreimal Geschichte schrieb

Kaum ein anderes Datum steht in Deutschland für so viele Wendepunkte - tragische wie hoffnungsvolle zugleich. Der 9. November markiert Brüche und Neuanfänge in der deutschen Geschichte: die Ausrufung der Republik 1918, die nationalsozialistischen Novemberpogrome von 1938 und den Fall der Berliner Mauer 1989.

1918: Die Geburt der Weimarer Republik

Am 9. November 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs, stand das Deutsche Reich vor dem Zusammenbruch. Nach Millionen Toten und Verwundeten verweigerten Soldaten den Gehorsam, Arbeiter und Matrosen streikten, Monarchen dankten ab. In Berlin rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Reichstagsgebäude aus die „Deutsche Republik“ aus - nur Stunden bevor Karl Liebknecht, Anführer der Spartakusgruppe, die „freie sozialistische Republik Deutschland“ proklamierte. Die Ereignisse leiteten den Übergang von der Monarchie zur parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik ein.

1938: Die Reichspogromnacht

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten im gesamten Deutschen Reich die Synagogen. Mitglieder von SA, NSDAP-Parteiorganisationen und andere Beteiligte zerstörten jüdische Geschäfte, Wohnungen und Gotteshäuser, misshandelten und töteten Juden. Etwa 30.000 Menschen wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt.

Die Gewalt dieser Nacht war staatlich organisiert und gezielt gelenkt. Auslöser war das Attentat eines jüdischen Jugendlichen in Paris, das die nationalsozialistische Führung zum Vorwand nahm, ihren Antisemitismus in offene Gewalt umzusetzen. Propagandaminister Joseph Goebbels schürte die Ausschreitungen mit einer Hetzrede. Die sogenannte Reichspogromnacht, auch Novemberpogrome genannt, markierte den Übergang von Diskriminierung zur systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas.

1989: Der Tag, an dem die Mauer fiel

Fast ein halbes Jahrhundert später wurde der 9. November auch zu einem Symbol der Freiheit. Am Abend des 9. November 1989 verkündete der DDR-Regierungssprecher Günter Schabowski in einer historischen Live-Pressekonferenz, dass Reisen ins Ausland ab sofort möglich seien - eine Aussage, die als sofort gültig verstanden wurde.

Binnen Stunden strömten tausende Ost-Berliner zu den Grenzübergängen. Überraschte Grenzsoldaten öffneten schließlich die Schlagbäume. Die Berliner Mauer fiel, und die friedliche Revolution ebnete den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands.

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