Joachim Gauck wendet sich gegen Boykottaufrufe gegen Israel, kritisiert aber zugleich das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen. In einem Interview mahnt der ehemalige Bundespräsident zu Maß und Differenzierung.
Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck hat sich gegen Boykottaufrufe gegen Israel ausgesprochen. In einem Interview mit dem Tagesspiegel wandte er sich insbesondere gegen Forderungen, Israel vom Eurovision Song Contest, aus Sportwettbewerben oder von wissenschaftlichen und kulturellen Kooperationen auszuschließen.
"Ich halte das für eine falsche Strategie, zumal viele der Betroffenen Gegner der Politik Netanjahus sind", sagte Gauck. Stattdessen müsse der Austausch gefördert werden.
Mit Blick auf die aktuelle Lage im Nahen Osten betonte er, Kritik am Vorgehen Israels sei legitim, müsse aber differenziert bleiben: "Für uns Deutsche sollte gelten: berechtigte Kritik - ja. Aber: das politische Bauwerk Israel ist insgesamt zu kostbar, als dass wir uns von denen trennen dürften, mit denen wir grundlegende Werte teilen."
Gauck über Israel: Kritik ja, aber keine Gleichsetzung mit Genozid
Gauck übte in dem Gespräch auch selbst deutliche Kritik an Israels militärischem Vorgehen im Gazastreifen. "Natürlich war Israels Verteidigung nach den mörderischen Attacken der Hamas am 7. Oktober gerechtfertigt", sagte er, "aber die Art der Kriegsführung überschreitet das Maß dessen, was ich akzeptieren kann."
Gleichzeitig lehne er es ab, für das israelische Vorgehen den Begriff Genozid zu verwenden. Dieser treffe auf den Holocaust zu, nicht jedoch auf die Lage in Gaza.
"Kriegsverbrechen, die Verletzung rechtlicher Normen überhaupt oder unverhältnismäßige militärische Gewalt und Zerstörung müssen benannt und kritisiert werden“, so der ehemalige Bundespräsident. Der Begriff Genozid dürfe jedoch nicht inflationär verwendet werden.
Indirekt äußerte Gauck auch Kritik an der israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu. "Was mich jetzt bestürzt, ist die derzeitige Rechtsaußen-Regierung. Viele meiner Freunde in Israel sind unzufrieden mit dieser Politik."
Zwar betonte er seine Wertschätzung für jene Kräfte in Israel, die sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen. Die Parteien am rechten Rand, auf die sich Netanjahu stütze, hätten jedoch "eine arrogante Sicht auf die palästinensische Bevölkerung" und erzeugten bei ihm "einen solchen Widerwillen" dass er froh sei, nicht nach Israel reisen zu müssen.
Gauck: Erschreckend, wem manche hinterherlaufen
Nach seiner Kritik an den rechten Kräften in Israels Regierung wandte sich Gauck auch der Situation in Deutschland zu. Mit Blick auf die politische Entwicklung im Land zeigte sich er sich besorgt über den Zulauf zu rechtsextremen Parteien.
"Es ist erschreckend, dass ein Teil unserer Wählerschaft Leuten hinterherläuft, die noch nie ihre gestalterischen Qualitäten nachgewiesen haben, noch über ein halbwegs plausibles Zukunftsszenario verfügen“, sagte der frühere Bundespräsident in Anspielung auf die AfD. „Was erwarten die von einer solchen Partei?“
Wie es derzeit um rechte Einstellungen in Deutschland steht hatte erst kürzlich eine Studie verdeutlicht. Laut neuen Ergebnissen der "Mitte-Studie" der Universität Bielefeld und der Friedrich-Ebert-Stiftung, die regelmäßig rechtsextreme Haltungen in der Gesellschaft untersucht, ist der Anteil der Menschen mit klar rechtsextremen Überzeugungen im Vergleich zur Vorgängerstudie von vor zwei Jahren zwar um 4,7 Prozentpunkte gesunken - von 8,0 auf 3,3 Prozent.
Im längeren Zeitvergleich bleibt das Niveau jedoch weitgehend stabil: Seit 2014 liegt der Anteil der Rechtsextremen zwischen zwei und drei Prozent.
Besorgniserregend sei laut Studie, dass mehr als jede und jeder Siebte autoritäre Regierungsformen befürwortet und rund jede fünfte Person offen für nationalistische oder extremistische Positionen ist. Zudem hätten abwertende Einstellungen gegenüber Asylsuchenden und Langzeitarbeitslosen in der gesellschaftlichen Mitte weiter zugenommen.
Gauck wirbt für einen starken Konservatismus
Als Antwort auf das Erstarken rechter Kräfte betont Gauck in seinem Interview mit dem Tagesspiegel auf eine Stärkung die Rolle der politischen Mitte. Es brauche, so der frühere Bundespräsident, einen stabilen Konservatismus, der Orientierung bietet und rechtsextremen Strömungen den Boden entzieht.
"Konservativ heißt, Bewahrenswertes zu bewahren und Veränderung behutsam zu gestalten, ohne Menschen zu überfordern", erklärte Gauck.
Rund ein Drittel der Bevölkerung habe strukturkonservative Prägungen und Bedürfnisse. Im derzeitigen Klime der raschen technologischen, politischen und kulturellen Veränderungen hätten viele derzeit einfach Angst.
"Wenn es da keine starke konservative Mitte gibt, die angemessen auf diese Ängste und Besorgnisse reagiert, wandern diese Wähler nach Rechtsaußen ab", warnte Gauck.
Beispiele aus Europa würden zeigen, dass kluges politisches Handeln dagegen wirken könne. So habe etwa Dänemarks sozialdemokratische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen auf die Sorgen vieler Bürger reagiert und dadurch und Wähler von den Rechtspopulisten zurückgewonnen.
Kampf gegen Antisemitismus: Grundgesetz verbietet "weder Dummheit noch Niedertracht"
Auch im Bezug auf das Thema Antisemitismus von rechts sieht Gauck zweifellos eine Bedrohung. Zugleich gebe es dagegen in Deutschland hierzu jeodch "gute Abwehrmechanismen".
Was dagegen lange vernachlässigt worden sei, so Gauck, sei die Auseinandersetzung mit Antisemitismus aus anderen gesellschaftlichen Milieus. "Etwa aus dem arabischen Raum, wo es völlig normal sein kann, mit antisemitischen Vorstellungen aufzuwachsen." Auch beim linken Antisemitismus gebe es seiner Ansicht nach noch immer Berührungsängste.
"Egal, wo Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit herrühren: Wir brauchen mehr Entschlossenheit beim Schutz der Menschenwürde", betonte Gauck. Das Grundgesetz verbiete "weder Dummheit noch Niedertracht". Negative Haltungen verschwänden nicht einfach, "egal ob sie bodenständig sächsisch und thüringisch oder arabisch und türkisch sind".
Für Gauck ist klar: Die Auseinandersetzung mit Hass dürfe nicht allein Sache des Staates bleiben. "Wir müssen uns mit denen auseinandersetzen, die Hass zu einem Teil ihres Lebens gemacht haben", sagte er. "Das gilt für alle Bürger, nicht nur für Institutionen."
Erster ostdeutscher Bundespräsident
Als erster Ostdeutscher wurde der frühere DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck im Jahr 2012 zum Bundespräsidenten gewählt. Geboren am 24. Januar 1940 in Rostock, engagierte sich Gauck schon früh in der evangelischen Kirche und später in der Bürgerrechtsbewegung der DDR.
Sein Name ist für viele untrennbar mit der Aufarbeitung des SED-Unrechts verbunden. Nach dem Ende der DDR leitete er die Behörde zur Verwaltung der Stasi-Unterlagen, die im Volksmund bald nur noch "Gauck-Behörde" genannt wurde.
Auch nach seiner Amtszeit blieb Gauck politisch und gesellschaftlich präsent. So mischte er sich beispielsweise im Jahr 2024 in die Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine ein und sprach sich dafür aus, dem Land auch Taurus-Marschflugkörper zur Verfügung zu stellen. Zugleich warf er der Bundesregierung eine zu große Zögerlichkeit bei der militärischen Unterstützung Kyjiws vor.
Erst kürzlich veröffentlichte er das Buch "Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht". Darin analysiert er, wie Populismus, autoritäre Strömungen und internationale Krisen das Vertrauen in die liberale Demokratie untergraben - und was es braucht, um sie zu verteidigen.