Der gemeinsame Suizid der Kessler-Zwillinge rückt eine seit Langem geführte Debatte erneut in den Fokus. Im Zentrum die Frage: Wo verläuft die Grenze zwischen Selbstbestimmung und dem Schutz von Menschen vor sich selbst? Der Caritasverband warnt derweil vor einer Romantisierung von Suiziden.
In Deutschland ist die aktive Sterbehilfe verboten. Gemeint ist damit die Tötung auf Verlangen durch Verabreichen eines tödlichen Mittels. Erlaubt sind jedoch das Beenden lebenserhaltender Maßnahmen nach Patientenwillen sowie indirekte Sterbehilfe, wenn stark wirksame Medikamente zwar nötig sind, das Leben aber verkürzen können. Auch assistierter Suizid ist straffrei, solange die betroffene Person entscheidungsfähig bleibt und das Mittel selbst einnimmt.
Zahlen steigen
Dass Suizidassistenz straffrei ist, gilt erst seit 2020. Damals erklärte das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidassistenz für nichtig.
"Geschäftsmäßig" meint dabei eine auf Wiederholung angelegte Tätigkeit - nicht kommerzielles Interesse. Das Gericht betonte: Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst auch die Inanspruchnahme freiwilliger Hilfe Dritter, unabhängig von einer Erkrankung.
Seit der Entscheidung beenden immer mehr Menschen ihr Leben mithilfe einer Infusion im Beisein eines Arztes. Etwa 1.200 waren es bundesweit im Jahr 2024. 2021 lag die Zahl noch bei rund 350.
Karlsruhe betonte bei seiner Entscheidung 2020 jedoch, dass eine Regulierung auch weiterhin möglich sei. Die wird aktuell von vielen gefordert.
Experten fordern genauere Regeln
So äußerte sich etwa der ehemalige Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Grundsätzlich sei er zwar ein Befürworter der Suizidassistenz, die derzeitige Rechtslage führe jedoch zu ethisch nicht vertretbaren Situationen, wie der SPD-Politiker der Rheinischen Post erklärte. Es gebe unter anderem nicht genügend Schutz für Menschen, die diesen Weg gingen, aber unter psychischen Erkrankungen litten, die ihre Entscheidungsfähigkeit einschränken könnten.
Auf der Plattform X fordert er kein Verbot. Es müsse jedoch verhindert werden, "dass Geld oder psychische Krankheiten die freie Entscheidung beeinflussen".
Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz kritisiert das Karlsruher Urteil von 2020 und damit die aktuelle Rechtslage. Vorstand Eugen Brysch warnte, Suizide in organisierter, jederzeit verfügbarer Form könnten die Gesellschaft entsolidarisieren. Es gebe zudem keine verlässlichen Kriterien, um die Autonomie einer Entscheidung zweifelsfrei festzustellen, und auch Druck durch Dritte lasse sich nicht ausschließen. Das Handeln einzelner Sterbehelfer müsse deshalb stärker strafrechtlich in den Blick genommen werden.
Die Münchner Palliativmedizinerin Johanna Anneser sieht im Gespräch mit dem BR ebenfalls großen Handlungsbedarf seitens der Legislative. Es müsse gewährleistet sein, "dass nicht ein Arzt allein entscheidet, sondern dass, je nach Konstellation, zusätzlich ein Sozialarbeiter oder Psychologe hinzugezogen wird, dass es eine sinnvolle Regelung für Wartezeiten gibt und dass genau dokumentiert wird, was die Motive der Menschen sind", so Anneser.
Zudem kritisiert sie, dass Sterbehilfeorganisationen und Ärzte derzeit weitgehend nach selbst auferlegten Regeln handeln.
DGHS im Zentrum der Kritik
Diese eigenen Regeln gelten auch bei der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). Sie unterstützt ihre Mitglieder bei der Erstellung und Durchsetzung von Patientenverfügungen sowie bei der Vermittlung einer Suizidassistenz. Ihre Arbeit stützt die DGHS auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2020.
Der Verein steht nun im Zentrum der aktuellen Debatte: Die beiden bekannten Sportlerinnen, die Kessler-Zwillinge – einst als Sängerinnen und Tänzerinnen international erfolgreich - haben am 17. November 2025 ihr Leben selbstbestimmt mithilfe von assistierten Suiziden beendet, die über die DGHS vermittelt wurde.
Alice und Ellen Kessler wurden als Sängerinnen, Tänzerinnen, Schauspielerinnen bekannt und haben sich international einen Namen gemacht. Die beiden wurden im sächsischen Nerchau geboren und haben in den Fernsehvarietés der 1950er und 1960er Jahre ein großes Publikum begeistert.
Nach Angaben der DGHS beginnt der Prozess mit einem Erstgespräch, das ein von der Organisation vermittelter Jurist führt, möglichst im Beisein von Angehörigen. Dabei werden Motive, persönliche Umstände und vor allem die Freiverantwortlichkeit des Suizidwunsches geprüft. Es folgt ein Zweitgespräch mit einer Ärztin oder einem Arzt, in dem medizinische und pflegerische Alternativen, insbesondere palliativmedizinische Optionen, erörtert werden.
Ergeben beide Gespräche, dass die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, wird ein Termin für den assistierten Suizid festgelegt. Bei der Durchführung seien stets ein medizinischer und ein juristischer Beistand anwesend; Angehörige können auf Wunsch teilnehmen.
Zu den Sicherheitsstandards zählen laut DGHS eine mindestens sechsmonatige Mitgliedschaft, ein schriftlicher Antrag sowie die Prüfung der medizinischen Unterlagen durch Arzt und Jurist im Vier-Augen-Prinzip. In beiden Gesprächen wird die Freiverantwortlichkeit jeweils erneut abgeklärt und dokumentiert.
Fall von Sterbehilfeaktivist sorgt für Aufsehen
Doch der Verein war erst vor wenigen Wochen in die Schlagzeilen geraten. Im Mai 2025 hatte der bekannte Sterbehilfeaktivist Florian Willet mit Unterstützung der DGHS Suizid begangen. Nach Recherchen des Spiegel verstieß man dabei jedoch offenbar gegen eigene Sicherheitsstandards: Willet war zum Zeitpunkt seines Todes erst seit rund zwei Monaten Mitglied, obwohl eigentlich eine sechsmonatige Wartezeit vorgesehen ist. Zudem fand das verpflichtende Erstgespräch nicht persönlich, sondern per Videocall statt.
Seine Arztberichte deuteten laut Spiegel zudem auf erhebliche psychische Probleme hin. Eine Fachärztin dokumentierte Hinweise auf paranoide Denkinhalte und Wahnideen; Willet erhielt ein Medikament, das üblicherweise bei Schizophrenie eingesetzt wird. In solchen Fällen ist Suizidhilfe rechtlich nur unter strengen Voraussetzungen zulässig – die im Fall der DGHS offenbar nicht erfüllt waren.
Im Oktober, kurz nach Bekanntwerden der Vorwürfe, bot DGHS-Präsident Robert Roßbruch dem Präsidium seinen Rücktritt an. Öffentlich äußerte er sich ebenfalls: In einem Interview auf der DGHS-Website sagte er, "jeder Fehler ist einer zu viel". Nach wenigen Tagen wurde das Gespräch jedoch wieder entfernt.
Caritas warnt vor Romantisierung
Neben den rechtlichen Bedenken rund um die Regulierung des assistierten Suizids gibt es auch Warnungen zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema. Besonders im Fall der Kessler-Zwillinge befürchtet der Deutsche Caritasverband eine Romantisierung der Suizidhilfe.
Immer wenn über Suizide prominenter Personen breit berichtet wird, steigt die Zahl der Suizide messbar an, ein Phänomen, das als „Werther-Effekt“ bekannt ist, so der Verband in einer Pressemitteilung.
Der Wunsch, "vereint" zu sterben, weil man "nicht ins Heim" wolle, erscheine in der öffentlichen Darstellung dabei oft als souveräne Entscheidung. Zu selten werde gefragt, ob dahinter nicht Ausweglosigkeit oder Verzweiflung stehe - Situationen also, in denen das soziale Umfeld hätte eingreifen und unterstützen können. Davon seien häufig ältere Frauen betroffen - diese fühlten sich häufig verantwortlich und wollen niemandem zur Last fallen, so Präsidentin Eva Welskop-Deffaa.
Generell dürften Suizide nicht als nachvollziehbar oder positiv dargestellt werden. Fast alle anderen Menschen überstünden schwere Lebenskrisen, ohne sich das Leben zu nehmen - das gelte auch für ältere oder schwerkranke Personen. Zu oft werde zudem vergessen, dass ein Suizid für nahestehende Angehörige, Freunde oder Menschen aus dem schulischen und beruflichen Umfeld selbst zu einer schweren psychischen Belastung werden kann.
Der Deutsche Caritasverband plädiert seit Langem für eine deutliche Stärkung der Suizidprävention und fordert die gesetzliche Verankerung entsprechender Maßnahmen.
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Wenn Sie selbst unter Depressionen leiden oder Suizidgedanken haben, suchen Sie bitte umgehend Hilfe. Die Telefonseelsorge ist kostenlos und rund um die Uhr erreichbar – telefonisch unter 0800 / 111 0 111, 0800 / 111 0 222 oder 116 123, sowie online unter www.telefonseelsorge.de.
Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bietet werktags tagsüber Unterstützung unter 0800 / 33 44 533.