Müssen die Natur und die Berge auch im Sommer vor zu viel Tourismus geschützt werden?

La Chartreuse in Frankreich
La Chartreuse in Frankreich Copyright Diverticimes
Von Ophélie BarbierEuronews
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Immer mehr Menschen zieht es in die freie Natur und auch in die Berge - wie schädlich ist das für die Alpen und andere Naturschutzgebiete? Müssen die Besucherzahlen begrenzt werden?

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Der von Erosion bedrohte Nationalpark Calanques mit den malerischen Buchten bei Marseille in Südfrankreich wird seine tägliche Besucherzahl auf 400 Personen beschränken. Gefährlich für die Biodiversität: Massen an Touristinnen und Touristen stören das biologische Gleichgewicht der Ökosysteme am Meer, aber nicht nur dort. In Frankreich leiden auch Naturräume im Hochgebirge unter zu vielen Besucherinnen und Besuchern. Es ist auch von "overtourism" die Rede - vom "Übertourismus".

"Vor zehn oder fünfzehn Jahren gab es noch Perioden im Jahr mit weniger Tourismus. Heute gibt es in der Chartreuse keine mehr". Für Suzanne Foret - seit 2011 Konservatorin des nationalen Naturschutzgebiets Hauts de Chartreuse - ist die Entwicklung der Besucherzahlen in den Bergen bei Grenoble in den französischen Alpen besorgniserregend. Mithilfe eines ôkologischen Zählsystems beobachtet die Kuratorin seit dem Ausbruch der Coronaopandemie einen deutlichen Anstieg der Besucherzahlen.

"Der erste starke Anstieg war eklatant. An bestimmten Stellen stiegen die Zahlen an einem Tag von 1500 auf 3000 Durchgänge", erläutert Suzanne Foret. Sie begründet diese wechsenden Besucherzahlen mit den verschiedenen Phasen nach dem Lockdown. Sie sagt, dass "die Menschen ein enormes Bedürfnis nach Raum und Freiheit hatten, sie waren begierig darauf, draußen zu sein".

Boris Horvat/AP
Port Miou in Cassis - die Calanques bei Marseille 2015Boris Horvat/AP

Gefährdung der biologischen Vielfalt

Als Folge der vielen Besucherinnen und Besucher im Naturschutzgebiet kam es 2020 zu Konflikten zwischen den Älplern und Älperinnen sowie Touristinnen und Touristen. "Die Spaziergänger stellten ihre Zelte an ungeeigneten Orten auf, sie nutzten die Wasserbecken der Älpler, die für die Tränkung der Tiere bestimmt waren, um ihr Bier kaltzustellen sie hinterließen Abfälle und liefen mit Hunden herum, obwohl dies verboten ist ... eine Kuh verschluckte sogar ein herumliegendes T-Shirt", berichtet Suzanne Foret, die das Auftauchen eines neuen Publikums bemerkt, das oft aus den Städten kommt und "die Codes der Berge nicht kennt".

Die Herausforderung besteht darin, den Wanderern klarzumachen, dass sie nicht allein sind.
Suzanne Foret
Konservatorin des Naturschutzgebiets Chartreuse
JEAN-PIERRE CLATOT/AFP
In der Grotte von Choranche im Vercors in FrankreichJEAN-PIERRE CLATOT/AFP

Da die Chartreuse und die Belledonne-Kette weniger als eine Stunde von großen Ballungszentren wie Grenoble oder Chambéry entfernt sind, sind die Naturschutzgebiete gezwungen, bestimmte touristische Praktiken auf ihrem Terrain zu verbieten. Dies gilt beispielsweise für den Wintersportort Chamrousse, wo das Biwakieren im Sommer seit 2021 am über 1900 m hoch gelegenen Lac Achard strengstens untersagt ist.

Das Aufstellen von Zelten ist gefährlich für die Böden, da es das Gras der Herden abbaut, ebenso wie das Anzünden von Lagerfeuern. "Im Jahr 2020 haben wir eine Vervielfachung der Feuerstellen bemerkt. In großen Höhen erholen sich die Böden nur sehr langsam. Für zehn Zentimeter zerstörten Boden braucht es zwischen 15 000 und 40 000 Jahren, damit sie sich wieder aufbauen", betont Suzanne Foret.

Angesichts der vielen Besucherinnen und Besucher besteht die große Herausforderung nach Ansicht der Konservatorin heute darin, "den Raum zwischen den Nutzern und der Natur zu teilen, um den Spaziergängern zu vermitteln, dass sie nicht allein sind". Ihrer Meinung nach ist es heute "für die Tierwelt kompliziert, ruhige Orte zu finden, da die biologische Vielfalt für ihre langfristige Erhaltung Ruhezonen benötigt".

Coralie Barbier
Le Grand Veymont im Vercors in FrankreichCoralie Barbier

Biologische Vielfalt und menschliche Nutzung in Einklang bringen

Lauren Mosdale ist seit August 2021 als Beauftragte für sensible Naturräume (Espaces naturels sensibles, ENS) im Vercors-Massiv tätig, das ebenfalls in den französischen Alpen liegt. Sie konzentriert ihre Arbeit auf zwei Gebiete: das Gebiet der Falaises du Moucherotte und das Plateau des Ramées. Lauren Mosdale beobachtete, wie in der Chartreuse, die Ankunft eines Publikums von "neuen Bergbewohnern". In Bezug auf den Teil des Vercors, der im Norden des Departements Isère liegt, spricht sie jedoch nicht von Überfüllung, sondern von Spitzen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftauchen.

In den Naturgebieten, die sie betreut, sind bestimmte Zeiten anfälliger für Besucherspitzen als andere: Lauren Mosdale nennt als Beispiel den April, in dem die Flora ihren Vegetationszyklus durchläuft. In dieser Phase erwacht auch das Birkhuhn, eine Bergvogelart, aus dem Winterschlaf und beginnt mit der Fortpflanzungsperiode.

"Ein Höhepunkt der Besucherzahlen kann daher die Tiere aufscheuchen, die Schutzhunde, die von Juni bis September anwesend sind, stressen, Nutzungskonflikte zwischen den Akteuren eines Lebensraums hervorrufen ...", zitiert Lauren Mosdale. Die Erhaltung der biologischen Vielfalt und die Anwesenheit von Menschen miteinander in Einklang zu bringen, erweist sich also als komplex und wird durch das Aufkommen neuer Sportarten noch verschärft.

Die Vercors-Kennerin nennt als Beispiel Highline, eine Sportart, bei der man sich auf einem Gurtband in der Höhe fortbewegt. Im April waren Highliner auf einer Klippe in der Nähe des Pic du Moucherotte: Sie hatten ihre Seile über Nesten gespannt und trainierten über einer Brutstätte des Wanderfalken, einer geschützten Vogelart.

Laurent Gillieron/AP
Highline im Moleson Park in der SchweizLaurent Gillieron/AP

Um derartigen Störungen entgegenzuwirken, ermöglicht die Anwendung Biodiv'sports, die zum Teil von der Vogelschutzliga (LPO) entwickelt wurde, die Abgrenzung von Gebieten mit hoher Umweltempfindlichkeit, um Sportlerinnen und Sportlern, insbesondere beim Gleitschirmfliegen, zu informieren und sie an Orte zu leiten, die die Artenvielfalt nicht gefährden.

"Enteignung des Lebensraums"

Neben den quantitativen Auswirkungen können Touristenströme auch "qualitative" Folgen haben. Lauren Mosdale erklärt, dass einige Einheimische berichten, dass sich ihr Gefühl der Ruhe in die falsche Richtung entwickelt hat: "Seit der Corona-Pandemie und den vielen Besucherinnen und Besuchern spüren einige Einheimische, dass ihre Ressource Wohlbefinden, die mit ihrem Naturkapital verbunden ist, abnimmt, eine Art Enteignung ihres Lebensraums".

Projekte, die die Präsenz des Menschen mit dem Erhalt der Biodiversität in Einklang bringen, werden eingesetzt, um die unterschiedlichen Besucherzahlen zu kanalisieren. Auf den Plateaus von La Molière und Sornin im Vercors wurde beispielsweise durch die Sperrung der Straße und die Organisation von Pendelfahrten versucht, dem Touristenansturm im Sommer entgegenzuwirken. Lauren Mosdale nennt einige Lösungen, um die potenziellen Auswirkungen von zu vielen Besucherinnen und Besuchern in den Bergen in den Griff zu bekommen: "Kostenlose Führungen machen, Lehrmittel erstellen, Ausflüge zwischen Kletterern und Botanikern organisieren".

Die Konservatorin des Naturschutzgebiets Hauts de Chartreuse, Suzanne Foret, meint jedoch, dass selbst wenn alle die Umwelt respektieren würden, sich dennoch die Frage nach der Anzahl der Personen pro Schutzgebiet stellen würde. Sie verweist auf die Belastbarkeit, die eine Umwelt aushalten kann, bevor sie sich verschlechtert. "Ist die Natur in der Lage, all dies zu absorbieren?", lautet ihr Fazit.

Um die biologische Vielfalt der Naturräume zu erhalten, verfolgen einige Parks in Frankreich daher neue Strategien. Ähnlich wie in den Calanques bei Marseille, wo die Besucherzahlen künftig von 2500 Personen pro Tag auf 400 sinken werden, plant Korsika ab diesem Sommer die Einführung von Quoten auf den Lavezzi-Inseln, um die Touristenströme zu steuern.

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