"Zu russischen Patrioten umerzogen": Wie Moskau ukrainische Kinder in Lager verschleppt

Ukrainische Kinder werden mit einem Bus in ein Flüchtlingslager der russischen Behörden gebracht.
Ukrainische Kinder werden mit einem Bus in ein Flüchtlingslager der russischen Behörden gebracht. Copyright Pavel Golovkin/AP
Von Lily RadziemskiEuronews mit dpa
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Russland soll Tausende ukrainische Kinder verschleppt und in Umerziehungscamps gebracht haben. Es gehe darum, "eine ganze Generation zu kidnappen", sagt eine NGO.

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Der Internationale Strafgerichtshof hat Ende vergangener Woche Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und dessen Beauftragte für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa, erlassen.

Sie seien mutmaßlich verantwortlich für die Deportation ukrainischer Kinder aus besetzten Gebieten nach Russland. „Die Vorwürfe sind in der Tat schwerwiegend“, sagte Khan. „Die Ukraine ist ein Tatort, es sind viele Arten von Vorwürfen eingegangen.“

Bei der Konferenz unter Vorsitz Großbritanniens und den Niederlanden warf der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin russischen Soldaten „Gräueltaten“ und „rücksichtslose“ Angriffe auf Zivilisten vor. Russland habe Tausende ukrainische Kinder auch aus Waisenhäusern und Kinderheimen verschleppt.

Dass russische Behörden Adoptionen vereinfachten und Kinder im Schnellverfahren zu russischen Staatsbürgern machten, sei klarer Beweis für einen Plan, „die Verbindungen zur Ukraine zu kappen und ihr ukrainisches Erbe zu verändern“. Seine Behörde habe bisher Ermittlungen in 72.000 mutmaßlichen Fällen von Kriegsverbrechen begonnen.

Russland hat verschiedene Taktiken, um ukrainische Kinder in von Moskau kontrollierte Gebiete zu verschleppen. Oft werden Heimkinder unter dem Vorwand der Evakuierung deportiert, andere werden in Auffanglagern von ihren Familien getrennt.

In vielen Fällen schicken die Familien ihre Kinder auch selbst in Flüchtlingslager in den besetzten Gebieten, in der Hoffnung, sie vor den Kämpfen in Sicherheit zu bringen. Dann bricht plötzlich der Kontakt ab und die Kinder verschwinden.

Die meisten dieser Kinder landen in "Umerziehungslagern", werden illegal von russischen Familien adoptiert oder verschwinden ganz von der Bildfläche. Ziel der Verschleppungen ist laut US-Außenministerium unter anderem eine "pro-russische patriotische" und militärartige Erziehung.

Verzweifelte Suche nach verschleppten Kindern

Auch Ljudmila Motychak aus der hart vom Krieg getroffenen ukrainischen Stadt Cherson hat ihre Tochter monatelang an das russische Regime verloren. Sie schickte die 15-jährige Anastasia im Oktober vergangenen Jahres auf die Krim, nachdem der Direktor von Anastasias Ausbildungsstätte die Mutter dazu überzeugt hatte.

Er schlug vor, das Mädchen in eine Art Wellness-Zentrum auf der von Russland annektierten Schwarzmeerhalbinsel zu schicken, wo sie sich erholen könne – und vor dem Krieg fliehen. Die Mutter war skeptisch, aber "der Direktor war sehr überzeugend" und so willigte Motychak schließlich ein. Vorher seien bereits andere Studierende dorthin gefahren und sicher wieder zurückgekehrt.

Doch die Dinge liefen nicht wie geplant. "Zuerst hieß es, die Kinder würden nicht länger als zwei Wochen bleiben", so Motychak im Interview mit Euronews. "Dann fingen sie an, das Datum immer weiter nach hinten zu verschieben. Sie sagten: 'Keine Sorge, sie kommen Ende Oktober zurück, dann im November... und dann noch später.'"

Der Direktor sagte Motychak, sie müsse Anastasia persönlich abholen. Kurz nachdem die ukrainischen Streitkräfte Cherson zurückerobert hatten, brach dann aber jeder Kontakt zwischen der Mutter und dem Direktor ab. Im Nachhinein glaubt sie, dass er mit Russland kollaboriert hat und dann fliehen musste, als die Ukraine die Kontrolle über Cherson zurückerlangte.

Die Mutter hatte große Angst um ihre Tochter, blieb aber über die Messenger-App Telegramm sporadisch mit Anastasia in Kontakt. Sie wandte sich an mehrere Organisationen und bat sie um Hilfe, um ihre Tochter zurückzuholen.

In der Zwischenzeit war Anastasia mit Windpocken in ein Krankenhaus verlegt worden. Motychak glaubt, dass nur das Anastasia davor bewahrt hat, in ein Umerziehungsheim nach Russland geschickt zu werden.

Im November setzte sich die Mutter schließlich in Cherson in eine Fähre und setzte auf die von Russland besetzte Krim über. Sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb, um Anastasia zu retten. Am Ende konnten sich Mutter und Tochter im Krankenhaus wieder in die Arme schließen.

NGOs und Hotline helfen beim Aufspüren der Verschleppten

"Eigentlich müssen die Kinder bei der Rückreise von einem Elternteil oder einem anderen Vormund begleitet werden", sagt Laura Mills von Amnesty International im Gespräch mit Euronews.

Doch eine Reise über Tausende von Kilometern – noch dazu in ein vom Feind besetztes Gebiet – sei gefährlich, teuer und riskant. Und viele Eltern wüssten meist gar nicht, wo sie mit der Suche anfangen sollen, wenn die Kinder einmal verschwunden sind.

"Wir setzen uns dafür ein, dass eine Art Familienermittlungssystem geschaffen wird. Die Last sollte nicht allein den Eltern in der Ukraine aufgebürdet werden. Sie können die Reise und das Heimholen der Kinder nicht allein organisieren“ so Mills weiter.

Die Hilfshotline 116000 und NGOs wie „Magnolia“, „Save Ukraine“, das Onlineportal „Children of War“ arbeiten mit den ukrainischen Behörden zusammen, um vermisste Kinder zu melden und aufzuspüren. Doch ihre Möglichkeiten sind begrenzt.

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"Oft sind es Freiwillige oder andere Personen, die den Aufenthaltsort der vermissten Person kennen und ihr dann helfen, sich zu melden", erklärt Mills. "Das wird nicht vom russischen Staat oder den Kinderschutzdiensten organisiert. Im Idealfall würde man von Regierung zu Regierung Kontakt aufnehmen und sagen: 'Ok, hier sind alle Kinder, die seit Kriegsausbruch nach Russland gekommen sind', und alle verfügbaren Informationen weitergeben. Aber das passiert nicht.“

Namensänderungen, neue Pässe, illegale Adoptionen

Ganz im Gegenteil: Moskau versuche die Kinder an russische Familien zu vermitteln, stelle Adoptionen als Akt der Wohltätigkeit dar und verbreite in sozialen Medien Videos ukrainischer Kinder in Umerziehungslagern. Die Kinder singen dabei oft die russische Nationalhymne oder tragen die russische Flagge.

"Namensänderungen, neue Pässe, illegale Adoptionen. Die Propaganda funktioniert. Russland tut so, als würde es diese Kinder retten und ihnen ein besseres Leben in Russland ermöglichen", sagte Aagje Ieven, Generalsekretärin von „Missing Children Europe“.

Ironischerweise helfe die von Russland verbreitete Propaganda der Ukraine immer wieder dabei, die Kinder aufzuspüren.

Die Universität Yale und das Programm Conflict Observatory des US-Außenministeriums haben vor Kurzem einen Bericht zu den Verschleppungen veröffentlicht. Er stützt sich vor allem auf öffentlich zugängliches Material wie Posts in sozialen Medien, Fotos und Posts, die russische Regierungsvertreter selbst veröffentlicht haben.

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"Wir haben diese Inhalte für unsere Studie übersetzt, sie waren alle öffentlich zugänglich", sagt Nathaniel Raymond vom „Yale Humanitarian Research Lab“. In ihrer Untersuchung konnte sie 43 Umerziehungszentren ausmachen – von Sibirien bis nach Magadan in Südrussland.

"Wir glauben, dass es tatsächlich noch viel mehr dieser Heime gibt. Das Ganze ist ein komplexes logistisches System mit militärischen Zügen", fügt Raymond hinzu. "Dieses System ist weit verstreut und geografisch gesehen enorm groß.“

Ukrainische Kinder in russische verwandeln

Normalerweise gibt es in Kriegszeiten ein Moratorium für Adoptionen. Ziel muss immer sein, vorher die eigentlichen Familien aufzuspüren und sie wieder mit den Kindern zusammenzuführen.

Doch nach der Annexion der Halbinsel Krim durch Russland, die von der internationalen Gemeinschaft als völkerrechtswidrig eingestuft wurde, tauchten schon seit 2014 immer wieder Spuren dieser Umerziehungslager auf.

Im vergangenen Frühjahr lockerte Moskau dann seine Adoptionsvorschriften, um es russischen Staatsbürgerinnen und -bürgern zu erleichtern, unbegleitete ukrainische Kinder zu adoptieren. Diese bekamen dann die russische Staatsbürgerschaft.

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Vieles deutet laut den NGOs darauf hin, dass die ukrainischen Kinder mit zu „russischen Patrioten“ umerzogen werden sollen. Ist die Zwangsadoption einmal abgeschlossen, ist es für die eigentlichen Eltern in der Ukraine fast unmöglich, die Kinder zurückzubekommen.

"Sie werden ihrer nationalen Identität beraubt und das ist ganz klar ein Verstoß gegen das Völkerrecht", sagt Mills. "Die neuen russischen Adoptionsgesetze sind eine große Gefahr für die Kinder. Sie können einfach spurlos in der russischen Gesellschaft verschwinden."

Und zwar für immer. "Es geht quasi darum, eine ganze Generation zu kidnappen", sagt Ieven. "Wenn man es schon nicht schafft die Ukraine ganz zu erobern, macht man eben junge Ukrainerinnen und Ukrainer zu Russen.“

Das Interview mit Ljudmila und Anastasia Motychak wurde von Salvatore Del Gaudio, Professor für slawische Philologie und Linguistik an der Universität von Salerno, über Zoom ins Italienische übersetzt und danach ins Deutsche.

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