Ein turbulentes Jahr hat den Wählern eine Schockwelle beschert. Wer hat sie am besten genutzt, um sich Einfluss in Europa zu sichern?
Das Jahr 2024 war geprägt von politischen Erschütterungen, die einige europäische Spitzenpolitiker zu Fall brachten, während andere ihre Macht geschickt ausbauen konnten.
Wahlen von Paris bis Bukarest, ein anhaltender Krieg, wirtschaftliche Flauten und der überraschende Wahlsieg von Donald Trump in den USA haben in Brüssel und darüber hinaus für Unruhe gesorgt.
Einige Staats- und Regierungschefs konnten die Krise nutzen, um ihre Position zu stärken und Einfluss auf die EU-Agenda zu nehmen. Andere hingegen erlebten herbe Rückschläge.
Euronews blickt auf die Gewinner und Verlierer eines turbulenten Jahres.
1. DIE GEWINNER
Donald Tusk: Die Gegenwehr
Polen, einst das Sorgenkind der EU, hat unter Donald Tusk eine politische Kehrtwende erlebt. Als prominentes Mitglied der Europäischen Volkspartei und Verbündeter von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Tusk eine klare proeuropäische Linie eingeschlagen – insbesondere in der Ukraine-Frage.
Doch innenpolitisch bleibt die Lage angespannt: Zwar sind die Umfragewerte seiner rechtspopulistischen Rivalen gesunken, seit sie Ende 2023 abgewählt wurden, doch sie bleiben ihm dicht auf den Fersen.
Dennoch hat Tusk in Brüssel Fuß gefasst. Eine seiner ersten Maßnahmen, die Aussetzung von Asylvorschriften und die Legalisierung von Pushbacks, fand überraschend schnell Unterstützung in der neuen EU-Kommission.
Pedro Sánchez: Der strategische Netzwerker
Der spanische Ministerpräsident hat seine Position als Schlüsselfigur im EU-Machtgefüge weiter ausgebaut.
Trotz eines generellen Anti-Establishment-Trends bei den EU-Wahlen im Juni konnte seine Delegation ihre starke Position in der sozialdemokratischen Fraktion halten.
Sánchez sicherte sich zudem strategische Erfolge: Seine Finanzministerin Nadia Calviño wurde 2023 Chefin der Europäischen Investitionsbank, und seine Regierung erhielt einflussreiche Ressorts in der neuen EU-Kommission – darunter die Klima- und Wettbewerbspolitik unter Teresa Ribera.
Mario Draghi und Enrico Letta: Der lange Schatten Italiens
Die ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten sind zwar nicht mehr direkt in der Politik aktiv, doch ihre Stimme hallt in Brüssel nach.
Beide veröffentlichten 2024 einflussreiche Berichte, die das schwache Wirtschaftswachstum der EU anprangerten und konkrete Reformvorschläge präsentierten – von Subventionsfonds bis zum Abbau bürokratischer Hürden.
Ihre Forderungen prägen nun die Prioritäten der neuen EU-Kommission, insbesondere angesichts drohender Handelskonflikte mit den USA unter Trump.
2. DIE VERLIERER
Emmanuel Macron: Von Einheit zu Isolation
Frankreichs Präsident hat eines der schwersten Jahre seiner Amtszeit hinter sich. Nach einer Wahlniederlage gegen die rechtsextreme Rassemblement National verlor er seine Mehrheit in der Nationalversammlung.
Sein Versuch, eine Regierung unter Michel Barnier zu bilden, scheiterte, und nun steht sein Nachfolger François Bayrou vor der Herausforderung, ein klares Budget für 2025 aufzustellen.
Macron, einst Symbol für ein starkes und geeintes Europa, wirkt zunehmend isoliert.
Olaf Scholz: Der Motor kehrt um
Der deutsche Kanzler kämpfte 2024 mit internen Koalitionskonflikten, die nicht nur Berlin, sondern auch Brüssel belasteten.
Streitigkeiten zwischen SPD, Grünen und FDP führten zu mehrfachen Kurswechseln bei EU-Gesetzen, was Deutschlands Verlässlichkeit in der EU zunehmend infrage stellte.
Die Lage eskalierte im November, als die FDP die Koalition verließ. Scholz sah sich gezwungen, Neuwahlen für Februar 2025 auszurufen.
Klaus Iohannis: Das Machtvakuum
Rumäniens Präsident hat sein Amt turnusgemäß verlassen, doch die unklare Nachfolge wirft einen Schatten auf sein Vermächtnis.
Nach einem umstrittenen Wahlsieg des rechtsextremen Kandidaten Călin Georgescu erklärte der Oberste Gerichtshof die Ergebnisse für ungültig, und das Land steht vor einer Wiederholung der Wahlen.
Iohannis’ eigene Zukunft bleibt ungewiss: Er galt als Spitzenkandidat für wichtige EU-Posten, und bewarb sich auch für den NATO-Posten, verlor aber gegen Rutte.
3. ZU BEOBACHTEN
Mark Rutte: Eine gemischte Sache
Mark Rutte erlebte ein ereignisreiches, durchwachsenes Jahr: Im Juli trat der Liberale nach 14 Jahren als niederländischer Ministerpräsident zurück. Seine Partei ging anschließend eine Koalition mit der Freiheitspartei von Geert Wilders ein und brach damit erstmals das Tabu, mit der extremen Rechten zusammenzuarbeiten.
Kurz darauf übernahm Rutte die Leitung der NATO. Diese Position bringt großes Ansehen, aber auch erhebliche Herausforderungen mit sich. Das Militärbündnis sieht sich derzeit mit schwierigen Bedingungen konfrontiert.
Zwar wurde die NATO durch die Aufnahme Finnlands und Schwedens gestärkt, und ihr Verteidigungsauftrag ist angesichts Russlands Kriegspolitik zentraler denn je. Doch die größte Gefahr droht von innen: Donald Trump hat angedroht, die militärische Unterstützung der USA zu reduzieren, was die Allianz destabilisieren könnte.
Viktor Orbán: Der Abweichler
Der ungarische Regierungschef ist in Brüssel kaum angesehen.
Seine EU-Ratspräsidentschaft, die normalerweise eine prestigeträchtige Bühne darstellt, wurde von Boykottaufrufen und Protesten überschattet. Grund dafür waren seine Besuche in Moskau und Peking, bei denen er behauptete, die EU zu vertreten.
Luxemburgs Gerichte verhängten gegen seine Regierung eine Strafe von einer Million Euro pro Tag wegen der Nichtumsetzung der Asylgesetze. Zudem hat er nach dem Regierungswechsel in Warschau seinen wichtigsten Verbündeten verloren. Gleichzeitig holt ihn sein ehemaliger Parteikollege Péter Magyar in den Umfragen ein.
Trotzdem bleibt er in Brüssel ein einflussreicher Akteur. Sein oft genutztes Vetorecht in der Ukraine-Politik hat ihm zwar wenig Sympathien, aber erheblichen politischen Einfluss verschafft.
Außerdem gelang es ihm, eine rechtsextreme Fraktion im Europaparlament zu formen – gemeinsam mit Marine Le Pens Partei. Die Gruppe „Patrioten für Europa“ ist mit 86 Abgeordneten inzwischen die drittstärkste Kraft im Parlament. Ein mögliches Zusammenspiel mit einer künftigen Trump-Regierung könnte seinen Einfluss weiter stärken.
Keir Starmer: Es kann nur besser werden
Bei den britischen Wahlen im Juli gewann Keir Starmer mit dem Versprechen, die Beziehungen zur EU zu verbessern.
Nach den Brexit-Streitigkeiten, die Boris Johnsons Regierung hinterlassen hatte, können die Beziehungen zu Brüssel kaum schlechter werden.
Engere Beziehungen zu einem Handelspartner und einer Atommacht sollten in Brüssel auf Zustimmung stoßen – gerade angesichts wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Herausforderungen.
Doch Starmer schließt eine Rückkehr in den EU-Binnenmarkt aus. Seine bisherigen Signale, etwa ein Treffen mit Kommissionschefin von der Leyen, blieben daher vorsichtig.