Während die Ukraine nach dem Einmarsch Russlands in das vierte Jahr des Krieges eintritt, sehen sich die ukrainischen Streitkräfte mit einer wachsenden Krise konfrontiert.
Die anfängliche Welle von Freiwilligen, die ihr Land verteidigen wollten, ist abgeebbt, so dass das Militär Schwierigkeiten hat, seine Reihen wieder aufzufüllen. Die erschöpften Truppen an der Front brauchen dringend Verstärkung, doch immer mehr ukrainische Männer versuchen, sich der Einberufung zu entziehen.
Schwindende Freiwillige, zunehmende Verweigerung
In ganz Kiew fordern Plakatwände und Online-Kampagnen die Bürger auf, sich zu melden. Die Armeebrigaden haben direkte Befugnisse zur Rekrutierung erhalten, wodurch die Mobilisierungsbemühungen verstärkt werden. Der Enthusiasmus für die freiwillige Einberufung hat jedoch nachgelassen und wurde durch eine wachsende Abneigung vieler Männer ersetzt, dem Ruf zu den Waffen zu folgen.
Einer von ihnen ist Aslan (sein richtiger Name ist nicht bekannt), der sich selbst als "Verweigerer" bezeichnet. Aus Angst vor einer Zwangsrekrutierung hat er seinen Tagesablauf angepasst, um sich den Behörden zu entziehen.
"Es wurde zu gefährlich, auf die Straße zu gehen", sagt er.
Der 30-Jährige, der früher ein aktives Mitglied seiner Gemeinde war, verlässt sein Haus jetzt nie ohne Auto. Er scrollt durch sein Telefon und zeigt Videos von Soldaten, die Fahrzeuge anhalten, Papiere überprüfen und wehrdienstfähige Männer festnehmen.
"Die Leute werden gefasst und zur Armee und an die Front geschickt", erklärt er. "Ich unterstütze die Mobilisierung, weil wir unser Land schützen müssen, aber nicht auf diese Weise. Das ist nicht demokratisch. Sie sollte auf guten Bedingungen und Verträgen beruhen. Man sollte in einem militärischen Fachgebiet ausgebildet werden. Wenn man zwangsmobilisiert wird, hat man keine andere Wahl, als an die Front zu gehen.
Die Frontlinie um jeden Preis meiden
Trotz der Bemühungen der Regierung, die Rekrutierungsbedingungen zu verbessern, bestehen nach wie vor ernsthafte Bedenken. Das Fehlen klarer Demobilisierungsbedingungen, Berichte über Korruption und umstrittene Rekrutierungstaktiken haben den Widerstand gegen die Rekrutierung noch verstärkt. Viele fürchten, weggeschickt zu werden und nie mehr zurückzukehren.
Nazar, ein Immobilienmakler in Kiew, vermeidet es ebenfalls, auf die Straße zu gehen. Er hat seine Arbeit weitgehend ins Internet verlagert, um das Risiko zu verringern, auf Rekrutierungspatrouillen zu treffen.
"Ein Drittel meiner Freunde hat bereits die Grenze überquert, mit Bestechungsgeldern oder gefälschten Papieren für die Befreiung vom Wehrdienst", sagt er. "Ein weiteres Drittel kam in Särgen von der Front zurück. Das letzte Drittel ist noch am Leben und kämpft."
Nazar teilt seine Sorgen über seine eigene Zukunft. "Ich weiß nicht, wie mein Schicksal aussehen wird. Ich will einfach nur leben."
Ein Krieg, der mehr Soldaten erfordert
Im Dezember 2024 behauptete Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass rund 43.000 ukrainische Soldaten in den Kämpfen getötet worden seien. Es wird jedoch geschätzt, dass die tatsächliche Zahl viel höher ist.
Auf dem Kyjiwer Maidan-Platz ehrt ein Meer von ukrainischen Fahnen die Gefallenen. Da ein Ende des Konflikts nicht absehbar ist, will die Regierung in diesem Jahr 200.000 weitere Soldaten rekrutieren. Da sich aber die Wehrdienstverweigerung immer weiter ausbreitet, scheint es immer schwieriger, dieses Ziel zu erreichen.
Während sich die Ukraine auf ein weiteres Kriegsjahr vorbereitet, erweist sich der Kampf um die Mobilisierung neuer Truppen als eine weitere Kampffront.
Valérie Gauriat, internationale Korrespondentin von Euronews, berichtet aus Kyjiw.