Irland setzt sich besonders stark für die Sache der Palästinenser ein. Diese propalästinensischen Positionen wurzeln in ihren Erfahrungen mit der britischen Besatzung.
Demonstrationen, Aufrufe zu Sanktionen und politischer Druck: Die Iren setzen sich besonders stark für die palästinensische Sache ein.
Erst Mitte September drohte Irland, nicht am Eurovision Song Contest teilzunehmen, falls die Organisatoren an der Kandidatur Israels festhalten.
"RTÉ ist der Ansicht, dass eine Teilnahme Irlands angesichts der anhaltenden entsetzlichen Verluste an Menschenleben in Gaza unzulässig wäre", erklärte der irische Rundfunksender RTÉ in einer Pressemitteilung vom 12. September.
Eine Umfrage vom November 2023 bestätigt das Bild der irischen Unterstützung Palästinas: Demnach sind 71% der Befragten der Meinung, dass die Palästinenser in einem von Israel errichteten Apartheidsystem leben.
Das Meinungsforschungsinstitut Ireland Thinks hatte dafür im Auftrag der Irish Anti-Apartheid Campaign for Palestine (IAACP), einer Koalition von 23 Organisationen der irischen Zivilgesellschaft, eine repräsentative Stichprobe von 1387 Personen erhoben.
Die Fehlermarge betrug 2,7%. Die Verwendung des Begriffs Apartheid im palästinensischen Kontext bezieht sich auf das System der Besetzung und Segregation der Palästinenser, das Israel seit 1967 eingeführt hat.
Dublin hat den Staat Palästina neben Oslo und Madrid am 28. Mai 2024 offiziell anerkannt. Irland war damit jedoch bei weitem nicht das erste Land, das diesen Schritt machte. Die Länder des Warschauer Pakts, wie Ungarn, Polen und Bulgarien, erkannten den Staat beispielsweise 1988 an - lange vor ihrem Beitritt zur EU. Bis heute erkennen insgesamt 16 der 27 EU-Länder den Staat Palästina an.
Britische Besatzung
Die Unterstützung der Iren für die palästinensische Sache hat ihre Wurzeln in ihren eigenen Erfahrungen mit der britischen Besatzung, wie mehrere Experten betonen.
So auch Brendan Ciarán Browne, außerordentlicher Professor am Trinity College in Dublin.
"Unsere eigene Geschichte der Kolonialisierung und der gewaltsamen Kolonialisierung, die britische Kolonialisierung, verleiht uns diese Art von fast natürlichem Einfühlungsvermögen gegenüber anderen kolonisierten Völkern", erzählt Brendan Ciarán Browne.
Irland erlebte sieben Jahrhunderte britischer Besatzung - vom 12. Jahrhundert bis zur Gründung des Freistaats Irland im Jahr 1922.
Währenddessen leideten die Iren laut Browne zum Beispiel unter Zwangsumsiedlungen. Auch die große Hungersnot, "An Gorta Mór" genannt, von 1845 bis 1852, bei der über eine Million Iren bei einer Bevölkerung von acht Millionen Menschen zum Opfer fielen, hat sich in das kollektive Gedächtnis des Volkes eingeprägt. Sie war auf die Verwüstung der Kartoffelernte durch die Kraut- und Knollenfäule und das Fehlen eines Rettungsplans von Großbritannien zurückzuführen.
"Ihre einheimischen Gesetze und Bräuche, ihr Erbe, ihre Kunst und ihre Sprache wurden durch koloniale Gewalt ausgelöscht oder versucht, ausgelöscht zu werden. Und das ist etwas, das auch von den Palästinensern geteilt wird", fügt der Professor hinzu.
Iren und Palästinenser kannten auch beide die "Black and Tans": ein Korps von Veteranen des Ersten Weltkriegs, das ab 1920 in die britische Polizei integriert wurde, um die irischen Unabhängigkeitskämpfer zu bekämpfen und dabei für zahlreiche Übergriffe auf die Zivilbevölkerung verantwortlich war.
Als der irische Freistaat 1922 seine Unabhängigkeit erlangte, wurden einige dieser Beamte im britischen Mandatsgebiet Palästina eingesetzt, wo sie die in Irland erprobten Formen der Folter und Polizeibrutalität nachahmten.
Einige britische Persönlichkeiten spielten sowohl in der irischen als auch in der palästinensischen Geschichte eine Rolle.
So veröffentlichte der britische Außenminister Arthur Balfour 1917 einen Brief, in dem er erklärte, dass das Vereinigte Königreich die Schaffung einer nationalen jüdischen Heimstätte in Palästina befürworte. Die Balfour-Erklärung wird daher als erster Schritt auf dem Weg zur Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 angesehen.
Als ehemaliger Staatssekretär für Irland und späterer Premierminister des Vereinigten Königreichs lehnte er die auch die "Home Rule" ab, ein von irischen Nationalisten initiiertes Projekt zur Förderung der irischen Autonomie. Wegen seiner brutalen Unterdrückung der irischen Nationalbewegung wurde er auch als "blutrünstiger Balfour" (Bloody Balfour) bezeichnet.
Erfahrungen mit Friedensprozessen
Darüber hinaus lässt sich Dublins Unterstützung für die palästinensische Sache teilweise durch seine Erfahrungen mit dem Friedensprozess in Nordirland erklären. Der Nordirlandkonflikt zwischen katholischen Nationalisten - darunter Sinn Féin und ihr bewaffneter Arm IRA - und protestantischen Unionisten, die vom Vereinigten Königreich unterstützt wurden, wurde 1998 mit dem Karfreitagsabkommen beendet.
Nordirland blieb britisch, doch es wurde eine lokale Versammlung gewählt, ein Ministerrat eingesetzt und die paramilitärischen Gruppen wurden entwaffnet.
"Oft bietet Irland seine Dienste an, um zu versuchen, seine Erfahrungen mit dem Friedensprozess auf andere Gebiete zu übertragen oder zu teilen, insbesondere hier in Bezug auf den Nahostkonflikt", sagt Marie-Violaine Louvet, Dozentin an der Universität Toulouse Jean Jaurès und Autorin des Buches "Zivilgesellschaft, Postkolonialismus und transnationale Solidarität: Irland und der Nahostkonflikt", zu Euronews.
Propalästinensische Positionen
So haben sich mehrere führende irische Politiker für die palästinensische Sache eingesetzt.
"Aus diplomatischer Sicht hat sich die Republik Irland aufgrund ihrer kolonialen Geschichte als Verteidigerin der Menschenrechte dargestellt und sich der Palästinafrage angenommen, indem sie insbesondere das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr in das Land, aus dem sie geflohen sind oder von Israel vertrieben wurden, verteidigt hat", erklärt Marie-Violaine Louvet.
Mehrere Erklärungen des irischen Außenministers Frank Aiken (1951-1954 und 1957-1969) vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen waren bahnbrechend. So trat er 1958 für das Recht auf Rückkehr und Entschädigung der palästinensischen Flüchtlinge ein. Außerdem forderte er 1967 den Rückzug der israelischen Streitkräfte auf die Grenzen, die vor dem Sechstagekrieg zwischen dem jüdischen Staat und seinen arabischen Nachbarn bestanden.
Dieses Engagement ist nicht nur rhetorischer Natur. Dublin leistet seit Ende der 1950er Jahre einen Beitrag zum Haushalt der UNRWA, der UN-Organisation für palästinensische Flüchtlinge, und stellt Soldaten für die UN-Beobachtergruppe im Libanon (GONUL).
1974 war Irland eines der ersten europäischen Länder, das die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) als Vertreter der Palästinenser anerkannte. Irland war jedoch das letzte Land der Europäischen Union, das 1996 eine israelische Botschaft einrichtete, obwohl es den Staat Israel 1949 de facto und 1963 de jure anerkannt hatte.
Im Völkerrecht bedeutet eine De-facto-Anerkennung, dass die Kontrolle und Regierung eines Gebiets durch eine Entität anerkannt wird, ohne ihr eine rechtliche Anerkennung zu bieten.
Die Langsamkeit Dublins, den Staat Israel de jure anzuerkennen, kann zum Teil durch die Nähe des katholischen Irlands zum Vatikan erklärt werden. "Die Frage der Internationalisierung Jerusalems war sehr wichtig", sagt Marie-Violaine Louvet, um "einen Zugang für eine katholische Bevölkerung in Jerusalem zu behalten". Israel hält den Ostteil Jerusalems seit 1967 besetzt, wo sich unter anderem die christlichen heiligen Stätten befinden und annektierte dieses palästinensische Gebiet 1980 einseitig, was gegen das Völkerrecht verstößt.
Starke Zivilgesellschaft
Diese propalästinensische Sensibilität geht über politische Affinitäten hinaus, wie die 2024 veröffentlichte Umfrage der zuvor erwähnten Irish Anti-Apartheid Campaign for Palestine (IAACP) zeigt. Unter den Befragten stimmten 71% der Anhänger von Fianna Fáil und 56% der Anhänger von Fine Gael, den beiden großen zentristischen Parteien, der Aussage zu, dass die Palästinenser in einem von Israel geschaffenen Apartheidsystem leben.
Diese Tendenz ist auf der linken Seite stärker ausgeprägt, bei Solidarity - People Before Profit (100 %), der Labour Party (90 %) und den Sozialdemokraten (86 %). Umgekehrt stimmten nur die Anhänger der konservativen Aontú-Partei nicht mehrheitlich zu (41% Ja).
"Es gibt ein diffuses und allgemeines, sagen wir, Gefühl der Solidarität mit Palästina, aber die Partei, die es am stärksten trägt, ist historisch gesehen und seit Ende der 1960er Jahre kontinuierlich die Sinn Féin, die republikanische Partei, eine links-nationalistische Partei, die historische Verbindungen zur Palästinensischen Befreiungsorganisation unterhielt", meint Marie-Violaine Louvet.
Die starke Mobilisierung der Zivilgesellschaft spielt ebenfalls eine Schlüsselrolle.
Der Irish Congress of Trade Unions ist einer der ersten Gewerkschaftsverbände in Europa, der die 2005 von der palästinensischen Zivilgesellschaft ins Leben gerufene Kampagne Boykott, Desinvestition und Sanktionen (Boycott, Divestment, Sanctions - BDS) unterstützt, mit der Druck auf Israel ausgeübt werden soll, um die Besetzung der palästinensischen Gebiete zu beenden und das Recht auf Rückkehr zu garantieren.
Diese Bewegung, die von ihren Unterstützern als gewaltfrei dargestellt, von Israel jedoch als antisemitisch bezeichnet wird, hat für erheblichen Wirbel gesorgt. In den USA, die Israel unterstützen, haben beispielsweise mehr als zwei Dutzend Staaten Maßnahmen gegen Organisationen ergriffen, die mit der BDS-Bewegung in Verbindung stehen.
"Die Zivilgesellschaft ist insofern eine treibende Kraft, als sie es immerhin schafft, die politische Klasse zu beeinflussen", sagt Marie-Violaine Louvet. Anfang September stellte die irische Zentralbank beispielsweise nach einer Kampagne der Zivilgesellschaft die Genehmigung für den Verkauf israelischer Anleihen auf den europäischen Märkten ein. Diese Anleihen ermöglichen es Israel, in Zeiten des Gaza-Krieges Geld zu beschaffen. Nach dem Brexit war Irland dafür zuständig, dieses Verfahren für die gesamte EU zu validieren. Israel hat nun die Übertragung der Genehmigung auf Luxemburg beantragt.
Browne: Unterstützung nicht von Regierung getragen
Brendan Ciarán Browne geht noch weiter und ist der Ansicht, dass sich die irische Regierung auf "symbolische Gesten" beschränkt hat. "Wenn wir uns die Unterstützung für die palästinensische Sache anschauen, wird sie von den Menschen vor Ort, den Aktivisten, den Bürgerbewegungen und nicht unbedingt von der Regierung getragen", behauptet er.
In Nordirland ist die Landschaft kontrastreicher, wo die katholischen Republikaner, die für eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland sind, die Palästinenser unterstützen, während die protestantischen Unionisten ihre Solidarität mit Israel bezeugen.
Dublins Handeln kollidiert jedoch mit seinen engen politischen und wirtschaftlichen Verbindungen zu Washington, dem Verbündeten Israels. Die Vereinigten Staaten sind das wichtigste Ziel für irische Exporte. Laut der US-Handelskammer beschäftigen mehr als 970 US-Unternehmen über 211 000 Menschen in Irland, was etwa 7,5 % der irischen Erwerbsbevölkerung entspricht (laut dem irischen Zentralamt für Statistik waren im zweiten Quartal 2025 etwa 2,8 Millionen Menschen erwerbstätig).
"Irland hat eine sehr starke Verbindung zu Amerika und wird sehr zurückhaltend sein, wenn es etwas tut, das dieser Beziehung schadet", sagt Brendan Ciarán Browne.