Jeffrey Sachs: "Wenn man sich von den Ärmsten abwendet, beschädigt man seine eigene Seele"

Jeffrey Sachs: "Wenn man sich von den Ärmsten abwendet, beschädigt man seine eigene Seele"
Von Euronews
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Studenten in New York machen gegen die Armut mobil. Beim Milleniumsgipfel der UNO im September kamen sie in großer Zahl zu einem Vortrag des US-Ökonomen Jeffrey Sachs. Sachs ist Experte für die Länder der Dritten Welt, Autor zahlreicher Artikel und Bücher, von denen “Das Ende der Armut” eines der bekanntesten ist. Vom Time-Magazine wurde er zu einer der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt gekürt. Seit 2002 ist Sachs Sonderberater der UNO für die Milleniums-Entwicklungsziele.

Im euronews-Interview erweist er sich als scharfer Kritiker der Politik der Industriestaaten, die seiner Meinung nach viel mehr dazu beitragen könnten, die Armut in der Welt zu bekämpfen.

euronews:
Mr. Sachs, wie realistisch sind die Milleniums-Entwicklungsziele für 2015 von heutiger Warte aus betrachtet? Erwarten Sie mehr als bloße Versprechungen?

Sachs:
Technisch gesehen sind diese Ziele durchaus realistisch. Aber wir müssen schneller vorankommen, wir müssen die Geschwindigkeit erhöhen. Bis jetzt haben die reichen Länder mehr geredet, aber nur wenig umgesetzt.

euronews:
Wie teuer sind diese Milleniumsziele und welchem Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts der G8-Staaten entspricht dies?

Sachs:
Um die drei wichtigsten Gesundheitsziele zu erreichen, also Mütter und Kinder zu retten und Epidemien zu bekämpfen, müssten die reichen Länder rund 40 Milliarden Dollar (umgerechnet rund 30 Milliarden Euro) pro Jahr bezahlen. Die jährlichen Einnahmen dieser Länder liegen bei 40 Billionen Dollar (umgerechnet rund 30 Billionen Euro). Der Betrag entspricht also einem Zehntel von einem Prozent unseres Einkommens. Wenn er verwendet wird, um Kliniken zu bauen, medizinisches Personal einzustellen und Medikamente zu kaufen, könnte eine medizinische Grundversorgung sichergestellt werden.

euronews:
Wie lassen sich die Ausgaben für die Milleniumsziele etwa mit den Militärausgaben oder den Ausgaben für den Kampf gegen den Terror Europas und der USA vergleichen?

Sachs:
In den USA geben wir fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Militär aus, und 0,2 Prozent für friedliche Entwicklungshilfe. Also wenden wir 25mal mehr Geld für das Militär als für Entwicklungshilfe auf. Und dann sagt man mir in Washington: oh, dafür haben wir kein Geld, wir wissen nicht, wo wir im Budget noch Geld freimachen könnten, das Budget ist sehr eng. Warum schaut man nicht einmal ins Pentagon, warum nimmt man nicht jene hunderte Milliarden Dollar, die nach Afghanistan gehen und nur dafür sorgen, dass das Land noch gefährlicher wird, nicht etwa weniger gefährlich?
Europa versteht, dass der militärische Blickwinkel keinen Sinn hat. Europa befindet sich gleich neben Afrika, und wenn Europa nichts investiert, kommt eine Masseneinwanderung, mit allen denkbaren Problemen. Das versteht jeder. Die Europäer haben einen besseren Zugang dazu aber sie sind nicht konsequent. Leider werden Deutschland, Frankreich und Italien die Zusagen, die sie für 2010 gemacht haben, wohl nicht einhalten.

euronews:
Wie viel hat die globale Finanzkrise die Entwicklungshilfe gekostet? Und ist sie nur eine Entschuldigung, um nichts tun zu müssen?

Sachs:
Schon vor dem Kollaps waren wir nicht auf dem Weg, die Ziele zu erreichen. Ich bin etwa ins deutsche Finanzministerium gegangen und habe mit den obersten Beamten gesprochen. Sie sagten zu mir: Mr. Sachs, glauben Sie wirklich, dass wir das tun werden? Auf keinen Fall! Ich sagte: Aber Ihre Kanzlerin hat es zugesagt. Und die Antwort war: Kommen Sie, glauben Sie das doch nicht! Ich war schockiert!
Als die Finanzkrise kam, habe ich darauf hingewiesen, das es immer Wege einer Finanzierung gibt. Müssen wir wirklich die Banken retten und dann zusehen, wie Banker mit Milliardensummen in Form von Boni heimgehen? Ich will damit sagen, dass nicht weniger Geld zur Verfügung steht, wenn wir etwas wirklich wollen.

euronews:
Glauben Sie, dass die Industriestaaten derzeit richtig mit der Krise umgehen, hinsichtlich der Marktregulierung und den Sparbudgets? Tun sie das Richtige für eine Erholung?

Sachs:
Es ist die Zeit um zu investieren. Wir sollten nicht in den Konsumwahn zurückfallen. Tatsächlich wollen wir das gar nicht. Aber wir sollten die Ressourcen für Investitionen nutzen. Und welche Investitionen? Investitionen in unsere eigene, langfristige Nachhaltigkeit, in die Umwelt zum Beispiel. Wir sollten die Verwendung von Kohle reduzieren, wir sollten von fossilen Brennstoffen unabhängig werden. Diese Investitionen sind wichtig. Oder wir könnten unsere ungenutzten Ressourcen nutzen, um Geld langfristig zu günstigen Konditionen zu verleihen, um den Energiesektor oder Straßen oder Wasser und sanitäre Anlagen in Afrika zu finanzieren. Anders ausgedrückt: unsere Industrie kann mithelfen, eine Infrastruktur in Afrika aufzubauen, wenn wir die finanziellen Mittel bereitstellen. Damit würden wir die Erholung in unseren Ländern unterstützen und Afrika helfen.

euronews:
Was haben die reichen Länder davon, wenn die Milleniumsziele erreicht werden? Und was haben sie dabei zu verlieren?

Sachs:
Vor allem gewinnen wir dabei Menschlichkeit. Wenn man sich von den Ärmsten abwendet und sie einfach sterben lässt, beschädigt man seine eigene Seele. Es ist auch gefährlich, denn so etwas wird nicht vergessen. Es ist gefährlich, die Menschen einfach Epidemien zu überlassen. Es ist absurd, Gesellschaften zusammenbrechen zu lassen, wie in Somalia, im Jemen oder in Afghanistan. Das führt nur zu einem Krieg, der gar nichts lösen kann und der hundert Mal teurer ist, als wenn man auf die ursprünglichen Bedürfnisse der Menschen eingegangen wäre. Und wenn wir schlau sind, sehen wir, dass es auch um die Wirtschaft geht. Hier liegt die Zukunft des Wohlstands. Heute kann man sich das schwer vorstellen, aber es wird so sein. Und es wird China und Afrika betreffen, den Handel. China ist überall in Afrika vertreten, es investiert, es vergibt Darlehen, es tut all das, was ich eigentlich von Europa und den USA erwartet hätte.

euronews:
Können Sie sich eine Zeit vorstellen, in der die reichen Länder von Schwellenländern überholt werden, etwa von China?

Sachs:
Es wird nicht China sein, das uns den Strick um den Hals legt, es wird unsere eigene Kurzsichtigkeit sein. Wir sind jetzt sehr reich, aber wir missbrauchen diesen Reichtum. Wir tanzen jahrein jahraus auf einer großen Konsumparty. Wir haben risige Budgetdefizite, weil die Politiker dem Volk immer wieder Steuersenkungen versprechen. Aber wie soll dann eine Regierung bezahlt werden? Das Risiko ist groß, dass wir zwar ein unglaubliches Wohlstandsniveau erreicht haben, aber es nach und nach aus der Hand geben.

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