Die Kinder von Tschernobyl: Drei junge Erwachsene berichten - sie sind alle im April 1986 geboren

Die Kinder von Tschernobyl: Drei junge Erwachsene berichten - sie sind alle im April 1986 geboren
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Der 26. April 1986: Eine Reihe erfolgloser Versuche im 4. Reaktor des Kernkraftwerks Tschernobyl im Nordwesten der Ukraine führen zu einer Explosion

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Der 26. April 1986: Eine Reihe erfolgloser Versuche im 4. Reaktor des Kernkraftwerks Tschernobyl im Nordwesten der Ukraine führen zu einer Explosion. Ein Flächenbrand, der zu einem der weltweit schlimmsten Nuklearunfälle wird. Die sowjetische Regierung versucht zunächst, ihn zu vertuschen. Letztlich ist sie aber gezwungen, den Unfall zu zugeben, nachdem die schwedischen Atomenergiebehörde ihn gemeldet hat.

Zwei Menschen sterben unmittelbar bei der Explosion, 29 weitere in den folgenden Tagen im Krankenhaus. Der vierte Reaktor “brennt” für fast drei Wochen weiter, Dutzende von Menschen arbeiten als so genannte “Liquidatoren”. Ihre Aufgabe: das Feuer löschen. Viele von ihnen starben später aus gesundheitlichen Problemen – die Folge der hohen Strahlenbelastung.

Die Gesamtzahl der Todesopfer von Tschernobyl ist umstritten. Die Internationale Agentur für Krebsforschung der Vereinten Nationen meint, bis 2065 könnten 40.000 Menschen an Krebserkrankungen sterben, deren Ursachen bis nach nach Tschernobyl zurück verfolgbar sind.

Nach der Katastrophe wurde rund um das Atomkraftwerk in Tschernobyl eine Sperrzone mit einem Umfang von 30 Kilometern errichtet, sie existiert noch heute. Die Region vor allem um die Stadt Prypjat und die umliegenden Dörfer wurden evakuiert, Hunderttausende Menschen mussten ihre Heimat verlassen. Der 4. Reaktor wurde im Sommer 1986 vorübergehend versiegelt. Dieser Betonpanzer wurde später durch einen stärkeren ersetzt. Die Strahlung rund um den Reaktor erreicht aber bis heute beträchtliche Ausmaße.

29 Jahre nach dem Unfall hat euronews mit drei jungen Ukrainern gesprochen. Sie wurden alle innerhalb weniger Tage in den Monaten nach dem Unfall geboren. Wir haben sie gefragt, wie es ist, ein Kind Tschernobyls zu sein?

Olga Zakrevska ist professionelle Fotografin. Sie hat ihr eigenes Studio in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Zakrevska wurde am 11. April 1986 in Prypjat in der Nähe des Kernkraftwerks geboren. Ihr Vater war seinerzeit ein junger Kernenergie-Experte.

“Nachdem wir weggezogen sind, haben manche Eltern ihre Kinder davor gewarnt, mit mir und meinem Bruder zu spielen. Sie behaupteten, dass wir radioaktiv verseucht seien und ansteckend wären.”


“Ich war die ersten 15 Tage meines Lebens in Prypjat”, erzählt Zakrevska heute. “Wir verließen die Gegend am 26. April 1986 und verbrachten über ein Jahr zu bleiben mit Freunden und Familie in Kiew. Ich war winzig zu der Zeit. Man könnte sagen, ich hätte die Ängste und Sorgen meiner Mutter über unsere Zukunft geerbt. Ein Jahr später hatten wir unsere eigene Wohnung, wir waren sehr dankbar dafür. Mein Vater reiste weiter nach Tschernobyl, um dort zu arbeiten.

Soweit ich mich erinnern jann, war Tschernobyl immer ein Teil der Geschichte meiner Familie. Unsere Nachbarn arbeiteten auch an der Anlage. Es war Teil unseres Alltags, ein Teil unserer Beziehung zum Staat. Wir mussten regelmäßig Vorsorgeuntersuchungen absolvieren. Die Dokumente mussten wir aufbewahren, um Unterstützung und Hilfe zu erhalten.

Ich versuche zu verstehen, was Tschernobyl für mich bedeutet. Mit 25 wurde mir plötzlich bewusst, dass ich im Schatten dieses Ereignisses aufgewachsen bin. Deshalb such ich andere Tschernobyl-Familien und lade sie in mein Fotostudio ein. Ich fotografiere sie, wir reden. Viele meiner Kollegen haben inzwischen ihre eigenen Familien und Kinder. Wir kümmern uns um unsere Gesundheit, natürlich. Als ich jung war haben die Ärzte immer wieder gesagt: ‘Wir haben keine Ahnung, welche Folgen die Strahlung hat.’ Manche Dinge sind vorhersehbar, manche aber auch nicht.

Ich fühle, dass die Menschen, auch die in Prypjat geborenen, immer noch nicht bereit sind, über Tschernobyl nachzudenken und zu analysieren, was es für uns bedeutet. Einige würden lieber vergessen. Ich persönlich glaube, dass es besser, zu versuchen zu verstehen. Tschernobyl traumatisiert uns. Ich denke, wir können ein besseres Leben in der Zukunft führen.

Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Ich glaube, dass manche Wunden einen stärker machen können. Ich denke, meine Kollegen und ich sind starke Menschen, vielleicht stärker und eher bereit, sich mit den Schwierigkeiten des Lebnns auseinanderzusetzen. Unsere Eltern mussten einst gehen, sie wussten, dass sie niemals zurückkehren werden. Danach mussten wir mit den Vorurteilen umgehen. Manche Eltern verbaten ihren Kindern mit uns zu spielen, weil wir radioaktiv verseucht und ansteckend seien.

Ich fotografiere Familien in Tschernobyl nun schon seit einiger Zeit. Ich möchte eines Tages aus dem Projekt ein Buch machen. Für mich ist es wichtig, Freunde und Kollegen meiner Eltern zu finden, diejenigen, die in Tschernobyl im Jahr 1986 gearbeitet haen, und diese Verbindungen zu erneuern. “

Olexiy Starynets wurde am 26. April 1986 in einer kleinen Stadt nur wenige Kilometer südlich von der ukrainischen Hauptstadt geboren. Jetzt ist er ein Sportjournalist und lebt in Kiew. An seinem Geburtstag wurde er immer schon “Tschernobyl-Baby” gennant. Dennoch ist er optimistisch im Hinblick auf die Zukunft.

“Als ich klein war, sind wir ein paar Mal umgezogen. In jeder neuen Schule wurde ich medizinisch durchgecheckt. Ich war immer der Gesündeste!”


“Meine erste Erinnerung an Tschernobyl?”, fragt Starynets, “natürlich mein Geburtstag! Die Leute haben immer darüber gesprochen, zu Hause und in der Schule. Ich wurde am Tag der Explosion geboren. Meine Mutter und Großmutter erzählten mir, dass sie von der Katastrophe schon am ersten Tag gehört hätten. Auf der Entbindungsstation machten sie die Fenster zu, um die Strahlung abzuhalten. Sie schrubbten die Fußböden öfter. Die Explosion ereignete sich in den frühen Morgenstunden des 26. April. Ich wurde um sechs Uhr an diesem Tag geboren.

Als ich klein war, sind wir ein paar Mal umgezogen. In jeder neuen Schule wurde ich medizinisch durchgecheckt. Ich war immer der Gesündeste! Natürlich haben meine Eltern nie aufgehört sich Sorgen und Gedanklen über die Auswirkungen von Tschernobyl zu machen. Wir lebten ja nur 250 Kilometer entfernt und manchmal auch näher.

Ich sehen mich selbst nicht als Tschernobyl-Kind. Es hat nie aus dem einen oder anderen Grund meine Gesundheit beeinflusst. Ich fühle mich völlig normal. Ich bin nie in Prypjat gewesen oder am Kernkraftwerk. Aber ich bin sicher, dass ich eines Tages hinfahren werde, nur um zu sehen, wie es ist.

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Ich stehe der Atomkraft sehr positiv gegenüber. Wenn man richtig damit umgeht, dann ist sie sicher und umweltschonend. Soweit ich verstehe, wurde der Unfall von Tschernobyl durch menschliches Versagen verursacht. Ja, natürlich ist Tschernobyl ein Teil unserer Geschichte, aber ich denke nicht viel darüber nach. Meine Freunde denken immer daran, wenn ich Geburtstag habe.”

Yuri Vyshnevsky ist auch Journalist und lebt in Kiew. Er wurde am 1. April geboren. Sein Vater arbeitete 1986 während der Monate nach dem Unfall in der Sperrzone.

“Ich denke, dass im 21. Jahrhundert viele Länder nicht über ausreichende natürliche Ressourcen verfügen, deshalb ist Kernenergie notwendig.”


Vyshnevsky berichtet: “Meine Mutter ging nach Moldawien, um dort mit meiner Oma zu leben. Mein Vater kam zu Besuch, wenn er konnte. Wir erwähnten Tschernobyl gelegentlich, aber zum Glück war unsere Familie nicht betroffen. Wir sind alle gesund, auch wenn die Umwelt in der Ukraine sehr verschmutzt ist.

Tschernobyl ist Teil unserer Geschichte. Die Ukraine wurde in Europa auf die schlimmstmögliche Weise bekannt, das können wir nicht vergessen. Es gab viele andere Anlässe, die mich stolz machen, ein Ukrainer zu sein: die Unabhängigkeitserklärung, die Siege meiner Landsleute im Sport, etwa die Fußballer von Dynamo Kiew, die Boxweltmeister Klitschko oder die ukrainischen Olympioniken. Allerdings bringen mich alle diese positiven Dinge nicht dazu, diese riesige Umweltkatastrophe zu vergessen, die nicht nur der Ukraine, sondern auch in anderen europäischen Ländern zu Schaden brachte.

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Ich sehe mich nicht als Kind von Tschernobyl. Meine Gesundheit ist glücklicherweise nicht betroffen. Doch durch meine Arbeit sehe ich Kinder, deren Eltern krank gewesen sind, oder die selbst krank sind. Das ist sehr traurig. Ich war noch nie in der Sperrzone, viele meiner Freunde schon. Es ist jetzt ganz einfach, auf eine geführte Tour zu gehen. Ist Atomkraft eine gute Idee? Ich denke, dass im 21. Jahrhundert viele Länder nicht über ausreichende natürliche Ressourcen verfügen, deshalb ist Kernenergie notwendig. Es ist wichtig, verantwortlich damit umzugehen, um Katastrophen zu vermeiden, die Mensch und Natur verletzen.”

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