Wie sich Paris jetzt anfühlt – ein junge Journalistin berichtet

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Von Natalia Liubchenkova
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Am Sonntag gleich nach den Anschlägen vom 13. November 2015 scheint die Sonne in Paris, die Pariser fahren Fahrrad, spazieren am Kanal Saint Martin entlang, Kinder sind mit ihren Eltern auf Spielplätzen, einige etwas verwirrte Touristen versuchen, sich mit Hilfe ihrer Reiseführer zu orientieren.

Ich steige am Bahnhof Gare de Lyon aus dem Zug – sehr mitgenommen von der schlaflosen Nacht von Freitag auf Samstag, die ich im Rhythmus der Schlagzeilen verbracht hatte. Ich war in der Redaktion, aber auch viele Menschen in Frankreich, die nicht gearbeitet haben, konnten nicht schlafen.

Der warme Novembertag in Paris und das Wissen um die Ereignisse – ich bin perplex, habe Mühe zu verstehen. So schwer es ist zu verstehen, was geschehen ist, so schwer ist es zu verstehen, wie nahe Leben und Tod beieinanderliegen und wie sinnlos der Tod sein kann.
Auch Paris kämpft ums Verstehen. Am Samstag lag die Stadt im Koma, am Sonntag hilft die Routine fürs Erste, mit den erlittenen Wunden zu leben.

In den ersten Tagen sind die Bürgersteige um die Anschlagsorte, um die Restaurants und Cafés, voll von Menschen mit Blumen und Kerzen. Bewohner von Paris, alleine oder mit ihren Familien, haben mehrere Blumensträuße dabei und gehen von einem Anschlagsort zum anderen.

Das Bataclan und Boulevard Voltaire hat die Polizei zunächst so weiträumig abgesperrt, dass das Musiktheater von der Stelle, an der die Menschen die Blumen niederlegen, kaum zu sehen ist. Jüdische und muslimische Geistliche gedenken gemeinsam der Toten. Muslime, gewöhnliche Menschen, die in Frankreich leben, richten sich an die Presse, um zu sagen, dass die Terroristen nicht den Islam vertreten.

Mehr und mehr Menschen kommen zum Place de la République zwischen dem 10. und dem 11. Arrondissement, in denen mehrere Anschläge stattfanden. Der Platz steht für das Leben in Frankreich nach den Anschlägen, ein neues Leben, hier wird der Toten gedacht, Widerstand gegen den Terrorismus erklärt – mit Parolen wie „Même pas peur“ („Gar keine Angst“). Diesen Slogan – eine Art „Jetzt erst recht“, „Ihr schafft es nicht, uns einzuschüchtern“ – schreiben Franzosen auch auf Postern und in den sozialen Netzwerken mit einem extra Hashtag. Der Jahrhunderte alte Leitspruch der Stadt Paris Fluctuat nec mergitur („Sie schwankt, aber sie geht nicht unter“) ist passender denn je.
Ich beobachte mehrere muslimische Familien mit kleinen Kindern auf dem Place de la République, die an verschiedenen Tagen mehrmals kommen, um Kerzen anzuzünden.

Auch unter der Woche kommen weiterhin genauso viele Menschen. Es ist wie Weg auf der Suche nach Heilung. Die Terroristen haben sich von Hasspredigern verführen lassen, das anzugreifen, was die Franzosen am Leben am meisten lieben: Musik, Essen, mit Familie und Freunden ausgehen. Auf die Bedrohung reagieren nicht alle gleich, aber in den sozialen Medien gibt es die ersten Kampagnen, die zeigen, dass die Franzosen sich nicht von den Freuden des Lebens abbringen lassen wollen – ganz im Gegenteil: sie wollen das Leben, so wie sie es lieben, genießen.

Am Dienstag werden im Internet und auf Postern der Stadt die ersten Aufrufe verbreitet, die Terrassen der Cafés aufzusuchen, „Tous au bistrot“ („Alle ins Bistro“). Einige wollten Place de la République sogar eine Art Orgie abhalten, weil die Terrroristen den Franzosen ihr ausschweifendes Leben vorgehalten hatten.

In diesen Gemeinschaftsaktionen finden die Menschen in Frankreich die Kraft, ihre Angst zu überwinden, die aber weiterhin überall präsent ist. Nach dem Angriff auf die Redaktion des Satire-Magazins Charlie Hebdo vom Januar 2015 waren die Reaktionen anders. Es gab die höchste Terrorwarnstufe, es waren mehr Sicherheitskräfte in den Straßen. Öffentliche Gebäude wurden von Soldaten bewacht. Es gab ein Gefühl der Sicherheit und des Schutzes durch den Staat. Doch seit den Anschlägen von Paris gibt es dieses Gefühl nicht mehr, vielleicht nie mehr wieder. Wie konnte einer der meistgesuchten Terroristen mehrere europäische Grenzen mehrmals überqueren? Warum ist es den Geheimdiensten nicht gelungen, die Attentatspläne aufzudecken? Auf diese Fragen gibt es bisher keine Antworten.

Die französische Regierung spricht von Krieg und von der Gefahr weiterer Anschläge, die die Terroristen vorbereiten. Auch mehrere andere Staaten sind bedroht. Die Arbeit der Geheimdienste wird kritisiert, aber auch geschätzt.

Dieser Tage bricht öfter Panik aus. Am Sonntagabend nach den Anschlägen schreckt ein lautes Geräusch – vermutlich ein Feuerwerkskörper – die Menge auf dem Place de la République auf. Die Menschen rennen Richtung Kanal Saint Martin, sie schreien und weinen. Ich sitze in einem Café und arbeite am Computer, als die Leute hereinkommen, die weggerannt sind. Sie verlangen, dass die Tür abgeschlossen wird. Der Cafébesitzer versucht zu beruhigen, gibt ihnen ein Glas Wasser. Ein völlig verstörter Mann setzt sich an meinen Tisch. Er weint die ganze Zeit und schaut mich nur ab und zu angstvoll an. „Er war im Bataclan“, erklären mir zwei ältere Männer, die ihren Freund oder Verwandten umarmen. Die anderen Leute, die das hören und sehen, weinen noch mehr. Zwei ältere Damen kommen ins Café und erzählen, dass im Fernsehen erklärt wurde, dass es Place de la République nur zu einer panischen Reaktion gekommen war.

Die Behörden versuchen durch zahlreiche Sicherheitsoperationen, den Menschen in Paris und in ganz Frankreich das Gefühl der Sicherheit zurückzugeben. Die französischen Sozialisten, die zuvor vor allem für die Verteidigung der persönlichen Freiheiten eintraten, kündigen verschärfte Maßnahmen gegen Bürger an, die in den Nahen Osten reisen und sich Terrororganisationen anschließen, wie den Verlust der franzöischen Nationalität für Doppelstaatler. Viele der mutmaßlichen Terroristen vom Januar und vom November standen auf Listen des Geheimdienstes, in denen radikale Islamisten erfasst werden.

Vertreter von Vereinen fordern eine bessere Integration von Einwanderern ins soziale Leben in Frankreich. Die Stimatisierung von Muslimen favorisiert die Rekrutierung von jungen Menschen, die nach einem Sinn in ihrem Leben suchen, durch den sogenannten „Islamischen Staat“. Wahrscheinlich trifft das überall auf der Welt zu – auch in der Ukraine, aus der ich komme -, je ausgeschlossener ein Mensch ist, desto leichter kann er dazu gebracht werden, zu einer Waffe zu greifen.

Zurück nach Paris. Viele Journalisten filmen die Orte des Erinnerns, aber auch gewöhnliche Franzosen machten Fotos und Videos mit ihren Handys. Nach den Kerzen und Blumen bringen die Menschen auch Bilder der Opfer zu den Anschlagsorten, um an die wichtigen Menschen zu erinnern, die nicht mehr da sind.

Viele Leute kommen, um die Zettel zu lesen, Portraits und Worte über das Leben der Opfer. Viele legen riesige Blumensträuße auf die Bürgersteige und erschaffen ihren Ort des Gedenkens.

Junge Mädchen verteilen Blumen an die, die keine dabeihaben. Die Polizei hat den Boulevard Voltaire in der Nähe des Bataclan-Musiktheaters wieder geöffnet. Die Anzeigetafel mit der Band, die in der Nacht des schrecklichen Anschlags spielte, erscheint surreal. Genauso wie die Lichtstrahlen, die durch die Fenster des Theaters fallen, das im Dunkel angegriffen wurde.

Ein riesiges Graffiti ist auf einen Zaun in der Nähe des Place de la République gesprayt worden. Spaziergänger sprechen mit den Künstlern. Haben sie jemanden in den Anschlägen verloren?

In einem Pub bitten die Besitzer um eine Schweigeminute für die Opfer und danken dann allen dafür. An der Wand hinter dem Fernseher steht das Foto einer Freundin, die am Freitag, den 13.11., ihr Leben verlor.

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Paris weint und gemeinsam tun alle, was sie können. Das Leben geht weiter – mit der Angst und dem Versuch, die Angst zu überwinden.

Diesen Text hat Natalia Liubchenkova geschrieben, die in der ukrainischsprachigen Redaktion von euronews arbeitet.

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