Jürgen Rüttgers: "Mich stört, dass viele Europa kleinreden"

Jürgen Rüttgers: "Mich stört, dass viele Europa kleinreden"
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Wir haben mit Jürgen Rüttgers, dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, über die EU, über Demokratie und die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, gesprochen.

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Mehr Demokratie in Europa. Das fordert der frühere Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, Jürgen Rüttgers. So kritisiert er im Gespräch mit euronews etwa, dass der Europäische Rat hinter verschlossenen Türen tage, ohne wirklich eine demokratische Beteiligung der Bürger zu ermöglichen. Referenden erteilt Rüttgers allerdings eine Absage, diese seien keine Lösung. Die Politik mahnt er, sich bei den anstehenden Wahlen auf die Herausforderungen durch mögliche Cyberangriffe vorzubereiten. Bisher geschehe das allerdings nicht.

“Mich stört, dass viele Europa kleinreden”

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Herr Rüttgers, Ihr neues Buch heißt Mehr Demokratie in Europa: Die Wahrheit über Europas Zukunft. Zunächst zum zweiten Teil des Titels, zur Zukunft. Die scheint gefährdet zu sein. Daher die einfache Frage: Glauben Sie, es wird die EU in zehn Jahren noch geben und wenn ja, wie wird sie aussehen? Jürgen RüttgersAuch in zehn Jahren wird es die Europäische Union noch geben. In welchem Zustand ist die Frage, und das hängt davon ab, ob es viele überzeugte Europäer gibt. euronews
Machen Sie sich Sorgen, dass die Zahl der überzeugten Europäer abnimmt?

Jürgen Rüttgers
Mich stört es schon sehr, dass anscheinend viele professionelle Beobachter des europäischen Geschehens Lust daran gefunden haben, Europa kleinzureden, vom Untergang Europas zu fabulieren und nur Probleme auflisten. Da geht manches Stück Wahrheit verloren. Zum Beispiel, dass für die großen Krisen, die wir in den letzten Jahren gehabt haben, viele Verantwortung tragen, aber nicht die Europäische Union.
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Wer trug dann die Verantwortung?
Jürgen Rüttgers
Das fängt mit der Immobilienkrise in den USA an, das geht über die Staatsschuldenkrise, die zwar ein europäisches Problem ist, aber ein Problem der Nationalstaaten. Das geht weiter über die Frage des Euro, was vor allen Dingen ein Problem derjenigen Länder ist, die sich nicht an den Stabilitäts- und Wachstumspakt gehalten haben. Und so kann man die Liste fortsetzen.
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Der Brexit ist Realität. In Frankreich sind die Chancen, dass Marine Le Pen vom Front National kommendes Jahr die Präsidentschaftswahl gewinnt, real. Für wir wahrscheinlich halten Sie Le Pens Sieg?
Jürgen Rüttgers
Zunächst: Brexit ist Brexit haben wir gehört und gelernt. Was das aber bedeutet, weiß immer noch niemand, weil der Brexit auch das Resultat einer Lügenkampagne ist, wie wir sie bisher noch nicht erlebt hatten. Ich glaube nicht, dass der Front National die Präsidentschaftswahlen gewinnt. Meine Erfahrungen in Frankreich sind, dass Franzosen zwar dazu neigen, auch Protest anzumelden gegen “die da oben” in Paris, aber am Ende des Tages Vernunft walten lassen.
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Das haben wir in den USA auch geglaubt, das haben wir beim Brexit geglaubt und selbst in Österreich hat Norbert Hofer immer noch 46 Prozent erhalten.
Jürgen Rüttgers
Das ist wahr, heißt aber nicht, dass es jetzt bei jeder Wahl so geht. Das hängt davon ab, wie die Wahlkämpfe geführt werden, und es hängt davon ab, ob die Politik und die gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen deutlich machen, dass sie die Proteste der Bürgerinnen und Bürger verstanden haben. Das ist übrigens auch der Punkt, den ich mit meinem Buch versuche, neu zu beleuchten und zu beantworten. Die Vorstellung, man könne jetzt ein paar kleine Zuständigkeiten von der Europäischen Union auf die Mitgliedsstaaten übertragen, gleichzeitig aber neue auf Europa verlagern wie etwa im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit, diese Vorstellung ist nach meiner Auffassung nicht von dieser Welt. ### “Man kann Europäer und gleichzeitig Deutscher oder Franzose sein”

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Viele Menschen scheinen das Vertrauen in die EU verloren zu haben. Woran liegt das?
Jürgen Rüttgers
Die Menschen haben unter anderem das Vertrauen in die europäischen Institutionen verloren, weil Europa für sie zu weit weg ist und vor allen Dingen von den nationalen Politikern gern schlechtgeredet wird. Für die Erfolge fühlt man sich in den nationalen Hauptstädten verantwortlich, die Misserfolge schiebt man ab nach Brüssel.
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Liegt das nicht in der Natur der Sache, da die EU ein Zusammenschluss vieler verschiedener Staaten ist und dieses Konzept eines vereinten Europas – wie Sie sagen – zu weit weg ist von den Menschen.
Jürgen Rüttgers
Ich glaube nicht, dass das heute der Fall ist. Man kann heute Europäer sein und gleichzeitig Deutscher, Franzose, Belgier, Pole und die anderen genauso. Das ist ja das Faszinierende. Das macht das Historische der Europäischen Union aus. Ich glaube, dass da jetzt auch konkrete Handlungen erforderlich sind. Und meine Lösung hat etwas mit Vertrauen, mit Transparenz, mit Partizipation, mit Legitimität zu tun. Es geht nicht um die Frage, ob wir mehr Soldaten nach Afrika schicken oder ob wir neue Institutionen und neue Gesetze in Europa erlassen müssen, sondern es hat etwas mit der Demokratie in Europa zu tun.
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Ihr Buch heißt “Mehr Demokratie in Europa”. Wo fehlt es denn in Europa an Demokratie?
Jürgen Rüttgers
Die Europäische Union ist ja noch nicht das vereinte Europa, von dem etwa der Verfassungsvertrag von Lissabon spricht oder auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Im Moment haben wir einen Übergangszustand. Europa, und das sagen auch die Skeptiker, wird sich weiterentwickeln. Aber wir haben bei den Institutionen ein Rechtsstaatdefizit und wir haben ein Demokratiedefizit. Das gilt vor allem für den Europäischen Rat, aber auch – in geringerem Umfang – für das Europäische Parlament.
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Im Europäischen Rat sind Vertreter demokratisch gewählter Regierungen vertreten, warum gibt es da ein Demokratiedefizit? Jürgen RüttgersWeil sie keine europäische Legitimation haben. Sie haben allenfalls eine nationale Legitimation. Sie sind sowohl Gesetzgeber als auch gleichzeitig Regierung, und das geht in einem demokratischen System, das auf Gewaltenteilung beruht, nicht. ### “Der Europäische Rat tagt wie früher die Fürstenhöfe”

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Was stört Sie konkret am Europäischen Rat?
Jürgen Rüttgers
Der Europäische Rat tagt wie früher die Fürstenhöfe beim Wiener Kongress. Man tagt hinter verschlossenen Türen, es wird nicht vorab bekanntgegeben, worüber da gesprochen wird, die Tagesordnung ist unbekannt, die Vorlagen sind unbekannt. Man diskutiert miteinander, die Ergebnisse werden nicht so bekanntgegeben, dass sie nachvollziehbar sind, sondern sie werden von allen Teilnehmern, von allen Regierungs- und Staatschefs unter dem nationalen Blickwinkel verkündet; immer natürlich mit dem Satz: “Ich habe die Interessen unseres Landes durchgesetzt gegen die anderen, die anderer Meinung waren.” Ich stelle mir als Unionsbürger die Frage, wieso kommt dieses Gremium dazu, das eingeführte Mehrheitsabstimmungsrecht im Europäischen Rat zu unterlaufen, indem man sich darauf verständigt, alle Abstimmung einstimmig zu machen. So hat jedes Land eine Vetoposition, wie wir sie aus dem UN-Sicherheitsrat kennen, und das macht die Politik unglaublich schwierig und kompliziert. Und ich stelle mir als Unionsbürger die Frage: Wie werde ich in die Lage versetzt, mein Recht als Bürger in Anspruch zu nehmen, gegen die Entscheidungen dieses Gremiums beim Europäischen Gerichtshof zu klagen.
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Sie sagen, es gibt ein europäisches Volk. Aber ist nicht das Problem, dass genau solch ein Volk fehlt. Es gibt viele europäische Völker, aber kein europäisches Volk.
Jürgen Rüttgers
Es gibt 28 europäische Völker und ein europäisches Volk. Die Frage ist ja, wie definiert man heute Volk. In früheren Zeiten hat man das abgeleitet von der Herkunft. Man hat es abgeleitet von der Rasse, man hat versucht, das Wesen des Volkes zu definieren, woraus sich dann alles andere ableiten würde. In einer modernen Demokratie definiert sich das Volk ausschließlich über die Staatsbürgerschaft. Und es gibt eine europäische Staatsbürgerschaft, die Unionsbürgerschaft.
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Was, wenn viele Leute diese Bürgerschaft gar nicht wollen, weil sie emotional mit ihren Nationalstaaten verbunden sind, aber nicht mit Europa?
Jürgen Rüttgers
Die jetzige europäische Rechtslage ist ja europäisch legitimiert. Auf der einen Seite durch die Zustimmung der Mitgliedsstaaten und der Völker in den nationalen Wahlen, und gleichzeitig über die europäischen Wahlen, die ja eine eigene europäische Legitimation zur Folge haben. Also insofern ist diese Entscheidung klar. Dass man wieder austreten kann, haben wir beim Brexit gesehen.
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Aber es geht doch bei einer Staatsbürgerschaft auch um die Identifizierung mit dem jeweiligen Staat. Und es scheint, als würden viele Menschen sich eher mit ihren Nationalstaaten als mit Europa identifizieren. Jürgen RüttgersDas halte ich für eine künstlich erzeugte Meinung. Wenn alle das behaupten, glaubt man es nachher selber. In meinem Buch habe ich das aufgeführt und teils freundlich zurückhaltend formuliert. Seit wann gibt es eine deutsche Staatsbürgerschaft? Die gibt es seit 1913. Im Jahre 1870/71 ist das zweite deutsche Reich entstanden. Und bis 1913 hatte man genau so ein System, wie wir es jetzt haben. Die damalige Staatsbürgerschaft war so wie heute die Unionsbürgerschaft in Europa. Man war Staatsbürger von Preußen, von Hamburg, von Bayern. Und deshalb war man dann auch Deutscher. Ich halte es für einen riesigen zivilisatorischen Fortschritt, dass wir heute nach der Nazi-Barbarei und nach dem Zweiten Weltkrieg die Frage der Staatsbürgerschaft nicht mehr von irgendwelchen Herkünften abhängig machen, sondern von Staatsbürgerschaften. Das ist ein zivilisatorischer Fortschritt, den wir nicht wieder verspielen dürfen. ### “Referenden sind keine Lösung”

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Halten Sie Referenden für ein geeignetes Mittel, um mehr Demokratie zu erreichen?
Jürgen Rüttgers
Ich glaube nicht, dass Referenden die Lösung sind. Wir haben in den letzten 40 Jahren immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Europawahlen oder nationale Referenden über europäische Fragen sehr häufig als Protestwahlen benutzt wurden, weil man sie für nicht so wichtig hält oder weil man Protest ausüben will. Wir haben etwa in Österreich gesehen, dass das auch bei nationalen Wahlen so eingesetzt wird. In Deutschland kennen wir das von den Wahlen in den Bundesländern. Insofern taucht die Frage auf, mit welchem Thema – und das ist eine politische Frage, die die Eliten des Landes oder Europas beantworten müssen – mit welchem Thema beantwortet man die Anfrage, die in diesem Protest zum Ausdruck kommt. Die Verfahren sind zu kompliziert und werden als zu undemokratisch empfunden. Ich bin mir auch ganz, ganz sicher, dass man, wenn man es richtig macht, für entsprechende weitere Demokratisierungsschritte, auch bei nationalen Referenden, die notwendige Zustimmung bekommt.
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Sie haben beim Europäischen Rat die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen kritisiert, dieser Vorwurf wurde auch im Zusammenhang mit TTIP laut. Verstehen Sie die Kritik?
Jürgen Rüttgers
Ja natürlich. Das war jedem, der sich in der Politik auskennt, von Anfang an klar. Ich habe zwei Jahre, bevor die Demonstrationen losgingen, in Washington mit dem Verhandlungsteam gesprochen und gesagt, “ihr macht hier wieder den größten und zentralsten Fehler in einer Demokratie: Ihr verhandelt geheim, ihr zeigt nicht, worüber ihr verhandelt, ihr zeigt nicht, wo die Alternativen sind, so dass man nachvollziehen kann, warum ihr euch für den einen und nicht den anderen Weg entschieden habt, und wenn ihr das so weitermacht, wird das ganze scheitern.” Jeder, der Politik kennt, weiß, dass man in der heutigen offenen Gesellschaft so nicht mehr arbeiten kann.
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Die Beteiligung an der EU-Wahl ist sehr niedrig und sie ist über die Jahre gesunken. Kann es sein, dass nicht so sehr das Angebot an demokratischen Partizipationsmöglichkeiten das Problem ist, sondern die Nachfrage?
Jürgen Rüttgers
Bei der letzten Wahl ist die Wahlbeteiligung nach oben gegangen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass wir politische Alternativen hatten, was sich, wie bei der Wahl zum Europäischen Parlament, in zwei Spitzenkandidaten nach außen verdeutlicht hat. Das war eine kleine Revolution, die da stattgefunden hat. Übrigens gegen den Willen der Mitglieder des Europäischen Rates. Ich fand das einen riesigen Schritt nach vorn, um es mit einer Formulierung des ehemaligen Verfassungsrichters Udo Di Fabio zu sagen: Das war eine Form von Selbstermächtigung, man kann auch sagen, eine Revolution, weil sich das Parlament ein Recht erkämpft hat, das ihm die Mächtigen nicht geben wollten. Die Reaktion auf dieses positive Ergebnis war, dass Mitglieder des Europäischen Rates gesagt haben, das wird das nächste Mal wieder kassiert. Das kann man nicht mehr kassieren, und wenn das passiert, muss es auch Proteste geben.
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Die Wahlbeteiligung lag bei um die 42 Prozent, das ist niedrig. Jürgen RüttgersDas liegt aber daran, dass über viele Jahre die Mitglieder des Europäischen Rates nach außen immer den Eindruck erweckt haben, Europa sei kein Staat, es gebe kein europäisches Volk, keine europäische Staatsbürgerschaft. Und da muss man sich nicht wundern, dass von den Bürgern entsprechende Reaktionen kommen, wenn die Amtsinhaber so etwas sagen. Umgekehrt: Auch in anderen Ländern innerhalb Europas oder auch in den USA bei den Gouverneurs-Wahlen, ist die Beteiligung nicht höher. Aber nochmal: Das hat was damit zu tun, dass man zwar weiß, dass Europa notwendig ist, dass es für die ärmeren Länder eine zentrale Rolle spielt und für Krieg und Frieden Europa eine zentrale Institution ist, man aber nicht zugeben will, dass das ein völlig neues System von Demokratie zur Folge hat, nämlich ein Mehrebenensystem. Und das setzt zum Beispiel voraus, dass das europäische Parlament sich jetzt endlich das Initiativrecht erkämpfen soll. Es hat noch nie ein Parlament in der Geschichte der Demokratie Rechte vom Herrscher übertragen bekommen, wenn es sie nicht selber erkämpft hat. Bisher war das einer ganzen Reihe von Mitgliedern im Europäischen Rat auch zu lästig, weil man sich lieber im Rahmen der Großen Koalition verständigt hat, als um Mehrheiten zu kämpfen. ### “Bitte weniger Detailentscheidungen aus Brüssel”

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Ist das Hauptargument für die EU der Frieden?
Jürgen Rüttgers
Ja. Und ich finde es nicht verantwortbar, wenn Politiker dann erklären, junge Leute würden das nicht verstehen, für die sei ein Europa ohne Grenzen selbstverständlich. Gott sei Dank ist das so! Das ist doch kein Grund, den jungen Leuten immer zu unterstellen, dass sie kein Gefühl dafür hätten, welche Bedeutung Europa für den Frieden auch in Zukunft hat. Und spätestens nach der Wahl von Herrn Trump werden wir ja sehen, wie sehr wir uns um unsere eigene Sicherheit werden kümmern müssen.
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Hat die EU den Frieden ermöglicht oder hat der Frieden die EU ermöglicht?
Jürgen Rüttgers
Die Tatsache, dass wir nach dem Krieg die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland hatten, aber auch zwischen Israel und Deutschland, hat etwas mit der Einbindung Deutschlands in Europa zu tun, von Anfang an, auch im Kontext des Kalten Krieges. Insofern war es sicher nicht der Friede der Kapitulation nach dem Zweiten Weltkrieg, der die Europäische Union geschaffen hat.
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Wäre nicht ein loserer Zusammenschluss besser, weil die einzelnen Staaten so eher entscheiden können, was für sie gut ist und was nicht?
Jürgen Rüttgers
Ich war Ministerpräsident, ich bin ein Anhänger des Föderalismus, der Subsidiarität. Ich glaube, dass wir zu viele Detailentscheidungen – übrigens meist auf nationalen Wunsch – in Europa regeln. Statt dessen wünsche ich mir mehr Entscheidungen, die ordnungspolitisch richtig sind, die sich mit den großen Fragen befassen, und dass die Umsetzung im föderalen Sinn in den Mitgliedsländern passiert.
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Also weniger Entscheidungen zu Ölkännchen und Glühbirnen? Jürgen RüttgersJa. Die Glühbirne ist ein sehr schönes Beispiel: Die Anregung kam aus Deutschland. Die Bundesregierung hat das immer weiter nach vorne getrieben. Aber als man merkte, dass es unangenehm wurde, hat man die Verantwortung dann auf die Europäischen Union geschoben. ### Zu Populismus: “Man darf sich keine Unwahrheiten gefallen lassen”

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Le Pen, Farage, die AfD: Wie kann die EU den stärker werdenden EU-feindlichen Kräften begegnen?
Jürgen Rüttgers
Man muss sie in der Sache stellen und man darf sich auf gar keinen Fall Unwahrheiten gefallen lassen. Das sind die zwei Punkte, die wichtig sind. Dass sie so stark geworden sind, ist ein Versagen der Parteien, die sich zu spät und zu wenig mit dem Thema befasst haben. Bei der letzten Europawahl zum Beispiel ist die AfD schon ins Europäische Parlament eingezogen. Aber das hat in Deutschland keinerlei politische Konsequenzen gehabt. Da hat niemand reagiert. Bei der letzten Bundestagswahl hat die AfD 4,7 Prozent erreicht. Spätestens da hätte man reagieren müssen. Auch das hat man nicht getan. Mein Eindruck ist, dass selbst nach den Erfahrungen mit der amerikanischen Präsidentschaftswahl, mit Bots, mit dem Interneteinsatz, mit Filterblasen und ähnlichem, dass man anscheinend in Deutschland nach wie vor davon ausgeht, dass so etwas im kommenden Jahr nicht stattfindet. Natürlich wird sich jede Wahl, die im nächsten Jahr stattfindet, sowohl die in Frankreich, in den Niederlanden, in Norwegen oder in Deutschland mit solchen Phänomenen und solchen Angriffen auseinandersetzen müssen.
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Solche Angriffe sollen unter anderem aus Russland kommen. Es gibt Gerüchte, Wladimir Putin lege es auf eine Schwächung der EU an und unterstütze deshalb EU-feindliche Kräfte und Personen wie Marine Le Pen. Glauben Sie, an diesen Gerüchten ist etwas dran?
Jürgen Rüttgers
Dass Marine Le Pen Geld aus Russland bekommen hat, ist ja ganz eindeutig. Das ist, soweit ich das überblicken kann, unwidersprochen. Dass entsprechende Hackerangriffe aus dem russischen Umfeld kommen, wird von vielen Regierungen im westlichen Bereich behauptet, jedenfalls nicht dementiert. Das heißt, man muss davon ausgehen, dass das so ist.
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Hat Putin ein Interesse am Zerfall der EU?
Jürgen Rüttgers
Ja natürlich. Denn die Konflikte, die dadurch entstanden sind, dass die Nato und die EU sich so weit in den Osten ausgedehnt haben, sind eine Wunde, die sich in Russland noch nicht geschlossen hat.
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Warum stört die Osterweiterung Moskau?
Jürgen Rüttgers
Das kommt daher, wenn man in Machtkategorien denkt und Machtkategorien wie im 19. Jahrhundert definiert, nämlich in Land, in Waffen, in Armeestärken, in Zugangsmöglichkeiten, in Machtausübungsmöglichkeiten. Dann muss man sich nicht wundern, wenn eine entsprechende Politik gemacht wird. Man muss ja nur in den Reden von Putin lesen, wie er seine Macht ableitet, wie er sie definiert, von der Krim angefangen bis zu anderen Teilen der Welt. Es gibt einen Riesenunterschied in der Frage, wie man Politik macht und welche Auswirkungen das hat, von Destabilisierungsmaßnahmen von Geheimdiensten bis zu Cyber-Angriffen, die gehören natürlich dann zum Repertoire.
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Was bedeutet Donald Trump für Europa?
Jürgen Rüttgers
Ich glaube nicht, dass er gegen Europa ist, ich glaube nicht, dass er für Europa ist. Bei ihm ist Politik der Versuch, Deals für Amerika zu machen. Und insofern werden wir wahrscheinlich ungemütliche Zeiten bekommen, weil sie losgelöst sind von dem, was uns eigentlich verbindet, nämlich die westlichen Werte.
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Inwiefern ungemütlich? Was stellen Sie sich da konkret vor? Jürgen RüttgersEs gibt ja viele, die hoffen, dass sich Trump ändern wird, wenn er erst mal im Amt und im Weißen Haus ist und im dauernden Kontakt mit der Administration steht. Ich glaube nicht dran. Er wird so weitermachen, wie er den Wahlkampf gemacht hat.

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