Flucht aus Tunesien „Alle diese Toten hatten einen Traum“

Flucht aus Tunesien „Alle diese Toten hatten einen Traum“
Von Isabelle Noack
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Junge Tunesier stellen die größte Zahl von Migranten dar, die das Mittelmeer überqueren. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration haben in diesem Jahr bereits mehr als 6.000 Tunesier die italienischen Küsten erreicht.

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Junge Tunesier stellen die größte Zahl von Migranten dar, die das Mittelmeer überqueren. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration haben in diesem Jahr bereits mehr als 6.000 Tunesier die italienischen Küsten erreicht.

Chamseddine Marzouk ist Friedhofswärter in Zarzis, "hier haben wir etwa 400 Menschen begraben - darunter Kinder, Frauen und Männer."

Seit Jahren ist das der Alltag von Chamseddine: mindestens 3-mal pro Woche kommt er und kümmert sich um die, die tragisch verunglückt sind. Der sogenannte "Friedhof der Unbekannten" ist die letzte Ruhestätte für Migranten, die im Mittelmeer ertrunken sind, nachdem sie versucht haben nach Europa zu gelangen. Ihre Körper wurden nur wenige Kilometer entfernt in und um die Küstenstadt Zarzis nahe der libyschen Grenze im Sünden Tunesiens an Land gespült. Durch seine Arbeit als Bestatter möchte Chamseddine den Toten die Würde geben, die sie im Leben nie bekamen. "Jeder dieser Körper hat eine Geschichte.... und einen Wunsch. Ein Traum von einem anderen Leben," so Chamseddine.

Auch seine eigenen Kinder träumten davon.... zwei von ihnen haben kürzlich, auf kleinen Booten, die Reise nach Europa gewagt. "Meine Kinder sind gegangen, ohne es mir zu sagen. Ich gebe Europa die Schuld dafür, denn ich habe für beide ein Visum beantragt - eins für Deutschland und eins für Frankreich. Beide wurden abgelehnt, deshalb sind meine Kinder so gegangen, “ so der Tunesier.

Chamseddines Kinder waren nicht die einzigen, die gegangen sind. Die Einheimischen sagen, dass etwa 600 Menschen im Sommer die gefährliche Reise gewagt haben. Auch die verlassenen Migrantenboote an der Küste schrecken diejenigen, die keine andere Wahl sehen als zu gehen, kaum ab. Diejenigen, die sich dafür entscheiden, diese Gewässer zu durchqueren, sind sich oft der Risiken bewusst, denen sie ausgesetzt sind. Sie hören die Geschichten, sie sehen die Leichen, die vom Mittelmeer angespült werden. Aber viele hier in Zarzis und in ganz Tunesien sagen, dass sie das Risiko des Todes bevorzugen - als weiterhin ohne Hoffnung zu leben.

Adel Elghoul ist Bauarbeiter in Zarzis. Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Freunde hat er einen Job. "Das Leben in Tunesien wird immer härter. Die Mehrheit der jungen Menschen fühlen sich verloren und will gehen. Sie glauben, dass sie sowieso sterben werden, ob in Tunesien oder im Meer, das macht für sie keinen großen Unterschied".

Adel spricht von einer "Katastrophe". Aber nicht um die Tage zu beschreiben, an denen seine Freunde im Mittelmeer ertrunken sind, sondern vielmehr um den aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Stand für die tunesische Jugend zu erklären. 60 Prozent der Bevölkerung des Landes sind unter 35 Jahre alt und 36% von ihnen sind arbeitslos. Die Inflation liegt bei 8%. Träumen ist schwierig, auch für diejenigen, die - wie Adel - einen Job haben. „In Tunesien gibt es so etwas wie einen Traum nicht. Unser Traum ist es, ein Haus zu haben, eine glückliche Familie aufzubauen, zu heiraten, Kinder zu haben. All das sollten Rechte sein. Unsere Träume in Tunesien sind sehr einfach. Und diese Träume bringen uns zum Lachen," so Adel.

Es ist fast acht Jahre her, seit der Arabische Frühling das Regime von Ben Ali zu Fall brachte und es Versprechen von Freiheit und Wohlstand gab. Versprechen für die viele in Tunesien immer noch kämpfen. Bis diese eingelöst werden, werden viele Tunesier wahrscheinlich weiterhin ihre einzige Chance im Mittelmeerraum sehen. Eine unglaublich gefährliche Überfahrt, die in diesem Jahr bereits fast 2.000 Menschenleben gefordert hat.

Chamseddine sagt, er weiß, dass noch mehr Leichen kommen werden... Er wird warten.

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