Ukrainekrieg schafft Millionen neue "Kriegskinder" - Forscher: "Das ist ein Schock"

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Von Sigrid Ulrich
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Viele Familien erzählen sich jetzt wieder von Märschen über die zugefrorene Ostsee, verlorenen Kindern und hungrigen Erwachsenen. All das wird wieder wach,wenn Leute die Bilder aus der Ukraine sehen. Wie kommt Europa aus diesem Generationen-Schrecken heraus?

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Laut UNICEF sind bisher rund 4,3 Millionen ukrainische Kinder geflohen, um der Unsicherheit und den Kämpfen zu entkommen – mehr als die Hälfte der insgesamt 7,5 Millionen Kinder im Land. Professor Dr. Elmar Brähler vom Universitätsklinikum Leipzig hat mit Kollegen aus Greifswald und Zürich die Daten von mehr als 8.000 Menschen auf posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ausgewertet. Was kommt auf diese Millionen Kinder zu?

Prof. Elmar Brähler*, Universität Leipzig:

"Schlimme Kindheitsereignisse – bei manchen wächst sich’s aus, aber bei den meisten wächst sich’s eben nicht aus. Und wir haben in Deutschland eine hohe Zahl der posttraumatischen Belastungsstörungen gehabt bei der Generation, die vor 1946 geboren ist. Das war zum Beispiel in der Schweiz nicht so. In der Schweiz waren die Zahlen sehr sehr viel niedriger. …

Und diese Störungen wirken noch in die nächste Generation hinein.

Das kann Flashbacks geben, wo man durch Ereignisse erschüttert wird, zB durch bestimmte Gerüche. Zum Beispiel bei Ausbombungen entsteht ein bestimmter Geruch. Und der wird verkoppelt mit einem ganz schrecklichen Erlebnis. Es betrifft aber selbst Ungeborene, die im Mutterleib noch waren und wo sich die Angst der Mutter übertragen hat. Und diese Auslöser sind dem bewussten Zugang meistens eher versperrt.

Der Körper erinnert sich. Das ist sehr tief gespeichert. Und viele haben ja auch die Traumata verdrängt, die sie gar nicht zulassen. Und wir wissen zB von KZ-Opfern, dass das mit Herzerkrankungen verknüpft sein kann. Und dass oftmals Erinnerungen erst im Alter wiederkommen.

Wenn bestimmte Situationen im Altersheim … wenn eine alte Frau, die den Krieg erlebt hat, oder Vertreibung erlebt hat, im Bett liegt und ein Mensch das Zimmer betritt, ein Mann, der eine andere Sprache spricht. Dann kann die in panische Ängste verfallen und sich unter dem Bett verstecken."

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In Deutschland mussten nach dem Zweiten Weltkrieg rund 12 Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebene integriert werden. Viele Familien erzählen sich jetzt wieder von Märschen über die zugefrorene Ostsee, verlorenen Kindern und hungrigen Erwachsenen. All das wird wieder wach, wenn die Leute die Bilder aus der Ukraine sehen. Und wie kommt Europa aus diesem Generationen-Schrecken heraus? Für den Medizin-Psychologen gibt es nur ein Gegenmittel.

Prof. Elmar Brähler:

"Man hat gedacht, dass diese Zeiten, wo man Konflikte derart bestialisch, kriegerisch austrägt – dass diese Zeiten vorbei sind.

Das ist ein Schock für alle in der Bevölkerung. Und dieser Schock muss auch verarbeitet werden. Und man muss ja auch Hoffnungszeichen haben, wie es denn weitergehen könnte.

Solidarität mit den Geflüchteten kann den Geflüchteten helfen - das ist ein wichtiger Punkt für die Helfer. Aber wie es weitergehen wird - ob es zu einem - das hoffen ja alle - dass es bald zu Verhandlungen kommt…. aber auch wenn es zu einem Waffenstillstand kommt, zu welchen Bedingungen auch immer, bleibt die große Angst: Das kann jederzeit wieder passieren, wir sind nicht davor gefeit. Die Welt ist ganz fragil geworden“.

Interview: Sigrid Ulrich

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* _Prof. Dr. rer. biol. hum. habil. Elmar Brähler studierte Mathematik und Physik. Nach Promotion und Habilitation in Psychotherapieforschung bzw. Medizinischer Psychologie leitete er von 1994 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im April 2013 die Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig. _

Forscher von der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie am Uniklinikum Leipzig ("Pharmazeutische Zeitung") haben gemeinsam mit Kollegen aus Greifswald und Zürich die Daten von mehr als 8.000 Menschen zwischen 14 und 93 Jahren von 2005 bis 2008 ausgewertet. Das Ergebnis: Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sind in Deutschland vor allem eine Krankheit der Über-60-Jährigen. Bis zu 4 Prozent von ihnen wiesen eine solche Störung auf. Geringer ausgeprägte Formen eingeschlossen, litten sogar etwa 12 Prozent der älteren Generation 60 Jahre nach Kriegsende unter posttraumatischen Symptomen. Somit waren in Deutschland circa 2,5 Millionen Menschen betroffen. Im Vergleich dazu: Die jüngere Generation der 30- bis 59-Jährigen litt nur zu einem Anteil von bis zu 2,7 Prozent an einer PTBS.

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