Letzte 2.500 Verteidiger verschanzen sich in Mariupols unterirdischem Labyrinth

Ein von Maxar Technologies zur Verfügung gestellte Satellitenbild von dem Gelände der Asowstal Eisen und Stahl Werke im östlichen Mariupol, 09.04.2022
Ein von Maxar Technologies zur Verfügung gestellte Satellitenbild von dem Gelände der Asowstal Eisen und Stahl Werke im östlichen Mariupol, 09.04.2022 Copyright AP/Satellite image ©2022 Maxar Technologies
Von Euronews mit AFP
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Rund 2.500 verbleibende ukrainische Verteidiger verschanzen sich in den weit verzweigten Tunnelsystemen unter dem Industriekomplex der Asowstal Stahlwerke in Mariupol.

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Mariupol ist die am stärksten bombardierte Stadt im Ukraine-Krieg und ein strategischer Schlüssel für Putins Eroberungsfeldzug. Die Schlacht um die wichtige Hafenstadt am Asowschen Meer mit einst rund 450.000 Einwohner:innen konzentriert sich mittlerweile auf einen weit verzweigten Industriekomplex im Hafen.

Die Stadt in der Südostukraine ist seit Wochen von russischen Streitkräften umzingelt und belagert, die Eroberung scheint unausweichlich. Rund 2.500 verbleibende ukrainische Verteidiger stemmen sich dagegen und ziehen die Kämpfe in die Länge. Sie verschanzen sich in den weit verzweigten Tunnelsystemen unter dem Industriekomplex der Asowstal Stahlwerke. Dieses Labyrinth bietet ihnen einen Vorteil gegenüber den russischen Angreifern und macht die vielleicht letzte Schlacht zu einem zähen Kampf.

Die ukrainischen Krämpfer, die auf dem Gelände und in den Tunneln eingekesselt sind, sollen in einer "katastrophalen Lage", sein. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, er stehe mit den Verteidigern der Stadt in Kontakt, die Lage in Mariupol sei „extrem ernst“. An Moskau gerichtet sagte er: "Die Vernichtung unserer Truppen, unserer Männer in Mariupol wird allen Verhandlungen ein Ende bereiten."

In der Nacht zum Sonntag haben die russischen Streitkräfte die ukrainischen Kämpfer nach eigenen Angaben aufgerufen, sich zu ergeben.

"Unterirdische Stadt in der Stadt" - gemacht für den Guerilla-Kampf

Der weitläufige Industriekomplex der Asow-Stahlwerke ist wie gemacht für einen Guerilla-Kampf: Mehrere Quadratkilometer voll Eisenbahnschienen, Lagerhäusern und Schornsteinen. Für Angreifer bedeutet dies schlechte Sicht, Löcher, Hindernisse und potenzielle Fallen auf Schritt und Tritt.

Nach Angaben, die nicht unabhängig geprüft werden können, verlaufen unter dem Fabrikgelände bis zu 30 Meter tiefe unterirdische Gänge mit einer Gesamtlänge von mehr als 20 Kilometern. "Es ist eine Stadt in der Stadt, und es gibt mehrere unterirdische Ebenen aus der Sowjetzeit", sagte der Vertreter der in Mariupol kämpfenden pro-russischen Separatisten, Eduard Basurin.

Mstyslav Chernov/Copyright 2021 The Associated Press. All rights reserved
Eine Luftaufnahme des Azowstal Stahlwerk-Geländes vom 7. März 2021Mstyslav Chernov/Copyright 2021 The Associated Press. All rights reserved

Tunnelsysteme haben in vielen Kriegen eine Rolle gespielt

Beispiele der militärischen Nutzung von Tunneln finden sich viele: die Cu-Chi-Tunnel des Vietkong bei Saigon, die Tunnel der Hamas bei Kämpfen gegen die israelische Armee oder die Tunnel der IS-Miliz beim Kampf um Mossul im Irak. Auch bietet sich ein Vergleich mit der Schlacht um Stalingrad im Zweiten Weltkrieg an. Damals konzentrierten sich die Kämpfe in der Stadt auf ein Industriegebiet rund um das Stahlwerk "Roter Oktober". "Die Sowjets haben die unterirdischen Gänge, die Kanalisation und die Tunnel benutzt, um hinter die deutschen Linien zu gelangen", sagt ein französischer Militärvertreter.

Auch 80 Jahre später und trotz moderner Militärtechnik hat der Untergrund für Verteidiger seine Vorzüge nicht verloren. Angriffe aus der Luft genau wie Scharfschützen und Satellitenüberwachung sind weitgehend nutzlos, wenn sich der Gegner unter der Erde versteckt. "Es ist nicht möglich, von oben zu bombardieren, man muss unterirdisch aufräumen", sagt der Militärvertreter Basurin über die Lage in Mariupol. "Das wird Zeit brauchen."

Die Russen könnten die Tunnel fluten oder "die Maulwürfe ausräuchern"

Für die russischen Streitkräfte ist es "unmöglich", in die Tunnel einzudringen, sagt Alexander Grinberg, Analyst am Jerusalem Institute for Security and Strategy (JISS). Sie "können es versuchen, aber dann werden sie massakriert, weil die Verteidiger der Tunnel den absoluten taktischen Vorteil haben".

Die Probleme der Tunnel-Verteidiger sind allerdings ebenfalls dieselben wie vor 80 Jahren: die schwierige Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser und Munition, die erschwerte Kommunikation und die Gefahr von Einstürzen. Den ukrainischen Soldaten in Mariupol fehlt es wahrscheinlich auch an technischer Ausstattung wie Nachtsichtgeräten.

Die russischen Angreifer könnten versuchen, die Tunnel zu fluten. Auch der Einsatz von Gas oder anderen Chemikalien ist denkbar. Der pro-russische Separatistenführer Eduard Basurin hatte vergangene Woche bereits gesagt, man wolle sich "an chemische Truppen wenden, die einen Weg finden werden, die Maulwürfe in ihren Löchern auszuräuchern".

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