"Massenablenkungswaffen": Was hat es mit Italiens merkwürdiger Politik auf sich?

Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der stellvertretende Ministerpräsident Matteo Salvini, während einer Pressekonferenz am 9. März 2023
Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der stellvertretende Ministerpräsident Matteo Salvini, während einer Pressekonferenz am 9. März 2023 Copyright Tiziana Fabi, AP Photo
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Von Giulia Carbonaro
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Verbote von Rave-Parties und ChatGDP klingen banal und abstrus, aber sie verfolgen einen Zweck, so italienische Politikwissenschaftler:innen

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Zunächst wurde ein umstrittenes Verbot von Rave-Partys erlassen. Dann ein Verbot des viel diskutierten Chatbots ChatGPT, des ersten seiner Art weltweit, gefolgt von einem Verbot von Kunstfleisch. Und schließlich der Plan, hohe Geldstrafen für die Verwendung englischer Wörter in offiziellen Kommunikationen zu verhängen - was viele zunächst für einen Aprilscherz hielten, sich aber erstaunlicherweise täuschten.

Nachdem die rechtsgerichtete Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in den letzten Monaten eine Reihe von ungewöhnlichen Maßnahmen ergriffen hat, fragen sich viele Beobachter: Was ist wirklich los mit Italiens Regierung und was steckt hinter dieser seltsamen Politik?

Francesco Strazzari, Professor für internationale Beziehungen an der Scuola Universitaria Superiore Sant'Anna in Pisa, nannte die jüngste Welle unwahrscheinlicher Gesetze, die von Melonis Regierung verabschiedet wurden gegenüber Euronews "Massenablenkungswaffen".

Italien ist derzeit mit ernsten Problemen konfrontiert, die es mit vielen europäischen Ländern teilt: vornehmlich eine anhaltende Energie- und Lebenshaltungskostenkrise und ein anwachsender Migrationsstrom an den südlichen Küsten. Und diese eher unbedeutenden Gesetzesinitiativen lösten dann endlose Debatten in den sozialen Medien und in der italienischen Öffentlichkeit aus - und sei es nur, um die Regierung der Lächerlichlichkeit preiszugeben:

"Jedes Mal, wenn sich die Regierung Meloni in einer schwierigen Situation befindet, kommt sie mit kontroversen Maßnahmen, die die Aufmerksamkeit von ihrer schlechten Leistung und ihrer katastrophalen Politik ablenken", sagt Strazzari.

Welche größeren Probleme verbergen sich hinter dieser "oberflächlichen Politik"?

Als die italienische Regierung im November letzten Jahres ein Gesetz zum Verbot illegaler Rave-Partys verabschiedete, tat sie dies, obwohl es keine Dringlichkeit für ein solches Gesetz gab, so Strazzari gegenüber Euronews, da das Problem keine unmittelbare Herausforderung für das Land darstellte und zu gegebener Zeit hätte gelöst werden können.

"Aber es gab einen starken Versuch, das Verbot im Hinblick auf die öffentliche Aufmerksamkeit aufzublähen, undzwar angesichts der drohenden Gefahr von Protesten gegen ein neues Gesetz über die Such- und Rettungsmissionen im Mittelmeer", so Strazzari.

Kurz nach dem Rave-Verbot erließ die Regierung Meloni dann eben jenes Gesetz. Es verbietet Such- und Rettungsschiffen von NROs, mehr als eine Operation gleichzeitig durchzuführen, und zwingt sie dazu, in von den Behörden bestimmten Häfen anzulegen, die laut Strazzari in der Regel "sehr abgelegen" sind.

Dieses Gesetzesdekret, das die Einsatzkapazität der Such- und Rettungsschiffe der NROs erheblich einschränkt, hat im Mittelmeer bereits zu Spannungen zwischen NROs und italienischen Behörden geführt.

Die jüngsten Maßnahmen in Bezug auf ChatGPT, synthetisches Fleisch und die Verwendung englischer und ausländischer Wörter in der offiziellen Kommunikation fallen in eine Zeit, in der in Italien eine sehr ernste Debatte über das Gefängnissystem und die Haftbedingungen geführt wird, die durch den Hungerstreik des Häftlings Alfredo Cospito neu entfacht wurde.

Laut Strazzari ist die harte Strafe, die Cospito, einem italienischen Anarchisten, der seine Haft unter einem sehr strengen Gefängnisregime verbüßt, das normalerweise Mafiabossen vorbehalten ist, auferlegt wurde, "im Hinblick auf internationale Normen sehr umstritten, da in rechtsstaatlichen Ländern die Schwere einer Strafe an der Dauer und nicht an den Haftbedingungen gemessen werden muss".

Doch anstatt sich mit komplexen, langfristigen Herausforderungen wie dem Hungerstreik von Cospito oder der Ankunft von Migranten an den italienischen Küsten zu befassen, kapriziert sich Melonis Regierung in ihren gesetzgeberischen Bemühungen auf eine Reihe von Maßnahmen "im Namen des kulturellen Nationalismus, [...] eine Idee von der Nation als etwas, das nicht verhandelbar ist, das in einer idyllischen Vergangenheit existiert - unbefleckt von der Kontamination durch Migranten, Anarchisten und der Lebensmittelindustrie", so Strazzari.

Marco Ravagli/AP2000
Die Regierung Meloni bedient den liebgewonnen Mythos von der einzigartigen italienischen EsskulturMarco Ravagli/AP2000

Die Debatte über diese nationalistische Politik lenkt einmal mehr von viel folgenreicheren - und umstrittenen - neuen Gesetzen ab, die Melonis Regierung zu verabschieden versucht - wie etwa ein Gesetz, das Leihmutterschaften im Ausland unter Strafe stellt.

Im vergangenen Monat begann das italienische Parlament mit den Beratungen über dieses umstrittene Gesetz, das Italiens langjähriges Verbot der Leihmutterschaft auf Paare ausdehnen würde, die für das Verfahren ins Ausland reisen, etwa in die USA, nach Kanada oder Indien.

Nach dem vorgeschlagenen Gesetz, das von den Brüdern Italiens und der Liga unterstützt wird, droht denjenigen, die im Ausland eine Leihmutter für ihr Kind suchen, eine Haftstrafe von zwischen drei Monaten und zwei Jahren, oder Geldstrafen zwischen 600.000 und 1 Million Euro.

Für gleichgeschlechtliche Paare, die versuchen, durch Leihmutterschaft ein Kind zu bekommen, wäre das Gesetz brandgefährlich.

Ein souveräner Vorstoß, der Italien gegen die Europäische Union aufbringen könnte

Die jüngste umstrittene Politik von Melonis Regierung ist nicht nur ein Spiel mit Schall und Rauch: Diese gesetzgeberischen Bemühungen stehen auch "ganz im Einklang mit der Ideologie der Partei", so Marianna Griffini, Dozentin in der Abteilung für europäische und internationale Studien am King's College London, gegenüber Euronews.

"Melonis Partei setzt sich für die Souveränität Italiens ein, und diese Politik sendet die Botschaft aus: 'Mischt euch nicht in unsere inneren Angelegenheiten ein', selbst wenn es nur um kulturelle Angelegenheiten und kulturelle Souveränität geht", sagt sie. Und an wen ist diese Botschaft gerichtet? An die EU.

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Italiens Verbot von synthetischem Fleisch könne, so Griffini, als Möglichkeit für Italien gesehen werden, die Souveränität gegenüber der EU in Bezug auf Lebensmittel zurückzugewinnen, nachdem die EU bereits grünes Licht für Fleisch aus dem Labor gegeben habe.

Griffini ist nicht die Einzige, die das so sieht. Für Strazzari führt die "lächerliche" Politik der Regierung Meloni, die "seichte Rufe nach nationaler Identität und nationaler Rhetorik mobilisiert", in die Richtung eines souveränen Vorstoßes, der letztlich darauf abzielt, sich der Kontrolle der Europäischen Union zu entziehen - und damit in die Fußstapfen von Polen und Ungarn zu treten.

"Es gibt eine klare Art und Weise, in der Meloni versucht, von der Verschiebung des Zentrums der europäischen Politik nach Osten mit dem Krieg in der Ukraine zu profitieren [...], eine Verschiebung, die Polen und Ungarn mehr Gewicht verliehen hat", sagte Strazzari. "Diese Länder stehen in Sachen Sozialkonservatismus und Nationalismus an zweiter Stelle - insbesondere Polen mit seiner Betonung der traditionellen Familie und des Katholizismus.

Wegen ihrer Anti-LGBT-Politik ist die polnische Regierung in einen Konflikt mit der EU geraten, bei dem es um die Frage des Vorrangs des nationalen Rechts vor dem EU-Recht geht - ein Thema, das von Meloni schon vor ihrem Amtsantritt im letzten Jahr angesprochen wurde.

Im Jahr 2018, als Meloni noch in der Opposition war, war die rechtsextreme Politikerin unter den Erstunterzeichnerinnen eines Gesetzesvorschlags, der eine Änderung von zwei Artikeln der italienischen Verfassung forderte, die besagen, dass Italien den Vorrang des europäischen Rechts vor nationalem Recht anerkennt. "Dieser Vorschlag liegt immer noch vor", sagte Strazzari. "Er wurde nicht diskutiert, aber auch nicht zurückgezogen - er ist sozusagen eingefroren."

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Laut Strazzari gibt es in Italien nun "den Versuch, eine Übereinstimmung" mit Polen und Ungarn zu finden, wenn es um die Einführung einer nationalistischen Politik geht, die gegen die von der EU anerkannten Grundrechte verstoßen könnte. Das vorgeschlagene Verbot der Leihmutterschaft ist ein Beispiel für diese Initiative.

Außenminister Antonio Tajani, der von 2017 bis 2019 Präsident des Europäischen Parlaments war, kommentierte kürzlich die Kritik des Europäischen Parlaments an der Regierung Meloni für die Einführung eines Gesetzes, das die Leihmutterschaft für Italiener:innen verbieten könnte, die ins Ausland reisen, um den Eingriff vornehmen zu lassen, mit den Worten, dass "Italiens Vorschriften in Italien gemacht werden, nicht in Brüssel."

"Das ist eine ziemlich verblüffende Erklärung von jemandem, der Vorsitzender des Europäischen Parlaments war und ziemlich genau weiß, welche Vorrechte das EU-Parlament hat, das unter anderem ja auch von den Italiener:innen gewählt wird. Wir geben einen Teil unserer Souveränität an dieses Parlament ab", sagte Strazzari. "Aber diese Erklärung war ziemlich unverblümt und wies die Kritik des Parlaments zurück. [...] Das lässt aus europäischer Sicht aufhorchen."

Griffini sieht in den souveränen Bemühungen der Regierung Meloni jedoch lediglich "symbolische Kämpfe" und keinen echten Versuch, gegen die EU zu rebellieren. "Es steht zu viel auf dem Spiel", sagt Griffini. "Es geht um die berühmten Mittel des nationalen Konjunkturprogramms, und ich glaube nicht, dass die Beziehung zur EU zu einem Punkt äußerer Feindseligkeit führen wird."

Italiens Konjunkturprogramm, das auf die beispiellose Krise der Pandemie folgte, besteht aus 132 Investitionen und 58 Reformen und wird mit 68,9 Milliarden Euro an Zuschüssen und 122,6 Milliarden Euro an Darlehen für das Land unterstützt.

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"Italien braucht dieses Geld immer noch", so Griffini.

"Während ihres Wahlkampfes hat Meloni ihren Euroskeptizismus abgelegt, und ein krasses Beispiel dafür ist, dass ihr erster Staatsbesuch der EU galt, als sie Ursula von der Leyen traf. Es ist unwahrscheinlich, dass sie sich vollständig gegen die EU auflehnen wird. Diese Politik scheint mehr symbolisch zu sein als alles andere.”

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