"Er kam mit einer brennenden Fackel": Jeder vierte Abgeordnete in den Niederlanden braucht Polizeischutz

Das Parteimitglied der niederländischen Demokraten 66 (D66) und Finanzministerin Sigrid Kaag kommt im Ministerium für allgemeine Angelegenheiten an.
Das Parteimitglied der niederländischen Demokraten 66 (D66) und Finanzministerin Sigrid Kaag kommt im Ministerium für allgemeine Angelegenheiten an. Copyright REMKO DE WAAL/AFP
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Von Laura Llach
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Dieser Artikel wurde im Original veröffentlicht auf Englisch

Ist die niederländische Demokratie nach den jüngsten Rücktritten hochranginger Politiker:innen in Gefahr?

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Sigrid Kaag, die erste Finanzministerin in der Geschichte der Niederlande verlässt die Politik.

In den vergangenen 20 Monaten hat die derzeitige stellvertretende Ministerpräsidentin des Landes viele Morddrohungen erhalten. Der erschreckendste Moment kam jedoch im Januar letzten Jahres, als ein Mann namens Max van den B. schreiend und mit einer brennenden Fackel fuchtelnd bei ihr zu Hause auftauchte.

Ihre Familie, einschließlich ihrer kleinen Kinder, befand sich im Haus, während der Mann den Vorfall live in den sozialen Medien übertrug.

Kaag ist nicht die einzige Politikerin in den Niederlanden, die den fehlgeleiteten Zorn der Wähler:innen, insbesondere in den sozialen Medien, auf sich gezogen hat. Dutzende von Abgeordneten sehen sich ähnlichen Situationen gegenüber.

Nach Angaben des niederländischen Nachrichtensenders Zembla leben mindestens 41 Abgeordnete - mehr als ein Viertel der 150 Parlamentsmitglieder - aufgrund der Drohungen, die sie erhalten, unter Polizeischutz.

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Sigrid Kaag, niederländische Finanzministerin, trifft zu einer Sondersitzung des Ministerrats in Den Haag ein.BART MAAT/AFP

Meine Familie - meine Priorität

Kaag tauchte 2017 als aufstrebender Stern auf der politischen Bühne auf, und wurde von vielen als potientielle erste weibliche Premierministerin des Landes gehandelt, aber nun hat sie sich nach monatelangen Überlegungen entschlossen, alles aufzugeben.

"Es hinterlässt einen großen Eindruck, wenn jemand mit einer brennenden Fackel zu deinem Haus kommt, weil du nicht weißt, was passieren wird, und die Sicherheit deiner Familie hat natürlich höchste Priorität", sagte Kaag gegenüber Euronews.

"Aber das war nicht der Grund, warum ich die niederländische Politik verlassen habe. Für mich war es schwierig, aber erträglich. Für meine Familie nicht. Ich höre immer auf sie und ihre Meinung zählt mehr als alles andere auf der Welt", fügte sie hinzu.

Der Druck auf ihre Familie war so groß, dass die Finanzministerin ankündigte, sie werde nur bis zu den vorgezogenen Parlamentswahlen im November im Amt bleiben.

Kaag wird auch nicht an die Spitze der linksliberalen D66 zurückkehren, der Partei, mit der sie ihre politische Karriere begann.

"Ich habe drei Jahrzehnte lang international auf hohem Niveau gearbeitet. Ich habe oft in Ländern gearbeitet, die sich in einer Krise oder einem Konflikt befanden. Als ich zurückkehrte, hatte ich nicht erwartet, dass ich solche Sicherheitsmaßnahmen brauchen würde, nur um meinem Land zu dienen, einem demokratischen und sicheren Land", sagte sie.

Die Ministerin gibt zwar nicht an, welche Art von Schutz sie erhält, aber die Maßnahmen, die für andere niederländische Politiker:innen gelten, reichen von Leibwächtern über den Schutz ihrer persönlichen Daten bis hin zur Installation von Notrufanlagen in ihren Wohnungen.

"In den letzten Jahren hat die Zahl der Bedrohungen tatsächlich rapide zugenommen. 2021 erhielt die zuständige Polizeieinheit 588 Fälle, verglichen mit 1125 im Jahr 2022", so Linda Bos, Professorin für politische Kommunikation an der Universität Amsterdam, gegenüber Euronews.

Einer von Kaags Parteikollegen, Jan Paternotte, sagte gegenüber Reportern, wenn ein neues Kindermädchen seine Arbeit aufnehme, "sage ich ihr, wo der Wickeltisch ist, wo die Windeln sind, aber auch, wo der Notrufknopf ist".

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Finanzministerin und Vorsitzende der liberalen Partei D66, Sigrid Kaag, trifft am Gemeindezentrum Benoordenhuis ein, um ihre Stimme bei den Kommunalwahlen abzugeben.BART MAAT/AFP or Licensors

Die 'böse Elite'

Im Falle von Politikerinnen spielt Frauenfeindlichkeit eine wichtige Rolle.

Sie werden mehr wegen ihres Alters und ihres Geschlechts angegriffen als wegen des Inhalts ihrer Politik.

Laut einer Studie der Universität Utrecht war Kaag im Jahr 2021 die Abgeordnete, die im niederländischen Parlament die meisten Hassbotschaften erhielt: durchschnittlich 22 Prozent der eingehenden Botschaften, im Vergleich zu 10 Prozent bei ihren anderen weiblichen Kollegen.

"Ich glaube schon, dass die Tatsache, dass ich eine Frau bin, die eine fortschrittliche Partei führt, zumindest für einige Leute Öl ins Feuer gegossen hat", so die Ministerin gegenüber Euronews.

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"Es ist nicht hilfreich, dass die sozialen Medien in diesen Zeiten eine sehr negative Rolle spielen. Besonders nach Covid sieht man, dass Verschwörungstheorien allgegenwärtig sind. Das schafft eine Gesellschaft, in der die Spannungen unter der Oberfläche brodeln", fügte sie hinzu.

Die Folgen des extrem polarisierten politischen Klimas sind spürbar, und das Land versucht, es einzudämmen.

"Drohungen richten sich gegen Politiker:innen aus verschiedenen Bereichen des politischen Spektrums, und die Zahl der Fälle, die Straftaten darstellen, hat zugenommen. Darüber hinaus kommen viele Drohungen aus dem Ausland und über soziale Medien, was die Verfolgung der Täter erschwert", so die Professorin für politische Kommunikation.

Im Jahr 2022 erstellten die niederländischen Geheimdienste einen Bericht, in dem sie auf Gruppen hinwiesen, die die These von der Existenz einer "bösen Elite" - dem "Feind des Volkes" - vertreten.

Sie zeichneten ein klares Profil dieser Gruppen: meist junge Männer, die im Inland und im Ausland leben, die in den sozialen Medien Verschwörungstheorien entwickeln und Gewalt verherrlichen.

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Diese Polarisierung der Gesellschaft hat sich auch auf das Parlament ausgewirkt.

"Es gibt mehr Parteien im Parlament als je zuvor (21), von der extremen Linken bis zur extremen Rechten, und diese Extreme hassen sich im Grunde genommen gegenseitig", sagt Bas Batelaan, geschäftsführender Partner von Public Matters, einer niederländischen Beratungsfirma für öffentliche Angelegenheiten.

"Als ich jung war, gab es meist zwei große Parteien, die gemeinsam eine Koalitionsregierung bildeten, und jetzt braucht man mindestens vier Parteien, für eine Koalition", fügt er hinzu.

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Die Vorsitzende der Demokraten 66 (D66), Sigrid Kaag, spricht zur Presse, vor dem Logement in Den Haag.REMKO DE WAAL/AFP

Schadet die Bedrohung der niederländischen Demokratie?

Die anhaltenden Drohungen und Einschüchterungen wurden von einer Reihe niederländischer Politiker:innen als "direkter Angriff auf die Demokratie" im Land bezeichnet.

"Wir müssen vorsichtig sein. Die Demokratie ist verletzlich und wir sollten sie nicht als selbstverständlich ansehen, wir sollten nicht naiv sein, wenn es um mögliche Bedrohungen geht", sagt die Finanzministerin.

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In einer kürzlich durchgeführten Umfrage der öffentlich-rechtlichen Senders NOS gaben viele Politiker zu, dass sie bestimmte Meinungen nicht mehr in den sozialen Medien veröffentlichen und es sich zweimal überlegen würden, bevor sie sich an rechtsextreme Politiker im Parlament wenden, da sie die Konsequenzen fürchten.

"Ich befürchte, dass Politiker aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen weniger bereit sein werden, sich in bestimmten Fällen zu äußern. Dies wird sich wahrscheinlich auch auf die Ambitionen aufstrebender Politiker auswirken", sagt Bos.

Batelaan stimmt der Professorin für politische Kommunikation zu: "Die Leute haben Angst, sich zu äußern, sie überlegen es sich zweimal, bevor sie es tun, weil sie alle Risiken sehen. Es ist ein zunehmend toxisches Umfeld".

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