Eine mehr als zwei Jahrhunderte alte Verfassungsänderung legt fest, wer im Falle eines Unentschiedens als Sieger hervorgeht.
Obwohl Kamala Harris und Donald Trump bis zum Ende um jede Stimmen kämpfen, ist es in der Theorie möglich, dass die US-Wahl in einem Unentschieden enden könnte: Durch das US-Wahlmännerkollegiums (Electoral College), das entscheidet, welcher Präsidentschaftskandidat ins Weiße Haus einziehen wird, könnte es zu einem Untentschieden kommen.
Das Wahlmännerkollegium besteht aus 538 Stimmen, die in unterschiedlichen Anteilen auf die fünfzig Bundesstaaten und den District of Columbia (Washington DC) verteilt sind. Ein Gleichstand zwischen zwei Präsidentschaftskandidaten ist daher theoretisch möglich.
Harris und Trump könnten jeweils 269 Wahlmännerstimmen erhalten, was zu einem Unentschieden führen würde, da beide Kandidaten nicht die für die Präsidentschaft erforderliche Mehrheit der Wahlmännerstimmen erreichen könnten.
Ähnliche Patt-Situationen gab es in der US-Geschichte bereits zweimal, nämlich 1800 und 1824.
Was geschah, als es zu den Unentschieden kam?
In dem 1800er-Wahlgang besiegte Thomas Jeffersons Demokratisch-Republikanische Partei den amtierenden föderalistischen Präsidenten John Adams.
Damals hatten die Präsidentschaftskandidaten einen "running mate" aus einem anderen Staat, ähnlich wie die heutigen Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten. Die Wahlmänner hatten jeweils zwei Stimmen abzugeben: Der Kandidat mit den meisten Stimmen wurde Präsident, während der Kandidat mit den zweitmeisten Stimmen Vizepräsident wurde.
Die Demokraten-Republikaner stimmten sich jedoch nicht gut ab, sodass ihr Präsidentschaftskandidat (Jefferson) die gleiche Anzahl von Stimmen erhielt wie ihr Vizepräsidentschaftskandidat (Aaron Burr).
Die Wahl wurde daher vom Repräsentantenhaus nach der Regel "ein Staat, eine Stimme" entschieden. Das folgte auf einem langen Patt, der beinahe zu einer militärischen Konfrontation geführt hätte, laut Sanford Levinson, Professor an der University of Texas Law School.
Aus diesem Grund wurde der 12. Verfassungszusatz eingeführt, der bis heute die Wahl des US-Präsidenten regelt. Darin wird klargestellt, dass die Wähler "auf ihren Stimmzetteln die Person, die sie zum Präsidenten gewählt haben, und auf getrennten Stimmzetteln die Person, die sie zum Vizepräsidenten gewählt haben", nennen müssen, um eine mögliche Stimmengleichheit zwischen Kandidaten derselben Partei zu vermeiden.
Es besteht jedoch weiterhin die Möglichkeit, dass kein Kandidat die Mehrheit der insgesamt ernannten Wahlmänner erhält - derzeit liegt diese entscheidende Schwelle bei 270.
Dies geschah 1824, als Andrew Jackson 99 Stimmen erhielt, John Quincy Adams 84, William Crawford 41 und Henry Clay 37. Alle diese Kandidaten gehörten der gleichen demokratisch-republikanischen Partei an, die in regionale Fraktionen gespalten war.
Der 12. Verfassungszusatz besagt, dass in solchen Fällen das Repräsentantenhaus unverzüglich den Präsidenten aus den drei Spitzenkandidaten der Wahlmänner wählen muss. Die Abstimmung erfolgt nach Bundesstaaten, wobei jeder Staat eine Stimme hat und eine einfache Mehrheit erforderlich ist.
Das bedeutet, dass Wyoming, der kleinste Bundesstaat der USA mit weniger als 600.000 Einwohnern, bei der Wahl des neuen Präsidenten das gleiche Mitspracherecht hätte wie Kalifornien mit fast 40 Millionen Einwohnern (obwohl Wyoming nur drei Wahlmänner stellt und Kalifornien 54).
Außerdem würde die Wahl des neuen Präsidenten von der Zusammensetzung des Repräsentantenhauses abhängen, über das parallel zu den Präsidentschaftswahlen abgestimmt wird.
Wie wahrscheinlich ist ein Unentschieden?
Ein Unentschieden ist zwar unwahrscheinlich, aber dennoch eine Möglichkeit, die man in Betracht ziehen kann. Die Website 270toWin hat verschiedene Szenarien skizziert.
Ein Szenario ist, dass Trump Pennsylvania und Georgia gewinnt, während Harris Siege in Wisconsin, Michigan, Arizona, Nevada und eine Stimme in Nebraska erringt, das neben Maine der einzige Staat ist, der seine Wahlmänner teilt.
Ein anderes, noch unwahrscheinlicheres Szenario ist, dass Harris alle Staaten gewinnt, die Biden gewonnen hat, sowie North Carolina, das laut aktuellen Umfragen an die Republikaner gehen könnte. Wenn Trump dann Michigan, Pennsylvania und Wisconsin zurückerobert und auch Nevada zum ersten Mal gewinnt, wäre das Ergebnis ein 269:269-Gleichstand.
Dies würde eine "bedingte Wahl" auslösen, in der das Repräsentantenhaus zum ersten Mal seit zwei Jahrhunderten über den US-Präsidenten entscheiden müsste, wobei eine einfache Mehrheit von 26 Staaten erforderlich wäre, um den neuen Oberbefehlshaber zu wählen.
Angesichts der tiefen Spaltung des Landes wären die neu vereidigten Mitglieder des US-Kongresses einem enormen Druck ausgesetzt. Sie müssten sich in einigen Fällen entscheiden, ob sie den Kandidaten ihrer Partei oder denjenigen unterstützen, der in ihrem Staat die meisten Stimmen erhalten hat (die Delegationen der Bundesstaaten sind nicht verpflichtet, den Gewinner der Wahl in ihrem Staat zu ehren).
Dieses Szenario würde wahrscheinlich am 6. Januar eintreten, nachdem der Kongress festgestellt hat, dass kein Kandidat eine Mehrheit hat, so eine Analyse des Congressional Research Service.
Noch überraschender ist, dass das Szenario der Stimmengleichheit zu einer Kohabitation zwischen einem republikanischen Präsidenten und einem demokratischen Vizepräsidenten oder umgekehrt führen könnte.
Gemäß dem 12. Verfassungszusatz wird der Vizepräsident der USA im Falle einer fehlenden Mehrheit vom Senat aus den beiden Kandidaten mit den meisten Wahlmännerstimmen ausgewählt, wobei jeder Senator eine Stimme hat (der US-Senat hat 100 Mitglieder, von denen jeder Staat zwei wählt).
Schließlich kann der Senat auch dann einen Vizepräsidenten wählen, wenn das Repräsentantenhaus bei der Wahl des Präsidenten eine Patt-Situation feststellt. Sollte also bis zum Tag der Amtseinführung am 20. Januar kein Präsident gewählt sein, würde der neu gewählte Vizepräsident als amtierender Präsident fungieren. Das alles sind Szenarien, die sich heute in den USA noch niemand vorstellen kann.