Gegenüber der Financial Times erklärt der Vorsitzende des Reservistenverbandes, Patrick Sensburg, dass es heutzutage "unmöglich" sei, einen großen Teil früherer Wehrpflichtigen oder Soldaten zu kontaktieren.
Die deutschen Streitkräfte sollen den Kontakt zu Millionen früheren Wehrpflichtigen und damaligen Berufssoldaten verloren haben. Das sagte der Vorsitzende des Reservistenverbands, Dr. Patrick Sensburg, gegenüber der Financial Times (FT).
Aufgrund der europäischen und deutschen Datenschutzgesetze sei es demnach unmöglich, potenzielle Reservisten und Reservistinnen zu kontaktieren. "Verrückt" nannte Sensburg die Tatsache, dass die Kontakte für die Bundeswehr verloren seien.
Nicht nur Soldaten, sondern Reservisten gesucht
Die Bundeswehr sucht nicht nur händeringend nach neuen Rekruten, sondern auch nach Reservisten. Das sind Soldaten, die einberufen werden können, aber nicht hauptberuflich bei der Bundeswehr sind.
Ein internes Papier, das dem ZDF vorliegt, zeigt jedoch erhebliche strukturelle Defizite bei der Bundeswehr im Umgang mit Reservisten. Vor allem betroffen sind die sogenannten "Ungedienten", also Menschen ohne vorherige militärische Erfahrung.
Die aktuellen Prozesse im Personalamt der Bundeswehr sind dem Papier zufolge nicht in der Lage, die wachsende Zahl an Bewerbungen zügig und transparent zu bearbeiten. In der internen Präsentation wird die Bürokratie gar als "schwarzes Loch" beschrieben, das Akten und Menschen verschlinge, heißt es laut der Recherche des ZDFs.
Und obwohl ein erhöhter Bedarf an Reservisten besteht, stehen nicht genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung. Für das Jahr 2025 sind bislang nämlich nur rund 500 Plätze für Ungediente geplant.
Auch das ZDF berichtete über das Problem mit der Kontaktaufnahme. Denn, seit der Aussetzung der Wehrpflicht und Auflösung der Kreiswehrersatzämter verfügt die Bundeswehr über keine aktuellen Adressdaten ehemaliger Soldaten.
Wehrdienst noch 2025?
Noch dieses Jahr soll ein Wehrdienst inspiriert vom schwedischen Modell eingeführt werden. Das heißt: ein neuer, attraktiver Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert.
Damit soll nicht nur der Personalmangel in der Bundeswehr bekämpft werden, sondern auch der Mangel an Reservisten und Reservistinnen.
So sagte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, dass die Bundeswehr mindestens 100.000 zusätzliche Reservisten brauche. Momentan liegt die Zahl der Reservisten bei rund 34.000.
"Ohne Reserve geht es nicht"
Gegenüber Euronews erklärt der Präsident des Reservistenverbands, Patrick Sensburg, man vertrete die Auffassung, dass es eine Bundeswehr mit einem Verhältnis von einem aktiven Soldaten zu drei Reservisten brauche.
"Für eine echte Verteidigungsfähigkeit bräuchte es 300.000 aktive Soldaten und dreimal so viele Reservisten. Im Ergebnis also fast eine Million Reservisten", ergänzt er.
"Wir sagen es seit Jahren und dieser Grundsatz ist mittlerweile auf höchster militärischer und politischer Ebene angekommen: Ohne Reserve geht es nicht."
Sensburg fügt hinzu, dass es echte Verteidigungsbereitschaft ohne eine einsatzbereite Reserve nicht geben kann. Die Bundeswehr brauche Reservistinnen und Reservisten vor allem für Aufgaben im Heimatschutz.
Reicht ein freiwilliger Wehrdienst?
In Deutschland wurde die Wehrpflicht 1956 eingeführt und 2011 vom damaligen CSU-Verteidigungsminister, Karl-Theodor zu Guttenberg, aus Kostengründen ausgesetzt.
Bis heute ist der Pflichtdienst in Artikel 12a des deutschen Grundgesetzes verankert und kann somit wiedereingeführt werden. Darin heißt es jedoch, dass lediglich Männer ihren Wehrdienst antreten müssen.
Ein Dienst inspiriert vom schwedischen Modell, das von Pistorius vorgeschlagen wurde, basiert zwar auf Freiwilligkeit, jedoch sollen Männer und Frauen kontaktiert werden.
"Grundsätzlich sehen wir, dass der für junge Männer verpflichtende und für junge Frauen freiwillig auszufüllende Fragebogen ein wichtiger Schritt in Richtung Wehrerfassung ist", räumt Dr. Sensburg ein.
"Dennoch wird dieser auf Freiwilligkeit basierende Wehrdienst nicht ausreichen, damit wir genügend Reservistinnen und Reservisten bekommen, um die sicherheitspolitischen Aufgaben unserer Zeit zu bewältigen."
Der Reservistenverband fordere deshalb die Wiedereinführung der Wehrpflicht, und das schon seit 2015.
"Denn nur eine Wehrpflicht sorgt dafür, dass wir für die nächsten Jahre ausreichend Reservistinnen und Reservisten rekrutieren, die die Aufwuchsfähigkeit unserer Streitkräfte sicherstellen und damit die Abschreckungsfähigkeit unseres Landes erhöhen", erklärt der Präsident des Reservistenverbands.
Denn nur mit einem Pflichtdienst können diese Zahlen erreicht werden. Doch nicht nur an Soldaten und Soldatinnen mangelt es dem Reservistenverband, sondern auch an adäquater Ausstattung.
Gegenüber der Rheinischen Post sagte Dr. Sensburg, dass "Reservisten im Ernstfall mit Privatfahrzeugen an die Front fahren" müssen.
Die materielle Ausstattung betonte der Präsident des Reservistenverbands auch im Euronews-Interview. "Des Weiteren benötigen insbesondere die Heimatschutzkräfte eine adäquate materielle Ausstattung, denn nur dann sind sie wirklich handlungsfähig und zugleich steigen damit auch persönliche Motivation und Engagement", so Dr. Sensburg.
Warum gelingt es der Bundeswehr nicht, die Reserve auszubauen?
Die deutschen Streitkräfte und die Reservisten sind nicht von bürokratischen Hürden befreit. Seit dem Beginn der großangelegten russischen Invasion gegen die Ukraine ist der Verteidigungsgedanke und die Wehrfähigkeit auch in Deutschland entfacht.
Der ehemalige SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz hielt seine Zeitenwende-Rede und es wurden bis Dato große Investitionen, darunter mehrere Sondervermögen, im Bundestag verabschiedet. Die Strukturen, die den Verteidigungsbedarf decken sollen, wachen hingegen nur langsam auf.
"Jeder Reservist, jede Reservistin braucht einen Personalführer, eine Sicherheitsüberprüfung, eine Uniform – all das braucht Infrastruktur und Menschen, die diese betreiben", so Dr. Sensburg.
Die Bundeswehr braucht also nicht nur Material für die eigenen Streitkräfte, sondern muss auch genügend Struktur und Material für die von Pistorius geforderten 100.000 Reservisten bereitstellen, damit diese regelmäßig üben können.
Reservisten haben zwar eine Grundausbildung abgelegt, dennoch müssen die Reservisten an regelmäßigen Übungen teilnehmen, um auf dem neuesten Stand zu bleiben.
Dafür muss aber auch Equipment bereitgestellt werden. Reservisten üben normalerweise in dem Bereich, in dem sie ausgebildet wurden. Das heißt, ein Panzergrenadier übt normalerweise am Panzer, den die Bundeswehr schließlich bereitstellen muss.