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"Wo ist Mama": Was passiert mit den Vermissten in Russlands Krieg gegen die Ukraine?

Snischana im Jahr 2020
Snischana im Jahr 2020 Copyright  Zur Verfügung gestellt von Ljudmyla
Copyright Zur Verfügung gestellt von Ljudmyla
Von Johanna Urbancik
Zuerst veröffentlicht am
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Seit über einem Jahr steht Euronews im regelmäßigem Kontakt mit Ljudmyla, einer Großmutter, die alles daran setzt, ihre Tochter wiederzufinden. Ihre Suche steht stellvertretend für Tausende ukrainische Familien, deren Angehörige aufgrund Russlands Angriffskrieg spurlos verschwunden sind.

Ein Teil des von kürzlich geleakten 28-Punkte "Friedensplans" von der USA und Russland ist die Einrichtung eines humanitären Komitees. Dieses Komitee soll sowohl für den Kriegsgefangenenaustausch, als auch für die Freilassung aller zivilen Gefangenen und Kinder zuständig sein.

Die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin und Menschenrechtsanwältin Oleksandra Matviichuk erklärt, dass in der vorherigen Fassung der 28 Punkte der Punkt zur Freilassung illegal inhaftierter Zivilisten, zur Rückführung ukrainischer Kinder und zum Austausch von Kriegsgefangenen nicht als zwingende Verpflichtung Russlands formuliert war.

"Es wurde lediglich ein humanitärer Ausschuss erwähnt, der sich mit diesen Fragen befassen sollte. Je abstrakter und variabler dieser Punkt formuliert ist, desto geringer ist die Chance, dass er erfolgreich umgesetzt wird", so Matviichuk zu Euronews.

Die genaue Anzahl der ukrainischen Kriegsgefangenen, die in Russland oder den von Russland besetzten ukrainischen Regionen gefangen gehalten werden, ist nicht bekannt. Verschiedenen Schätzungen zufolge soll es sich um mehrere tausend Ukrainer und Ukrainerinnen handeln. Auch werden mindestens 16.000 Zivilisten in russischer Gefangenschaft gefangen gehalten.

Insgesamt gelten mindestens 70.000 Ukrainer als vermisst, jedoch wird auch hier von einer weitaus höheren Dunkelziffer ausgegangen.

Zu den Vermissten gehört auch die heute 34-jährige Ukrainerin Snischana.

Euronews berichtete bereits im Mai vergangenen Jahres von ihrem Sohn, den seine Oma Ljudmyla von den Russen im umkämpften Donezk retten konnte. Seit unserem ersten Gespräch im Mai 2024 stehen Ljudmyla und ich im regelmäßigem Kontakt. Sie hält mich auf dem Laufenden, wie die unerbittliche Suche nach ihrer Tochter, Snischana, vorangeht.

Nachdem sie ihren Enkel gerettet hatte, versprach sie ihm, dass sie alles tun werde, um seine Mutter zu finden. Dieses Versprechen hält Ljudmyla jeden Tag.

Die unerbittliche Suche nach der Vermissten

Vergangene Woche reisten der heute 15-jährige Sascha und seine Oma nach Rom. Er war Teil einer Delegation von geretteten ukrainischen Kindern und Jugendlichen, die von den Russen verschleppt und entführt wurden.

In Rom haben die Kinder einen Brief des ukrainischen Präsidenten, Wolodymyr Selenskyj, an den Vatikan übergeben, in dem eine Vermittlerrolle des Heiligen Stuhls für die Rückkehr der von Russland verschleppten Ukrainer erbeten wurde – eine Bitte, die Sascha und seiner Oma besonders wichtig ist.

Ljudmyla und Sascha während einer Pressekonferenz in der Botschaft der Ukraine in Rom, am 19. November 2025
Ljudmyla und Sascha während einer Pressekonferenz in der Botschaft der Ukraine in Rom, am 19. November 2025 Domenico Stinellis/Copyright 2025 The AP. All rights reserved

"Die Menschen leben gut hier", schreibt mir Ljudmyla in Rom. Die beiden hatten etwas Zeit, die Stadt zu erkunden. Derartige Erlebnisse sind für sie überwältigend.

Nach dem kurzen Aufenthalt in Italien geht es für beide zurück in die Ukraine, in das Dorf Druschba in der nordöstlichen Region Tschernihiw.

Das letzte Mal hat Sascha seine Mutter im März 2022 gesehen.

Ljudmyla befreit ihren Enkel von den Russen

Vor der großangelegten Invasion lebte Sascha mit seiner Mutter, der jüngeren Halbschwester und seinem Stiefvater in der ukrainischen Küstenstadt Mariupol.

Bereits in den ersten Tagen der Vollinvasion ist Mariupol schonungslos von den russischen Truppen angegriffen worden: Russische Panzer rollen durch die Straßen und Bomben fallen vom Himmel. Die Hilfsorganisation Rotes Kreuz beschreibt die Belagerung der Stadt als "apokalyptisch".

Der damals 11-jährige Sascha und seine Familie hatten sich im Keller vor den Angriffen versteckt. Da aufgrund der Belagerung die Lebensmittel knapp wurden, mussten sie auf offener Flamme im Freien kochen. Doch ohne den Schutz im Keller waren sie den russischen Raketen ausgesetzt und riskierten ihr Leben für eine Mahlzeit.

Ein Wohnhaus nach einem Panzerangriff der russischen Armee in Mariupol, Ukraine, am 11. März 2022
Ein Wohnhaus nach einem Panzerangriff der russischen Armee in Mariupol, Ukraine, am 11. März 2022 Evgeniy Maloletka/Copyright 2022 The AP. All rights reserved.

Auf einmal schlug eine Rakete ein, erinnert sich Sascha im Gespräch mit Euronews. Daraufhin rannte er in ein nahegelegenes Haus, um seine Mutter und Schwester zu suchen. Durch die Druckwelle explodierten die Fenster in dem Haus und verletzten Sascha am Auge.

Snischana handelte schnell, schnappte ihren Sohn und ließ den Rest der Familie zurück. Ihr Ziel war das Erreichen einer Fabrik, wo Sascha medizinische Hilfe erhalten konnte. Dort angekommen, merkten sie, dass sie von den Russen eingekesselt worden waren.

Kurz darauf wurden Sascha und Snischana voneinander getrennt. Der damals 11-jährige wurde ins Krankenhaus gebracht, wo man ihm sagte, dass seine Mutter ihn nicht mehr wolle. Nach seiner Genesung sollte er in ein Internat nach Russland gebracht werden.

Wie durch ein Wunder konnte er im Krankenhaus Zugang zu einem Handy bekommen, mit dem er seine Oma, Ljudmyla, anrief. Nach einigen Wochen Vorbereitung reiste sie daraufhin in das umkämpfte Donezk und rettete ihren Neffen. Doch die Frage, wo ihre Tochter Snischana war, brennt ihr damals – wie heute – pausenlos auf der Seele.

Russische "Filatrationslager" für Ukrainer

Sascha weiß nicht, was die Russen mit seiner Mutter gemacht haben. Woran er sich jedoch erinnert, ist, dass seiner Mutter das Handy abgenommen und sie in ein sogenanntes "Filtrationslager" gebracht wurde.

Ungefähr 30 Kilometer östlich von Mariupol liegt ein "Filtrationslager" namens "Bezimenne". Fast schon symbolisch hat der Name des Dorfes Ähnlichkeit mit der ukrainischen Übersetzung für "ohne Namen" (без імені/ bez imeni).

Sascha erzählt Euronews von einer kurzen gemeinsamen Autofahrt, weswegen vermutet werden kann, dass Snischana in dieses Lager gebracht worden ist, das auch als das "Ghetto" bekannt war.

Bevor es zu einem Gefangenenlager gemacht wurde, war die Einrichtung einst eine Schule am Asowschen Meer. Die BBC berichtet, dass Russland im März 2022 schätzungsweise 5.000 Menschen in dem provisorischen Lager "untergebracht" hat.

Soldaten der russischen Armee und Milizen der "Volksrepublik Donezk" bewachen ein Lager in Bezimenne, 6. Mai 2022
Soldaten der russischen Armee und Milizen der "Volksrepublik Donezk" bewachen ein Lager in Bezimenne, 6. Mai 2022 Alexei Alexandrov/Copyright 2022 The AP. All rights reserved.

Der Zweck dieser "Filtrationslager" war das "Überprüfen" von Ukrainern aus den von Russland besetzten Gebieten auf ihren "Status" und "Zugehörigkeit". Dazu wurden den Menschen ihre Pässe, Handys und andere Dokumente abgenommen.

Berichten zufolge herrschen in den Lagern unmenschliche Bedingungen, Gefangenen wurde mit Folter oder Tod gedroht und es gibt Berichte über Hinrichtungen.

Auf den Handys suchen russische Soldaten jegliche Verbindungen zu den ukrainischen Streitkräften, oder Nachrichten, die eine pro-ukrainische Haltung widerspiegeln. Die Strafe richtet sich danach, was gefunden wird: Menschen, die der ukrainischen Armee nahestehen, werden oft wie Kriegsgefangene behandelt.

War Snischana Teil der ukrainischen Streitkräfte?

Was Snischana auf ihrem Handy hatte, ist nicht klar. Zwar war sie keine Soldatin, doch hatte sie Verbindungen zum Militär. 2015 – ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine – fing Snischana an, als Laborantin in einer Militäreinheit in Itschnja in der Region Tschernihiw zu arbeiten. "Sie hat für die Armee gearbeitet, war aber nie eine Soldatin", verdeutlicht Snischanas Mutter. Drei Jahre später lernte Snischana ihren Mann kennen: einen Soldaten.

"Wir leben in einer Militärsiedlung. Dort gibt es zivile Angestellte", erklärt Ljudmyla. Je nachdem, welche Informationen, Bilder und Nachrichten Snischana auf ihrem Handy hatte, könnte sie aufgrund ihres Mannes oder Informationen zu ihrer früheren Arbeit in dem "Filtrationslager" als Teil der ukrainischen Streitkräfte identifiziert worden sein und von Putins Truppen als Kriegsgefangene festgehalten werden.

Aus Verzweiflung hat Ljudmyla Briefe an verschiedene Behörden – unter anderem in Mariupol – und an Anwälte geschrieben. Mit der Bitte: "Helft mir, meine Tochter zu finden!"

Lange Zeit hört sie nichts, doch nachdem sie im April 2022 das "Innenministerium" der sogenannten "Donezker-Volksrepublik" kontaktierte, erhielt sie Jahre später einen Anruf, dass sich ihre Tochter in Gefangenschaft befindet. Weitere Informationen oder Belege wurden ihr nicht gegeben.

"Mir wurde gesagt, dass ich ein Konto beim Koordinationsstab [für Kriegsgefangene] erstellen soll. Das habe ich gemacht. Sie sagen, es wurde angenommen. Gott gebe, dass sie vielleicht in die Austauschlisten aufgenommen und ausgetauscht und freigelassen wird", schreibt mir Ljudmyla im Mai 2024. Seitdem wurden mehrere Kriegsgefangene ausgetauscht – Snischana war jedoch bisher nicht unter den Freigelassenen.

Hoffnung Gefangenenaustausch

Seit dem kleinen Hoffnungsschimmer haben Sascha und Ljudmyla nichts mehr gehört – kein Lebenszeichen, keine weiteren Informationen, wo Snischana ist und in welchem gesundheitlichen Zustand sie sich befindet.

"Die Russen nehmen meine Tochter nicht in die Austauschliste auf", schrieb sie mir im September 2024. "Sie wird unrechtmäßig im Untersuchungsgefängnis in Donezk festgehalten", vermutet Ljudmyla. "Wahrscheinlich haben sie ihr irgendeine Strafe auferlegt."

Weiter schreibt sie: "Unsere Seite tut alles Mögliche für den Austausch, aber die russische Seite erlaubt es aus irgendeinem Grund nicht."

Die Behandlung ukrainischer Kriegsgefangener durch Russland, darunter auch Frauen, ist geprägt von systematischer Folter, Demütigung und psychischer Misshandlung. Überlebende berichten in einer Recherche des britischen Telegraphs, dass sie geschlagen, mit Elektroschocks gefoltert, medizinisch nicht versorgt, Schlafentzug ausgesetzt und unerbittlichen Verhören unterzogen wurden.

Ukrainische Soldatinnen und Zivilistinnen nachdem sie bei einem Gefangenenaustausch in der Oblast Sumy, 31. Mai 2024, aus der Gefangenschaft freigelassen wurden
Ukrainische Soldatinnen und Zivilistinnen nachdem sie bei einem Gefangenenaustausch in der Oblast Sumy, 31. Mai 2024, aus der Gefangenschaft freigelassen wurden Evgeniy Maloletka/EVGENIY MALOLETKA

Weibliche Kriegsgefangene sind derselben Gewalt ausgesetzt wie Männer, aber zusätzlich auch geschlechtsspezifischen Misshandlungen, darunter erzwungenes nacktes Marschieren im Schnee und das Entblößen vor ihren Entführern, was einer eindeutigen sexuellen Demütigung gleichkommt. Zudem gibt es Berichte von Vergewaltigungen und anderen sexuellen Übergriffen.

Sowohl Männer als auch Frauen verlassen die Gefangenschaft schwer traumatisiert – unterernährt, verängstigt und darauf konditioniert, sich für wertlos zu halten.

Sascha und Ljudmyla werden die Suche niemals aufgeben

Sascha ist mittlerweile ein Teenager, der noch zwei Jahre Schule vor sich hat. Was er danach werden will, weiß er auch schon: eine Rettungskraft. Viele Kinder aus der Ukraine haben seit dem Beginn der Vollinvasion Berufsträume, die mit dem Retten anderer Menschen verbunden sind. Denn auch wie andere ukrainische Kinder ist ein Großteil von Saschas Kindheit vom Krieg gebrandmarkt – von nächtlichen Drohnen- und Raketenangriffen und dem dauerhaften Rennen in die Schutzräume.

Nicht zu wissen, was mit seiner Mutter passiert ist, ist für Sascha und Ljudmyla herzzerreißend. "Er leidet wegen seiner Mutter", schreibt mir seine Oma, die denselben Schmerz jeden Tag fühlt.

Seitdem Ljudmyla Sascha aus Donezk gerettet hat, geben die beiden die Hoffnung nicht auf und suchen pausenlos nach Snischana. Sie reisen ins Ausland, um Staats- und Regierungschefs für Hilfe anzuflehen. "Wir halten durch und warten. Wir glauben daran, dass sie gefunden wird und zu uns zurückkehrt. Wir beten für die Ukraine, für Frieden und dafür, dass alle unsere Verteidiger und Verteidigerinnen lebend nach Hause zurückkehren", so Saschas Großmutter.

Snischana
Snischana Foto zur Verfügung gestellt von Ljudmyla

"Unsere Reisen halten den Feind nicht auf"

Während die beiden noch in Rom sind, schreibt mir Ljudmyla, dass es immer noch keine Neuigkeiten zu Snischana gibt. Weiterhin postet sie Snischanas Bild und Informationen in Vermisstengruppen auf Telegram, reist mit Sascha zu Treffen mit Politikern und sucht pausenlos nach neuen Wegen, wie sie ihre Tochter finden kann.

Die Reisen und die damit eingehende Aufmerksamkeit der Medien ist laut der Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matviichuk besonders wichtig. "Russland versucht, die Welt zu täuschen und sich als ein Land zu präsentieren, das die Werte von Familie und Tradition schützt", erklärt sie.

"Stattdessen haben die Russen selbst den Angriffskrieg begonnen. Sie töten Zivilisten, entführen Kinder, vergewaltigen Frauen, sperren Lehrer ein, foltern Priester und rauben die Bevölkerung aus. Die Berichterstattung über diese Geschichten ist wichtig, weil sie die Falschheit der Worte des Kremls überzeugend aufzeigt. Über geopolitische Argumente kann man streiten, aber konkrete menschliche Geschichten kann man nicht leugnen", so Matviichuk.

"Russland tötet uns weiterhin", schreibt Ljudmyla. "Unsere Reisen halten den Feind nicht auf. Aber wir, das Volk der Ukraine, sind stark, wir werden durchhalten. Die Wahrheit ist mit uns. Gott ist mit uns. Russland kann uns nicht brechen."

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